Auswirkungen der Konvergenz auf den IT-Fachhandel

11.04.1999
MÜNCHEN/KEMPTEN: Was steckt hinter dem Schlagwort "Konvergenz"? Welche Konsequenzen kommen damit auf den IT-Fachhandel zu? Neue Geschäftsfelder und neue Chancen oder Umbruch und Veränderungen? Kurt Iser und Gerhard Pleil*, zwei erfahrene IT-Branchenkenner, haben sich dazu ihre Gedanken gemacht - der eine aus dem Blickwinkel eines Herstellers, der andere aus Sicht des Marktes.

Wer schon etwas länger in der Branche tätig ist, weiß, daß die Informationstechnologie lange Zeit von zwei weitgehend getrennten Bereichen bestimmt war und noch immer ist: Auf der einen Seite die computergestützte Datenverarbeitung, auf der anderen die sprachgestützte Telekommunikation.

Konsequenz dieser Insellösungen: Unterschiedliche Technologien und Netze, doppelte Infrastrukturen und damit auch doppelter Aufwand.

Analog dazu war auch auf der Vertriebsseite, also bei den Handelspartnern, eine klare Differenzierung erkennbar: hier die Computerhäuser, dort die Telefonleute.

KONVERGENZ: SCHLAGWORT ODER MOTOR DES MARKTS?

Insider werden sich sicher noch an die Anfangs der 90er Jahre aufkommenden Diskussion über die Verschmelzung von EDV und Telekommunikation erinnern. Nach dem ersten Marketing-Getöse zeigte sich jedoch schnell, daß zwischen Anspruch und Realität große technologische Lückenvorhanden waren und die Thematik daher schnell wieder in der Schublade der unbewiesenen Visionen verschwand.

Wenige Wochen vor dem neuen Jahrtausend hat sich die Situation nun grundlegend geändert. Vieles, was vor wenigen Jahren noch vages Versprechen war, hat inzwischen klare Konturen bekommen. Auslöser dafür waren neue Technologien, der triumphale Siegeszug des Internets und die damit verbundene globale Vernetzung auf allen Ebenen auf Basis des Internet-Protokolls (IP). Unter dem Begriff "Konvergenz" zeichnet sich jetzt in der IT-Branche ein genereller Strukturwandel ab, der auch den IT-Fachhandel zwingt, sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen. Sortimentserweiterung? Neue Geschäftsfelder, mögliche Synergieeffekte durch VPN (Virtual Private Network) und VoIP (Voice over IP) oder Computer-Telefon-Integration (CTI). Das sind nur einige der Stichworte, um die es hier geht.

Halten wir fest: Die Integration von EDV und Telekommunikation kann nicht mehr als theoretische Diskussion abgetan werden, sie ist bereits da und stellt nach übereinstimmender Meinung der Marktforscher den am schnellsten wachsenden Zukunftsmarkt der nächsten Dekade dar. So hat zum Beispiel die Gartner Group bei einer Anfang 1999 durchgeführten Untersuchung bei international tätigen Großunternehmen den hohen Stellenwert der Konvergenz von EDV und Telekommunikation im Rahmen der internen IT-Strategie bestätigt. Oberste Zielsetzung ist es dabei, Kundennutzen, Kundenservice und Kundenbindung zu verbessern. Um dies sicherzustellen, planen viele Unternehmen den integrierten Einsatz von EDV und Telekommunikation unter einer gemeinsamen Plattform.

Dazu werden von der IT-Industrie neue und geeignete Produkte und Anwendungen entwickelt, geliefert und in Großunternehmen bereits eingesetzt. Und der Mittelstand? Auch hier wird die Forderung nach einer gemeinsamen DV-/TK-Plattform in den nächsten zwei bis drei Jahren immer lauter werden. Daraus entstehen für Systemhäuser, die diese Lösungen implementieren sollen, neue Anforderungen und Chancen zugleich.

DIE UHR TICKT BEREITS

Wie schnell die Entwicklung zu konvergenten Kommunikationstrukturen voranschreitet, wird nicht zuletzt durch die Einkaufspolitik auf Herstellerseite deutlich. Während klassische TK-Hersteller wie Alcatel, Nortel oder Siemens IP-Netz-Know-how hinzukaufen, reisen IP-Netzanbieter wie Cisco mit einer dicken Brieftasche durch die Lande, um sich Firmen mit Sprach-Know-how einzuverleiben. Dabei geht es um schwindelerregende Summen, die speziell bei US-Firmen via Aktientausch realisiert werden.

