Bloß keinen Streit vermeiden

14.03.2002
Meinungsverschiedenheiten im Unternehmen sind nicht sonderlich geschätzt. Irrtum, sagt Thomas Weegen. Hartmut Volk* hat sich mit dem Experten für Konflikte in der Zusammenarbeits unterhalten.

Wer sich vor zwischenmenschlichen Spannungen fürchtet, sieht sie einfach falsch und verschenkt dadurch Entwicklungschancen, behauptet Thomas Weegen, Geschäftsführer der Beratungs- und Trainingsgesellschaft Coverdale Team Management Deutschland GmbH, München. Er betont den Nutzwert von "knisternden" Situationen und will Mut machen, kontroverse Situationen mit neuen Augen zu sehen und ihnen mit neuem Verhalten begegnen.

Die Beanspruchung im Beruf zehrt an den Nerven. Die bisher gewohnte Kontinuität und Berechenbarkeit des Laufes der Dinge und der Ereignisse ist Geschichte. Eine nie zuvor dagewesene und wohl in diesem Ausmaß auch nicht für möglich gehaltene (Veränderungs-)Dynamik und Unübersichtlichkeit prägt das Geschehen. Langfristige Orientierungsmöglichkeiten und zuverlässige Handlungsgrundlagen fehlen nahezu vollkommen.

Zeit-, Konkurrenz- und Erfolgsdruck

Das überschaubare und sich im Zeitverlauf in seiner Zusammensetzung nur unwesentlich verändernde Häuflein Menschen, mit dem man sich früher innerhalb und außerhalb des Betriebs beruflich ins Benehmen setzen musste, existiert nur noch in der Erinnerung. Heute heißt es, sich permanent auf neue Gesichter einzustellen und in rasch wechselnden Situationen mit unvertrauten Personen zusammenzuarbeiten - oft unter Zeit-, Konkurrenz- und natürlich Erfolgsdruck.

Dass sich Berufstätige hinsichtlich dieser Arbeitsumstände ganz erheblich unter Druck fühlen, ist nachvollziehbar. Dass sich dieser Druck auch nach innen auswirkt, ist unvermeidlich. Unverkennbar ist das innerbetriebliche Geschehen deutlich spannungsreicher geworden. Das nervt zusätzlich und verstärkt die ohnehin verbreitete Neigung, sich bei Meinungsverschiedenheiten nicht konsequent mit den Betreffenden auseinander zu setzen.

Doch in einer so genannten Kurzschlussreaktion nun ausschließlich eine zusätzliche Belastung des - ohnehin schon ausreichend mit Belastungen gesegneten - Arbeitsvollzuges zu sehen, führt in die Irre. Auseinandersetzungen, das sollte trotz aller schwierigen Arbeitsumstände nicht übersehen werden, sind auch ein wesentliches und unverzichtbares Element jedweder Weiterentwicklung.

Sie vor dem Hintergrund des enorm gestiegenen beruflichen Belastungsniveaus nur negativ zu sehen und sie aus diesem einseitigen Blickwinkel heraus im Betrieb möglichst zu umschiffen, hieße entwicklungs- und innovationsfeindlich zu handeln, menschlich wie betrieblich. Der Funkenflug zwischen den Köpfen sorgt für die notwendige innere Vielfalt in den Köpfen und damit im Betrieb. Wird diese Vielfalt beeinträchtigt, kann es der Betrieb mit der äußeren Vielfalt nicht mehr lange aufnehmen.

Element innerbetrieblichen Wachstums

Allerdings: Es verlangt Streitkultur, Spannungen auszuagieren. Es braucht sozusagen einen "common sense", der Widersprüche als notwendiges und unvermeidliches Element des innerbetrieblichen Wachstums ausdrücklich akzeptiert, statt sie als Störung des Betriebsfriedens möglichst nicht zur Kenntnis zu nehmen. Und der es erlaubt und gleichzeitig zur Pflicht macht, sich bei kontroversen Auffassungen entwicklungsfreundlich mit anderen ins Benehmen zu setzen.

Zwar ist dies vielen Betriebsinhabern und Vorgesetzten mittlerweile durchaus bewusst, doch gerade wenn es eigentlich zur Sache gehen müsste, scheut das Management tendenziell doch davor zurück, sich konsequent zu dem tatsächlichen Wert des Meinungsstreits zu bekennen, sich die Mühe zu machen, ihn konstruktiv zu zähmen und ihn in den Dienst des Unternehmens zu stellen.

