Webtop statt Desktop?

17.08.2006
Webbasierte Anwendungen werden immer beliebter, konstatiert die Experton Group. Über künftige Geschäftsmodelle ist man sich aber noch nicht einig.

Von Dr. Ronald Wiltscheck

Durch schnelle Internetverbindungen, neue Webtechnologien und wieder ansteigende Zuflüsse von Risikokapital entstanden in jüngster Zeit viele neue Webapplikationen, die vor allem bei Privatanwendern starken Zuspruch finden, glaubt die Experton Group.

Vom Desktop ins Web

Neben völlig neuen Lösungen sind auch traditionelle Desktop-Anwendungen online günstiger verfügbar. Die Münchener Marktforscher schätzen, dass Home-User bis 2010 jede dritte Anwendung online aufrufen werden. Derzeit tun sie es nur bei jeder dreißigsten. Bei Unternehmen entwickelt sich dieser Anteil von derzeit 0,5 auf zwölf Prozent in vier Jahren.

Basis der neuartigen dynamischen und interaktiven Webanwendungen bilden Technologien wie Ajax, RSS und Macromedia Flash. Daraus entwickelten sich im Laufe der letzten fünf Jahren Netzapplikationen wie Blogs, Social Networking, Photo- und Video-Sharing sowie Wikis. Mittels einfacher Programmierwerkzeuge, quelloffener Codes und offener Schnittstellen zu Plattformen wie Amazon oder Google ist es Entwicklern und Unternehmen gelungen, mit geringen Ressourcen anwenderfreundliche Webanwendungen zu kreieren.

Carlo Velten, Senior Advisor bei der Experton Group, konstatiert: "Alles deutet auf einen einsetzenden Paradigmenwechsel im gesamten Softwaremarkt hin, der zwar schon mehrfach unter Schlagworten wie Application Service Providing (ASP) prognostiziert wurde, bis dato aber ausblieb: die Migration vom Desktop zum Webtop", so der Marktforscher. Die Inanspruchnahme von Web-2.0-Technologien durch Firmen wie Yahoo, Google, Amazon oder Salesforce.com deuten hier einen Wandel an.

Die Experton Group glaubt zudem, dass Lerneffekte aus dem privaten Erfahrungsbereich sich auf das Nutzungsverhalten am Arbeitsplatz auswirken werden. Daher ist zu erwarten, dass sich bei Selbstständigen und Freiberuflern der Wechsel von lizenzbasierter Desktop-Software hin zu webbasierten Anwendungen am schnellsten vollzieht.

Mittelständische und größere Unternehmen werden aufgrund ihrer starren Geschäftsprozesse und hierarchischen Strukturen nicht an der Spitze der Bewegung stehen. Sicherheitsrichtlinien schränken die Nutzung externer, webbasierter Programme ein. Langfristig jedoch werden sich die neuen Webanwendungen allerdings nicht aus Un-ternehmen verbannen lassen. Schließlich lassen sich verschiedene Module in einer einzigen Webanwendung integrieren; damit können Mitarbeiter besser umgehen und sparen auch noch Zeit dabei.

ISVs können profitieren

Für IT-Anwenderunternehmen eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten, von den neuen webbasierten Anwendungen zu profitieren. Einsparen lassen sich neben Lizenzkosten vor allem die Ausgaben für Maintenance- und Support-Kosten. Auch der Implementierungs- und Trainingsaufwand sinkt deutlich, so Experton. Die orts- und rechnerunabhängige Verfügbarkeit unterstützt zudem die von vielen Unternehmen angestrebte Mobilität und Flexibilität.

Für Softwareanbieter (ISVs) und Service Provider (SPs) ergeben sich im Zuge des Siegeszugs des "Webtops" neue Vertriebs- und Geschäftsmöglichkeiten. Auf unternehmensübergreifenden Plattformen könnten ISVs viel mehr potenzielle Kunden ansprechen als mit den heutigen Methoden. Allerdings müssen zuvor viele ISVs ihre Lösungen an die neuen Webstandards anpassen und dementsprechend investieren. Demgegenüber steigen die Chancen für den Vertrieb der weitgehend betriebssystemunabhängigen Lösungen.

Kritische Masse noch nicht erreicht

Auf dem Weg vom Desktop zum Webtop stehen allerdings noch einige Hürden. Derzeit ist es beispielsweise den ISVs und SPs noch nicht klar, ob sich die neu entstehenden Business-Konstrukte wirklich rechnen. Subskriptionsmodelle und Werbefinanzierung erscheinen im Privatanwendersegment aussichtsreich, sie würden sich allerdings im Geschäftkundenumfeld nur bedingt durchsetzen.

Erschwerend hinzu kommt die steigende Internetkriminalität. Da drohen auch den Webanwendungen höhere Risiken. Auch muss sich erst noch beweisen, wie viele Unternehmen bereit sind, vertrauliche Datenbestände online zu bearbeiten und extern zu speichern. Zwar reduziert sich dadurch für IT-Administratoren der Betreuungsaufwand; gleichzeitig minimiert sich allerdings auch die Steuerungs- und Kontrollhoheit über zentrale Datenbestände. Da die meisten Applikationen bisher für Einzelanwender konzipiert wurden, bestehen vielfach noch keine Administrations- und Kontrollmöglichkeiten.

Wollen also Startup-ISVs und SPs in die Domäne der großen Softwareanbieter einbrechen, müssen sie sich noch stärker an den Anforderungen der Administratoren bezüglich Sicherheit und Kontrolle ausrichten. Letztendlich werden nur diejenigen "Webtop"-Anwendungen erfolgreich sein, die eine kritische Masse an Nutzern bündeln und langfristig halten können.

Carlo Velten empfiehlt: "Junge Unternehmen sollten strategische Partnerschaften mit größeren ISVs eingehen und bei ihnen ihre eigenen Anwendung integrieren." Alternativ könnten sie sich auch von den "Großen" übernehmen lassen.

Der Experton-Experte meint dazu: "Mittelfristig werden Chancen vor allem dort zu finden sein, wo neue Webanwendungen nicht direkt mit etablierten Desktop-Anwendungen konkurrieren. So werden sich Suchmaschinen und netzwerkzentrierte Webanwendungen auch im Unternehmensbereich sehr dynamisch entwickeln, während es alternative Schreib- und Kalkulationsprogramme tendenziell schwer haben werden."

Gefahr für Microsoft

Für Microsoft könnte der Webtop langfristig gesehen eine große Gefahr bedeuten, weil sich das Informationsverhalten der Nutzer auch in Unternehmen stark ändert und sich von den traditionellen Desktop-Programmen wegbewegt. "Vor kurzer Zeit war die Informationswelt am Arbeitsplatz eindeutig text- und zahlenbestimmt. Formate wie Word, Powerpoint oder PDF waren vorherrschend. In Zukunft erhalten Mitarbeiter ihr morgendliches Briefing per Podcast, firmeninterne Neuigkeiten per RSS-Feed, das Managen von Projekten erfolgt online, und Blogs sorgen für das Archivieren von Kommentaren. Audio- und Videobeiträge werden zum Alltag gehören und sogenannte "Social Networking"-Werkzeuge die Kommunikation unternehmensintern und -extern mitbestimmen", prognostiziert Velten.

Allerdings gibt es noch keine webbasierten Anwendungen, die diese neuen Formate koordinieren, zusammenfassen und sinnvoll speichern können. So glaubt Ex- perton, dass sich der Webtop derzeit noch in einer Spiel- und Testphase befindet.

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