Alcatel und Lucent - ein durchschaubares "Wunderwerk" der Pressearbeit

07.06.2001

Es ist noch nicht lange her, da gehörten in der Netzwerkbranche milliardenschwere Übernahmen zum Tagesgeschäft. Die Vision vom global agierenden Netzwerker passte zu gut zur nicht weniger gepflegten Vision der Internet-Revolution. Diese sollte in Riesenschritten alle Geschäfte umwälzen und von der "Old Economy" nichts übrig lassen als ein paar vergilbte Bilanzen.

Doch beide Visionen zerschellten binnen eines Monats am visionslosen Gang der ökonomischen Wirklichkeit; in den Lagern der Netzwerker stapelten sich Router und Switche, die scharenweise in Konkurs gegangene Internet-Firmen nicht abgeholt hatten: Der Katzenjammer in den Führungsetagen der Netzwerkgiganten - Cisco, Nortel, Lucent und so fort - begann; er war so laut, dass selbst die frohgemutesten IT-Analysten davon hörten und alsbald umschwenkten: Seither geben sie keinen Pfifferling mehr auf die Bilanzen der Netzwerker - die Folgen sind bekannt.

Überall? Nein! In Frankreich, um genau zu sein bei dem TK-Ausrüster Alcatel mit Sitz in Paris, hörte man anscheinend nicht auf, dieser Entwicklung unbeugsam Widerstand zu leisten. In dieser nach wie vor erstaunlichen Stadt residiert Alcatel-CEO Serge Tchuruk, und dieser schien an die Stärke der Vision eines weltumfassenden Netzwerkers zu glauben. Der nahe am Konkurs dahin schlitternde TK-Riese Lucent mit seinen rund 100.000 Mitarbeitern bot sich zur Übernahme an; im Fall einer Übernahme wäre mit insgesamt 210.000 Angestellten der weltweit größte Telekomausrüster mit einem Umsatz von 140 Milliarden Mark entstanden.

Doch Tchuruk (und seine Berater) wusste, wie nahe dieses Vorhaben am Wasser gebaut wäre. Ein Blick auf den amerikanischen Markt für Telekommunikation, auf Portale und E-Kommerz-Marktplätze genügte ihm, um zu wissen: Aller Wahrscheinlichkeit würde die Fusion tränenreich.

Gleichwohl mietete sich Tchuruk für zwei lange Wochen im Olymp der Fusionsversuche ein. Warum? Wer dort aufspielt, dem hört man garantiert zu. Und den kommentiert man. Und tatsächlich war ab dem ersten Auftritt die Kommentatorenriege vollständig versammelt. Analysten und Presse gaben sich ein Stelldichein. Sie besprachen jeden Ton; sie wälzten die Geschichte der IT-Übernahmen seit 1995 (siehe "Neue Zürcher Zeitung"), besprachen Für und Wider der amerikanischen Fondsbeteiligungen und erkundeten sogar die psychologische Verfassung amerikanischer Senatoren. Dass sie damit jeden Tag witzige, verwegene, vor allem aber auch marktnahe und überdies kostenlose Kommentare zur geplanten Übernahme ablieferten, daran störte sich Tchuruk gewiss nicht. Er vernahm sie, studierte sie - und nach zwei Wochen schloss er: Die Fusion ist falsch.

So verließ er den Olymp und blies die Fusion ab. Angeblich konnten sich Alcatel und Lucent nicht auf die Zusammensetzung des "Board of Directors" einigen.... Womit bewiesen ist: Auch in Paris hat man verstanden, dass dem Festmahl eine Analyse des Netzwerkmarktes vorhergeht.

Wolfgang Leierseder

wleierseder@computerpartner.de

PS: In einem internen Papier von Alcatel findet sich der Satz: "Kein anderes Unternehmen ist so gleichmäßig über die Kontinente verteilt wie wir (nur 20 Prozent des Umsatzes in den USA)."

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