Dabei wird übersehen, dass dieser "common sense" dreifach Früchte trägt: Er sorgt zum einen dafür, dass die persönliche Belastung am Arbeitsplatz nicht vollends ins Uferlose wächst. Denn gerade von unausgeräumten Meinungsverschiedenheiten geht eine enorme, zusätzliche unterschwellige Beanspruchung aus. Der "common sense" stellt zum anderen sicher, dass das vorantreibende Potenzial unterschiedlicher Sichtweisen und divergierenden Wollens dem Betrieb zugute kommt. Und er verhindert zum Dritten, dass der Erfolg der Zusammenarbeit oder gar der Erfolg eines ganzen Unternehmens nicht durch die Bekämpfung konkurrierender Überlegungen gefährdet wird.

Mobilisierung jedes einzelnen Gramms Intelligenz

Das überall zu beobachtende Streben des Managements, Denken und Verhalten derjenigen, die geführt werden, in eine bestimmte Ordnung bringen zu müssen, ist zwar verständlich (man will wenigstens an einer Front Ruhe haben!), macht bei Licht besehen die Probleme aber nicht kleiner, sondern größer. Wenn Wettbewerb, Innovation und sozioökonomischer Wandel einen Betrieb als Normalzustand nahezu pausenlos an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit treiben - und das ist heute unbestreitbar der Fall -, dann unterminiert dieses Streben die Überlebensfähigkeit des Betriebes zusätzlich. Ein Gesetz der Kybernetik besagt: Ein System braucht innere Vielfalt, wenn es äußeren Wandel bewältigen soll.

Konosuke Matsushita, der Gründer und bis zu seinem Tod Chef eines der größten Unternehmen Japans, nämlich von Matsushita Electric Industrial Ltd., hat vor Jahren in einem Interview schon weitsichtig gesagt: "Wir wissen inzwischen, dass das Wirtschaftsleben heute komplex und schwierig und das Überleben von Firmen in einer zunehmend unvorhersehbaren Umwelt gefährdet ist. Dieses Umfeld ist so sehr von Wettbewerb und Gefahren belastet, daß die fortlaufende Existenz der Unternehmen von der täglichen Mobilisierung jedes einzelnen Gramms Intelligenz abhängt."

Je souveräner ein Betrieb Spannungen auszuagieren vermag, desto besser wird diese Mobilisierung gelingen und desto überzeugender wird sein Marktauftritt, desto geringer die geistig-seelische Belastung seiner Angehörigen und desto beeindruckender seine gesamte Performance sein. Gefragt ist deshalb eine Führungsintelligenz, die Meinungsvielfalt zu fördern und zu nutzen versteht, die aus dem Wissen heraus führt, dass der Widerspruch im System und die angstfreie Auseinandersetzung mit der anderen Meinung die Voraussetzung zu dessen Erhaltung ist.

Wie entstehen vor dem Hintergrund dieser betrieblichen "Grundspannung" nun die unmittelbar zwischenmenschlichen Spannungen? Zu knistern beginnt es erfahrungsgemäß, wenn Menschen etwas tangiert oder gar in Gefahr sehen, was für sie von Bedeutung ist. Und wenn sie eine Bedrohung ihres Selbstwertgefühls wittern.

Abgesehen von materiellem Besitz wird großer Werte auf die eigenen Ideale und Überzeugungen, den erworbenen Wissens- und Erfahrungsfundus, die gepflegten Maßstäbe, auf Erwartungen und Hoffnungen, den guten Ruf, den Status und die Selbstachtung gelegt. Jede äußere Bedrohung dieser Werte - gleichgültig, ob nur befürchtet, eingebildet oder real existierend - schafft Unmut. Und sie führt in der "aufgescheuchten" Atmosphäre des heutigen Berufsalltags, die eine in sich ruhende und abwägende wie auch abwartende Gelassenheit kaum noch ermöglicht, rasch zu unterschwelliger Leistungsverweigerung (Nicht mit mir!).

Der "Neandertaler" im modernen Menschen

Gefühle, vor allem verletzte, sind das Öl im Feuer der Situation, das die Spannungsflamme(n) emporschießen und den "Neandertaler" im modernen Menschen auferstehen lässt. Sollen Spannungen reduziert werden, gilt es folglich, Gefühle zu akzeptieren und ins Kalkül zu ziehen. Evolutionspsychologen zufolge waren und sind Gefühle stets die erste Reaktion auf alles Wahrgenommene, haben unsere Gefühle noch immer Vorrang gegenüber unserem Verstand und ist es menschliche Veranlagung, auf Feedback, vor allem natürlich auf negatives, zunächst emotional, nicht verstandesmäßig zu reagieren.

