Digitale Transformation

Der Handel muss handeln



Die Welt von Handel und Vertrieb sind Roland Fesenmayr ebenso vertraut wie die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung. Seit mehr als 15 Jahren verfolgt der Experte für E-Commerce die digitale Transformation und gestaltet sie als Vordenker leidenschaftlich mit – in vielfältigen Veröffentlichungen und durch ein Unternehmen: die OXID eSales AG, die der Allgäuer heute als CEO führt und 2003 mitbegründet hat. Fesenmayr ist auch Vorstand der baden-württembergischen Wirtschaftsinitiative bw:con.

konsequente Kundenorientierung

Doch damit nicht genug. Reine Onlinehändler soll es noch schlimmer treffen. Glaubt man der Studie "Erosion im Handel: Dramatische Veränderungen durch Digitalisierung bis 2020" des ECC Köln, so werden in den kommenden fünf Jahren 90 Prozent aller derzeitigen Online Pure Player verschwinden. Selbst Vorreiter der Digitalisierung können es sich kaum erlauben, sich bequem und selbstgefällig zurückzulehnen. Schließlich ist die digitale Transformation ein andauernder Prozess, der niemals komplett abgeschlossen ist. Wie aber können Händler durch die Digitalisierung profitieren und sich erfolgreich im Wettbewerb differenzieren? Orientieren wir uns an den drei konzeptionellen Säulen von PAC

Konsequente Kundenorientierung bedeutet im Handel heute vor allem eins: ein nahtloses Einkaufserlebnis über verschiedene Vertriebskanäle hinweg. Die Trennung zwischen E-Commerce und stationärem Geschäft ist schlicht und ergreifend nicht mehr zeitgemäß, denn sowohl den reinen Onlineshopper als auch den klassischen Einkäufer in der Fußgängerzone gibt es immer seltener.
Stattdessen will der moderne Kunde zwischen allen verfügbaren Vertriebskanälen - Desktop, Smartphone, Ladengeschäft und Katalog - auswählen können und sich situativ für die von ihm momentan präferierte Option entscheiden. Auch Kanalwechsel während eines Einkaufs sind für Kunden inzwischen absolut selbstverständlich. Dass sie dabei an allen Touchpoints das gleiche Markenerlebnis sowie ein positives Einkaufserlebnis erwarten, erklärt sich von selbst.

Die Studie "Das Cross-Channel-Verhalten der Konsumenten - Herausforderungen und Chance für den Handel" verdeutlicht, wie stark die Wechselwirkung der einzelnen Vertriebskanäle tatsächlich schon ist. So bereiteten 2013 bereits ein Drittel aller Kunden ihre stationären Käufe mit einer Recherche in Onlineshops vor - Tendenz steigend. Vor Bestellungen aus Print-Katalogen suchten sogar über die Hälfte der Befragten zunächst Informationen in Onlineshops.

Stellen wir uns dagegen einen Kunden vor, der online oder über sein Smartphone bestellen will, den Händler seiner Wahl jedoch nicht findet: Schnürt er sich die Schuhe und macht sich auf den Weg ins stationäre Geschäft? Wohl kaum.
Viel wahrscheinlicher geht er zum Wettbewerb. Mit nur einem einzigen Klick ist der Weg dorthin schließlich ausgesprochen kurz. Hier zeigt sich, wie wichtig es inzwischen ist, Kunden verschiedene Anlaufmöglichkeiten zu bieten. Konsequente Kundenorientierung bedeutet jedoch nicht nur Kunden diverse Kontaktpunkte anzubieten, sondern sie darüber hinaus auch noch persönlich dort abzuholen und individuell zu begrüßen. Wie das funktionieren soll?

intelligente Nutzung von Daten

Wir alle wissen es zu schätzen, wenn wir wiedererkannt und persönlich begrüßt werden. Egal ob im Gemüseladen um die Ecke, an der Wursttheke im Supermarkt oder vom Bäcker, bei dem wir jeden Samstagmorgen frische Brötchen holen gehen. Der Verkäufer weiß, was wir wollen. Vielleicht hat er sogar einen Geheimtipp für uns. Wir danken es mit Loyalität. Gleiches gilt im E-Commerce.

Die Rechnung ist einfach: Je passender die Inhalte, desto erfolgreicher. Empfehlungen müssen also subjektiv interessant sein und den Vorlieben des Kunden entsprechen. Voraussetzung dafür ist die intelligente Nutzung einer soliden Datenbasis. Sogenannte Wenn-dann-Empfehlungen, die auf dem Kaufverhalten anderer Kunden basieren, kann schließlich jeder - zudem liegen sie leider allzu oft komplett daneben.

Was aber wäre möglich, wenn Händler und Produzenten sämtliche verfügbaren Informationen über ihre Kunden sinnvoll für Empfehlungen nutzen würden? Wenn Händler etwa Informationen wie Online-Nutzungsdaten und Surfverhalten sinnvoll mit Kategorien wie Wohnort, Alter, Preis und Qualität der bisher bestellten Produkte kombinieren würden? Unternehmen könnten eine 360 Grad Ansicht ihrer Kunden gewinnen und gänzlich unerwartete - aber treffende - Vorschläge unterbreiten.