Das bedeutet: Die gesamte IT-Industrie formiert sich neu und versucht, durch Kooperationen, Übernahmen oder Joint-Ventures rechtzeitig auf die bereits sichtbaren Veränderungen zu reagieren. Was gestern noch gültig war und vor allen den TK-Anbietern ein ganzes Jahrzehnt über ein stabiles und sicheres Wachstum garantierte, dürfte schneller Geschichte sein, als es manche Insider vermutet hatten. So zeigt das klassische Geschäft mit TK-Anlagen (PBX) Erosionserscheinungen inklusive Ertragsverfall. Wer angesichts dieser Zeichen immer noch das hohe Lied der traditionellen Techniken singt, verkennt, daß die Tage der alten Telefon-Infrastruktur gezählt sind. Voice over IP (populär: LAN-Telefonie) dürfte der erste konkrete Schritt bei dem Zusammenwachsen von Daten- und Sprachwelt sein. Gewiß sind heute noch Qualitätsunterschiede, etwa in der Sprachqualität, vorhanden. Aber das ändert nichts daran, daß IP-Netzwerke allein aus Kostengründen mittelfristig an die Stelle der traditionellen Sprachnetze treten werden. Dabei handelt es sich nicht um eine technische Evolution, sondern um einen Paradigmenwechsel mit vielschichtigen Auswirkungen.

Ein weiterer wichtiger Nebeneffekt der Konvergenz betrifft die Auswirkungen auf die Vertriebsstrukturen. Obwohl heute bereits überaus optimistische E-Commerce-Prognosen durch die Lande geistern, hat der indirekte Vertriebskanal in den letzten Jahren überproportional an Bedeutung gewonnen. Ernstzunehmende Schätzungen gehen heute davon aus, daß weltweit gegenwärtig zirka 85 Prozent aller IT-Produkte und -Lösungen über indirekte Kanäle in den Markt fließen. Kein Wunder, daß bei Anbietern von Netzwerkprodukten wie Cisco und 3Com selbständige Vertriebspartner im Rahmen des Channel-Mix eine herausragende Rolle einnehmen. Hier tun sich die klassischen TK-Anbieter mit ihrer traditionellen Vorliebe für den Direktvertrieb wesentlich schwerer, obwohl der Direktvertrieb heute nur noch im hochwertigen Projekt- und Systemgeschäft wirtschaftlich vertretbar ist.

AUSWIRKUNGEN AUF DEN IT-FACHHANDEL

Während sich die Hersteller zwangsläufig und intensiv mit der Konvergenz von Daten- und Sprachkommunikation auseinandersetzen, sind auch bei den Absatzmittlern, also im IT-Fachhandel, erste Auswirkungen erkennbar. Man kann dies an einzelnen Mosaiksteinen nachvollziehen, die insgesamt gesehen einen klaren Trend zugunsten von IP-Netzwerken widerspiegeln. So ermuntert die GFT (Gemeinschaft Fernmeldetechniker eV) in Hilden ihre Mitglieder jetzt vehement zu einem Einstieg in die Datennetztechnik - und dies als Alternative und Konkurrenz zu traditionellen Systemhäusern. GFT-Vorstand Wolfgang Hanitzsch, selbst aus der Computerbranche kommend, begründete dies in einem Gespräch mit ComputerPartner so: "Systemintegrative Lösungen werden in naher Zukunft den Markt beherrschen. Telefon-, Computer-, Sicherheitstechnik und Videokonferenzanlagen benutzen nur noch ein einheitliches Datennetz. Das ist ein Wachstumsfeld."

Und es ist sicher kein Zufall, daß Computer 2000 als letzter der großen Broadline-Distributoren mittlerweile auch Telekommunikations-Produkte offeriert. Laut C2000-Geschäftsführung will man im TK-Bereich ein ähnlich umfassendes Produktportfolio anbieten wie im IT-Segment.

Die traditionellen, aus der DV kommenden Systemhäuser sollten die TK- Mitbewerber nicht unterschätzen und als "Systemhäuser zweiter Klasse" titulieren, wie in Einzelgesprächen manchmal zu hören ist. Die bessere Politik wäre vielmehr, sich umgehend mit den spezifischen Anforderungen und Möglichkeiten der Sprachkommunikation auseinanderzusetzen und das Portfolio in Richtung Daten- und Sprachkommunikation zu erweitern. In der Datenkommunikation verfügen sie ohnehin über fundiertes Know-how; was häufig fehlt, sind jedoch detaillierte Kenntnisse der Telekommunikation. Aber erst mit der Beherrschung beider Welten kann ein Systemhaus den Anforderungen der Zukunft mit Gelassenheit entgegensehen. Daß sich die Beschäftigung mit der Telekommunikation lohnt, spiegeln auch die Markt- und Ertragsprognosen der Marktforscher wider. So prognostiziert zum Beispiel Dataquest dem TK-Markt solide Wachstumsraten für die nächsten Jahre, wobei die Erträge noch deutlich besser ausfallen sollen als im margengeplagten DV-Markt. Ein aktuelles Beispiel praktischer Konvergenz - und was passiert, wenn man sich als spezialisierter Fachhändler nicht darauf einstellt, ist der Kopierermarkt. Seit Jahren wurde von Herstellern und Martforschern ein Trend zum digitalen Kopieren vorhergesagt und mit der dringenden Empfehlung an die Kopiererhändler verbunden, sich rechtzeitig auf diese Entwicklung einzustellen. Jetzt ist die Situation da: Digitale Kopiersysteme überrollen auf breiter Front ihre analogen Vorgänger. Die damit verbundenen Anforderungen und Kenntnisse, speziell was die Schnittstellen zur DV- und Vernetzungstechnik betrifft, stellen manche Händler jetzt vor gravierende, manchmal sogar existentielle Probleme. Unmittelbare Folge dieser Situation ist eine Ausleseprozeß, der gegenwärtig die (analoge) Spreu vom (digitalen) Weizen trennt. Wen wundert es, wenn Kopiererhersteller jetzt händeringend nach qualifizierten Händlern mit Netz-Know-how suchen?