Der Wiener Professor Franz Wu-ketits, einer der konsequentesten evolutionsbiologischen Denker im deutschsprachigen Raum, weist in seinen Vorträgen vor Unternehmern und Führungskräften ebenso nachdrücklich wie fundiert immer wieder darauf hin, dass die Grundmuster menschlichen Verhaltens sich nicht in wenigen Jahren oder Jahrzehnten ausgebildet haben, sondern in vielen Millionen Jahren entstanden sind. Überall in seinen sozialen Beziehungen trägt der Mensch seine Naturgeschichte mit sich herum. Unsere Aktivitäten sind nicht zuletzt Resultate eines Gehirns, das in prähistorischer Zeit angelegt wurde. Unsere Gegenwart wird also immer auch von unserer Vergangenheit mitentschieden.

Diese Disposition zum Entflammen wird durch eine weitere im Menschen angelegte Disposition noch verstärkt: In absoluten Kategorien zu denken: gut/schlecht, richtig/ falsch, zutreffend/unzutreffend, kurz: entweder/oder, schwarz/ weiß. Der Mensch ist evolutionär wie auch durch seine Erziehung und das Denken seiner Umwelt tendenziell darauf "geprägt", für oder gegen etwas zu sein und zu streiten. Den Wert beider Positionen anzuerkennen ruft nahezu sofort den Verdacht hervor, zu lavieren, sich bedeckt halten und nicht festlegen zu wollen.

Rückzug in die Schützengräben

Das sollte verständlich machen, weshalb Mitarbeiter oder Mitarbeitergruppierungen im Spannungsfall - wie die Praxis immer wieder zeigt - so geschwind in den Schützengräben von Extrem- und damit zwangsläufig immer schwerer zu versöhnenden Positionen verschwinden. Und weshalb in einem eingeschliffenen Automatismus gefragt wird: "Welche Alternative sollen wir wählen?" Was implizit heißt: "Was ist besser?" Damit ist die Programmweiche schon gestellt: Einer setzt sich durch, und einer verliert. Gewinnen oder verlieren - das ist letztlich die gedanklich unterschwellige Ausgangslage jeder Spannungs- beziehungsweise Konfliktsituation.

Dieses Denken in Gegensatzpaaren ist so tief in den Köpfen verankert, so automatisiert, dass es einfach geschieht. Den Gegebenheiten wie auch den Anforderungen einer ungeheuer komplex gewordenen (Berufs- und Wirtschafts-)Welt aber wird es immer weniger gerecht. Erfolg verlangt heute die Kombination von Sichtweisen, setzt voraus, dass das eine getan wird, ohne zwangsläufig das andere zu lassen. Gefragt ist deshalb eine Führungsintelligenz, die dafür sorgt, dass das gewohnheitsmäßige Entweder-oder-Denken durch Überlegungen auf der Basis von "sowohl als auch" abgelöst wird. Führung muss Meinungsvielfalt fördern und dafür sorgen, dass aus Thesen und Antithesen Energie bündelnde Synthesen entstehen und der Betrieb zu einem Synergierverbund wird.

Wie kann der Automatismus gewohnheitsmäßig konfrontativen Denkens unterbrochen und die aufeinander zugehende Meinungsvielfalt angestoßen werden? Wie lässt sich in der mentalen betrieblichen Infrastruktur der Gewin-ner-Verlierer-Automatismus durch die Gewinner-Gewinner-Denkweise ersetzen?

Kann der Frömmste wirklich nicht in Frieden leben?

Wenn bekanntlich auch der Frömmste nicht in Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt, so gibt es doch auch die psychologische Erkenntnis: Kontroverse, spannungsgeladene Konstellationen können entschärft und in Richtung auf eine Win-Win-Ausrichtung gelenkt werden, wenn nur einer beginnt, sein Verhalten und damit die atmosphärischen Umweltbedingungen zu verändern.

Das ist die Chance, dem oben erwähnten Gesetz der Kybernetik zu entsprechen und in den Genuss der entwicklungsnotwendigen größtmöglichen Spannungsintensität (Meinungsvielfalt) bei geringst möglichen Reibungsverlusten zu kommen. Sie gilt es von betrieblicher Seite zu nutzen. Mit entsprechenden Bildungsmaßnahmen und - in deren praktischer Umsetzung - den Mitteln und Möglichkeiten des Vorbilds.

Die betriebliche Streitkultur von "tendenziell gespannt" auf "tendenziell entspannt", von der Gewinner-Verlierer- auf die Gewinner-Gewinner-Strategie umzuorientieren verlangt zweierlei: begrenzten Mitteleinsatz bei unbegrenzter Beharrlichkeit; aufeinander zu- statt aufeinander loszugehen. Es bedarf der Initialzündung Einsicht sowie alternative Denk- und Verhaltensweisen vermittelnder Weiterbildung. Es ist aber ein nur im Zeitverlauf allmählich zu realisierender Prozess. Dafür aber einer, der reiche Früchte trägt!

*Hartmut Volk ist freier Wirtschaftspublizist in Bad Harzburg.

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