Kombinieren Händler und Produzenten eine Analyse des bisherigen Kaufverhaltens mit Klickpfaden im Shop, soziodemographischen Informationen (Alter, Geschlecht, Familienstand etc.) und vielleicht sogar Informationen über das Kundenverhalten im stationären Geschäft, lässt sich erstaunlich genau voraussagen, welche Artikel für welche Kunden besonders interessant sind.
Ausgestattet mit diesem Wissen, können Händler übrigens nicht nur ihre Werbung perfekt individuell anpassen, sondern prinzipiell den gesamten Onlineshop, etwa durch eine personalisierte Shop-Navigation.

Kunden wissen diese Personalisierung zu schätzen. Unter anderem belegt dies eine Studie von IDC und RichRelevance, nach der eine Mehrheit der Kunden sie als große Hilfe beim Onlinekauf sehen. Demnach klicken 75 Prozent persönliche Empfehlungen direkt an, immerhin jeder dritte lässt sich zu Spontankäufen verleiten und fast ein Viertel der befragten Konsumenten gab in der Studie an, Onlineshops aufgrund der passenden Empfehlungen wieder zu besuchen.

Auch im B2B-Commerce erwarten Geschäftskunden inzwischen übrigens ein Einkaufserlebnis, wie sie es aus ihrem privaten Umfeld gewohnt sind. Daher spielen auch im B2B-Bereich die Wünsche und Bedürfnisse der Geschäftskunden eine immer größere Rolle.
Mindestens genauso wichtig wie das Einkaufserlebnis ist es hier allerdings, zeitaufwendige und arbeitsintensive Abläufe zu digitalisieren und komplexe Einkaufsprozesse zu vereinfachen. Damit dies gelingt, müssen B2B-Händler und -Produzenten auch hier ihre Daten intelligent nutzen. Vornehmlich, indem sie durch eine tiefe Integration der E-Commerce Plattform in die technische Infrastruktur auf Händler- und Kundeseite ihren automatisierten Austausch ermöglichen.

Agilität und Innovationskraft

Die Digitalisierung bedeutet für den Handel die größte Revolution seit der Einführung der Selbstbedienung im Jahr 1938. Und Händler, die sich dieser Veränderung verweigern, werden wohl bald schon verschwunden sein. Allerdings haben innovative Händler und Produzenten schon immer Mittel und Wege gefunden, um auf das veränderte Konsumverhalten ihrer Kunden zu reagieren und ihr Angebot entsprechend anzupassen. Denn Handel bedeutet schon immer auch Wandel. Der einzige Unterschied zu früher: Wahrscheinlich waren die Chancen noch nie so zahlreich wie heute. Denn neue Technologien bieten ungeahnte neue Möglichkeiten, von denen insbesondere der stationäre Handel profitieren kann.

Entscheidend für Händler wird es sein, Erlebniswelten zu schaffen und auf die Anforderungen einer integrierten offline/online Welt mit einem kombinierten offline/online Angebot zu antworten. Die Möglichkeiten sind praktisch unbegrenzt: von Apps und interaktiven Schaufenstern über virtuelle Umkleidekabinen bis hin zu Beacons, die eine gezielte Kundenansprache ermöglichen oder Kiosksystemen. Ganz zu schweigen von naheliegenden Optionen wie Tablets zur Verkaufsunterstützung oder Angeboten wie Click & Collect und Heimlieferung.

Neu erfinden oder verschwinden

Halten wir fest: Die Digitalisierung ist in vollem Gange, ganz besonders im Handel. Für Händler und Produzenten bedeutet sie Chance und Risiko zugleich. Sie fordert konsequente Kundenorientierung, eine intelligente Datennutzung sowie Innovationskraft und Agilität.

Welche Technologien für welchen Händler Sinn ergeben und wie individuelle Maßnahmen konkret aussehen können, lässt sich allerdings nicht pauschal beantworten. Schließlich sind es die Händler selbst, die ihre Kunden am besten kennen und somit aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz und jahrelangen Erfahrung auch am besten abschätzen können, wie sie ihnen einen einzigartigen Mehrwert bieten können.
Damit Händler und Produzenten ihre Kunden an jedem Punkt ihrer Einkaufsreise optimal ansprechen und abholen können, reichen jedoch einzelne, voneinander losgelöste Projekte in ausgewählten Bereichen nicht aus. Anstatt blindem Aktionismus benötigen Händler und Produzenten eine umfassende Digitalisierungsstrategie. Denn nur aus einer umfassenden Digitalisierungsstrategie lassen sich Maßnahmen ableiten, die perfekt aufeinander abgestimmt sind und sich gegenseitig befruchten. (bw)

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