Das Argument, man hätte das Tempo der Entwicklung falsch eingeschätzt, ist in dieser Branche nicht zum erstenmal zu hören. Diese Gefahr ist auch im Netzwerkmarkt nicht von der Hand zu weisen.

DAS SYSTEMHAUS DER ZUKUNFT

Man kann sich dem Leitbild des "Systemhauses der Zukunft", fernab aller Patentrezepte, von den verschiedensten Seiten nähern und wird dabei nach individueller Herkunft und Ausprägung auch unterschiedliche Akzente und Schwerpunkte setzen müssen. Eine Kernforderung wird jedoch identisch sein: Das Systemhaus der Zukunft wird über Know-how in der Daten- und Sprachkommunikation verfügen müssen. Das ist kein Soll-, sondern ein von der technologischen Entwicklung getriebenes Muß-Kriterium. Der Siegeszug des Internet Protokolls macht weder vor der klassischen Sprachkommunikation via PBX noch vor traditionellen Netzstrukturen wie SNA (System Network Architecture) halt. Wer sich dieser Entwicklung verschließt, läuft Gefahr, den Anschluß zu verlieren. Für Systemhäuser und Value Added Resellers, die sich in den letzten Jahren zwangsläufig als Netzwerkspezialisten, Systemintegratoren und Lösungsanbieter mit einem hohen Beratungs- und Dienstleistungsanteil positioniert haben, stellt sich diese Forderung mit doppelter Dringlichkeit. Schließlich sind sie es, von denen der Kunde und Anwender Klarheit über neue Netzstrukturen und -strategien verlangen wird. Ist dieses Wissen nicht verfügbar, geht der in allen Selbstdarstellungen postulierte Kompetenzanspruch verloren. Vertrauensverlust, Imageeinbußen und als direkte Auswirkung daraus auch Auftragsverluste können schnell eine negative Kettenreaktion auslösen. Wer als Systemhaus nicht mehr an der konzeptionellen Weiterentwicklung der Netzinfrastruktur und -strategie beteiligt ist, verliert diesen Kunden früher oder später ganz. Die Kunden möchten von einem Netzspezialisten mit Gesamtüberblick und -verantwortung beraten werden. Die Frage, die die Geschäftsleitung der Systemhäuser/VARs zu beantworten hat, lautet: Sichern die Angebote, Produkte und Leistungen von heute auch unser Geschäft von morgen?

Kollidiert das Plädoyer nach schnellstmöglicher Erschließung des Konvergenz-Know-hows eigentlich mit der durchaus sinnvollen Forderung nach Konzentration auf Kernkompetenzen?

Ganz im Gegenteil: Die Beschäftigung mit Sprachkommunikation oder umgekehrt mit Datenkommunikation stellt keine Verzettelung, sondern eine organische Erweiterung der eigenen Kernkompetenz dar. Wenn durch technologische Entwicklungen an die Stelle bisher getrennter Welten jetzt eine einheitliche Netzinfrastruktur treten wird, so gehört es zum Überlebensprinzip, sich rechtzeitig auf diese Entwicklung einzustellen.

WAS IST ZU TUN?

Es gibt für Systemhäuser immer verschiedene Möglichkeiten, sich das wechselseitige Know-how zu erschließen. Zum Beispiel in Form einer strategischen Partnerschaft mit einem geeigneten Unternehmen. Wer dies umgehen will, muß eigene Kompetenz aufbauen und ein neues Geschäftsfeld eröffnen, um praktische Erfahrungen sammeln zu können. Das alles kostet Personal, Zeit und Geld - aber es sind lohnende Investitionen. Denn die Chancen und Möglichkeiten, die sich aus dem Zusammenwachsen der Daten- und Sprachkommunikation ergeben werden, können heute nur erahnt werden. Nach dem Darwinschen Prinzip und persönlichen Erfahrungen von über 20 Jahren IT-Branche muß jedoch davon ausgegangen werden, daß diese Erkenntnisse anfänglich nur von einer begrenzten Zahl von Systemhäusern umgesetzt werden dürften.

*Die Autoren:

Kurt Iser ist bei Siemens ICN als Spezialist für indirekte Vertriebskanäle tätig.

Gerhard Pleil ist Inhaber der Unternehmensberatung PMI in Kempten.

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