Bitte recht freundlich

20.08.2007

Lieber Dr. T., gestern kam ein verzweifelter Kunde in meinen Laden. Er hatte im Urlaub 500 Bilder mit seiner Digicam geschossen, aber die Speicherkarte ist immer noch nicht voll. Nun kommt er nicht an seine Fotos ran und weiß nicht, wie die Reise war. Was soll ich ihm raten?

Was waren das noch für Zeiten, als man zwei, drei Fotos im Urlaub machte und der Film eine Ewigkeit in der Kamera bleiben durfte. Und dann erst die Spannung, wenn Vati mit den fertig entwickelten Bildern vom Drogeriemarkt (Verzeihung - vom ITK- und CE-Händler, natürlich!) nach Hause kam: Alle versammelten sich um den Wohnzimmertisch und betrachteten die Schätze: Weihnachten ‘86, wo der Baum umfiel und die Feuerwehr kommen musste; der Urlaub auf Fehmarn, als Karl in die Quallen tappte und drei Tage im Krankenhaus lag; Onkel Heiners grauer Kater, kurz bevor er überfahren wurde (der Kater, nicht der Onkel!); Weihnachten ‘87, Tante Ernas Achtzigster, Weihnachten ‘88, Tante Ernas Beerdigung ... alles auf einem Film!

Heute schießt der digitale Durchschnittsknipser 500 Bilder im Monat, was an sich nicht so schlimm wäre, wenn er sie gleich wieder löschen würde. Aber nein, die kommen alle ins Internet statt in den Papierkorb. Die digitale Knipserei scheint außerdem blöd zu machen. Zumindest bekommt man diesen Eindruck, wenn man sich auf einschlägigen Webseiten wie dem Dforum (www.dforum.net) umsieht: So kam beispielsweise ein Nutzer auf die Idee, zwei Kameras derselben Modellreihe zu wiegen (zu finden unter http://www.dforum.net/showthread.php?t=489754). Allein das ist schon eine bemerkenswerte geistige Minderleistung - aber es kommt noch besser: Die Kameras waren unterschiedlich schwer! Die Diskussion darüber, woran das liegen könnte, füllt sechs Seiten. Zu den möglichen Lösungsvorschlägen zählen unterschiedliche Ladungszustände der Akkus, unterschiedlich volle Speicherkarten, mehr oder weniger Dreck auf dem Sensor, körperliche Differenzen zwischen Japanern und Koreanern sowie ein auf der Waage vergessener Daumen. Angesichts einer derartigen Verschwendung freier Zeit fordere ich die Wiedereinführung der 60-Stunden-Woche oder alternativ Zwangsarbeit für alle Digitalfotografen!

Doch das Digitalzeitalter hat auch Vorteile: Früher waren die meisten meiner Fotos schwarz (Deckel auf dem Objektiv vergessen) oder weiß (Film nicht richtig eingelegt). Auf den restlichen war ein Daumen zu sehen (ob es der auf der Waage vergessene war, kann ich leider nicht mehr sagen). Heute erkenne ich alle Fehler sofort auf dem Display und kann sie korrigieren (wenn ich nicht den Akku zu Hause vergessen habe). Leider hält sich der durchschnittliche Digitalknipser dadurch für unfehlbar und schimpft bei jedem unscharfen Foto auf Kamera und Objektiv - womit er locker sechs weitere Forenseiten füllt (ein schönes Beispiel finden Sie unter http://www.dforum.net/showthread.php?t=492244, die Auflösung steht am Schluss!).

Dabei sind Foren eigentlich eine tolle Sache. Wo sonst bekommt man auf seine Fragen so schnell und unkompliziert Antworten wie "dass weis ich auch nich ..." "blötde fraage" oder "schau toch in der suche naach"? Richtig: nirgends!

Behauptet Ihr

Dr. T.

P.S.: Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Speicherkarten kann man selbstverständlich auch halbvoll aus der Kamera nehmen, vorausgesetzt, man begibt sich dazu in einen vollständig abgedunkelten Raum!

Dr. T.’s Digitalfotos finden Sie auf www.natur-fotografieren.de, seine Sprechstunde alle 14 Tage in ChannelPartner und online im CP Forum. Sind auch Sie von der digitalen Bilderflut überfordert? Dann schicken Sie ein Foto Ihres Problems an thafen@channelpartner.de!

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