Sie schlummert im Unterbewusstsein

Wenn Angst die Karriere blockiert



Renate Oettinger war Diplom-Kauffrau Dr. rer. pol. und arbeitete als freiberufliche Autorin, Lektorin und Textchefin in München. Ihre Fachbereiche waren Wirtschaft, Recht und IT. Zu ihren Kunden zählten neben den IDG-Redaktionen CIO, Computerwoche, TecChannel und ChannelPartner auch Siemens, Daimler und HypoVereinsbank sowie die Verlage Campus, Springer und Wolters Kluwer. Am 29. Januar 2021 ist Renate Oettinger verstorben.
Sie fragen sich, warum Ihre berufliche Entwicklung stagniert. Warum andere an Ihnen vorbeiziehen und Ihnen der Job keine Freude mehr macht. Dann leiden Sie vielleicht unter verborgenen Ängsten.

Fachlich spricht man von „sozialphobischen Tendenzen“. Aus ihrer täglichen Praxis kennt die Diplom-Psychologin und Karriereberaterin Madeleine Leitner zahlreiche solche Fälle. Besonders betroffen: Männer aller Altersgruppen. "Männer leiden heute mehr denn je unter völlig unrealistischen Erwartungen", erläutert Leitner. "Sie müssen liebevolle Väter sein, perfekte Liebhaber, einen Waschbrettbauch haben, im Haushalt helfen und selbstverständlich auch eine phantastische Karriere hinlegen. Kurz: sie sollen der unfehlbare Superheld sein." Welcher normale Mann ist solchen Erwartungen schon gewachsen?

Hinter beruflicher Unzufriedenheit stecken häufig Versagensängste.
Hinter beruflicher Unzufriedenheit stecken häufig Versagensängste.
Foto: FCSCAFEINE - shutterstock.com

Allerdings hat in unserer Gesellschaft die Angst vor dem Scheitern besonders bei Männern ein großes Bedrohungspotenzial. Sie geht einher mit einem starken Gefühl von Beschämung und Blamage. Die Wurzeln werden schon in der Kindheit gelegt. Zum Beispiel durch überzogene Erwartungen von Eltern. Oder durch negative Erfahrungen in der Schule, wenn Lehrer Schüler vor versammelter Klasse bloßstellen. Oder wenn Mitschüler andere ausgrenzen und schikanieren.

Die Betroffenen riskieren daher später lieber nichts und versuchen alles, um nur ja nicht ins Rampenlicht zu geraten. Mit der Zeit wird ihr Vermeidungsverhalten immer mehr zur Gewohnheit, die ursprünglichen Ängste geraten in den Hintergrund. Ihr Leben wird allerdings fad, der Job bereitet keine wirkliche Freude. Wenn sie dann schließlich irgendwann doch Hilfe suchen, ist den Wenigsten die eigentliche Ursache ihrer Unzufriedenheit bewusst. Madeleine Leitner: "Es erfordert einige Erfahrung, um zu erkennen, dass hinter beruflicher Unzufriedenheit eigentlich Versagensängste stecken. Für viele Klienten ist diese Erkenntnis dann erst einmal eine riesengroße Überraschung."

Die Position des Zweiten

So hatte sich ein Top-Manager, der mit dem Verlauf seine Karriere unzufrieden war, unbewusst immer in die Position des Zweiten begeben. Im Gespräch fiel ihm ein, dass seine ehrgeizige Mutter vor seiner Einschulung einen Intelligenztest veranlasst hatte. Von ihrer Begeisterung über den "zweiten Einstein" fühlte sich der kleine Junge völlig erschlagen. Ihm war klar, dass er diese Erwartungen niemals würde erfüllen können. Von da an war jegliche Freude an Leistung verschwunden. Er vermied exponierte Positionen und führte ein Schattendasein - das Rampenlicht überließ er gerne anderen. Nachdem ihm diese Zusammenhänge bewusst waren, übernahm er endlich eine Rolle in der ersten Reihe.

Er ist kein Einzelfall in der täglichen Arbeit von Madeleine Leitner. Aus ihrer Erfahrung weiß sie: "Beruflicher Unzufriedenheit liegen häufiger psychologische Ursachen zugrunde, als man landläufig denkt. Ohne meine langjährige Erfahrung als Psychologin und Psychotherapeutin stünde ich bei vielen Klienten auf verlorenem Posten."

Haben Sie sozialphobische Tendenzen? Hier einige Hinweise, wie Sie diese herausfinden und überwinden können. Stellen Sie sich folgende Fragen:

- Wie wurde in Ihrer Familie und in der Schule mit Fehlern umgegangen? Wurden Sie bei Fehlern ausgelacht, verspottet oder sogar bestraft?

- Haben Sie Erfahrung mit Ausgrenzung oder Ablehnung? Zum Beispiel mit Mobbing, auch schon als Kind? Befürchten Sie, Erwartungen zu enttäuschen oder auf Ablehnung zu stoßen? Weichen Sie Konflikten lieber aus?

- Scheuen Sie das Rampenlicht? Bekommen Sie bei der Vorstellung, gleich eine Präsentation oder eine Geburtstagsrede halten zu müssen, sofort Herzklopfen, Schweißausbrüche oder Panikgefühle?

Wenn Sie eine oder mehrere dieser Fragen spontan mit Ja beantwortet haben, versuchen Sie, sich Ihre latenten Befürchtungen durch Selbstbeobachtung bewusst zu machen. Welche Ängste stecken eigentlich hinter Ihrem Vermeidungsverhalten? Meistens sind es alte "Katastrophen im Kopf". Bei genauer Betrachtung erscheinen sie allerdings völlig irrational - allein diese Erkenntnis löst das Bedrohungspotenzial in Luft auf. Bei vielen Menschen erzeugt zum Beispiel die Vorstellung, Fehler zu machen, einen riesigen Druck. Dabei sind Fehler eine ganz normale Erfahrung, aus der man noch dazu viel lernen kann. Und bekanntlich werden Ängste auch immer größer, wenn man sie vermeidet. Hier macht Übung den Meister: je öfter man sich ihnen stellt, desto geringer werden sie.

Soziale Phobie

Wenn all das nicht hilft, könnte bei Ihnen sogar eine handfeste "soziale Phobie" vorliegen. Diese wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als psychische Erkrankung aufgeführt. In diesem Fall sollten Sie einen ausgebildeten Psychotherapeuten aufsuchen, am besten einen Verhaltenstherapeuten. Die Kosten für die Behandlung werden von den Krankenkassen übernommen.

Die Diplom-Psychologin Madeleine Leitner berät Menschen in beruflichen Umbruchsituationen. Nach einigen Jahren Berufserfahrung als Psychotherapeutin in einer psychosomatischen Klinik und als Gerichtsgutachterin arbeitete sie lange als Personalberaterin. Sie absolvierte Ausbildungen bei den führenden Karriereberatern in den USA, London und Genf und war Pionier für Karrierethemen in Deutschland. Mit Büchern, Vorträgen und Expertenbeiträgen gibt sie bis heute viele Impulse im deutschsprachigen Raum. Nähere Informationen unter www.karriere-management.de

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