Eine Satire von Stefan Rohr

Der Praktikant, das wundersame Wesen

20.06.1997
Studenten, Fachschulabsolventen und Schüler werden in deutschen Unternehmen vor ihrem Start ins "echte" Berufsleben immer häufiger zunächst als Praktikanten eingesetzt. Nicht immer allerdings sind die aufeinandertreffenden Interessen, Hoffnungen und Wünsche deckungsgleich.

Ohne Frage hat das Praktikantentum in unserer Berufswelt einen festen und sinnvollen Platz. Soweit, so gut. Die Begegnung des Praktikanten mit dem Unternehmen basiert dabei auf der Grundlage, daß der eine etwas (praktisch) erlernen möchte, dem anderen die Vorstellung einer zeitbegrenzten, jedoch günstigen Arbeitskraft schmackhaft und verlockend vorschwebt. Soweit also schon nicht mehr so gut. Denn hier klaffen die Welten auseinander und so manches vielversprechende Beziehungspflänzchen verdorrt, ehe es das erste Tageslicht assimilieren konnte: Nie wieder Praktikant sein; nie wieder einen Praktikanten.

Der Praktikant als Nehmer

Vor Vertiefung des globalen und sozialexistenziellen Themas einige Begriffsdefinitionen und Grundsätzlichkeiten: Despektierlich ausgedrückt kann der Begriff "Praktikant" durchaus dafür stehen, daß es sich hierbei um jemanden handelt der "praktisch nichts kann", somit auch praktisch nicht eingesetzt werden kann und praktisch auch kaum etwas bewerkstelligt. Dieses sollten alle beachten, die mit der eingangs erwähnten Verlockung liebäugeln.

Am Anfang seiner Karriere stehend, empfindet dieser Typus an Mitarbeiter zudem die unumstößliche Auffassung, nicht bereits gleich alle seine Kräfte aufzubrauchen, denn diese müssen schließlich für ein ganzes Berufsleben reichen. Eine zurückhaltende Bevorratung ist deshalb nicht nur sinnvoll, sondern gleichsam einer der obersten Leitsätze, denen sich die Praktikanten aller Länder freiwillig und selbstlos unterworfen haben.

Und das muß vom Umfeld auch akzeptiert werden. Der Praktikant ist nun einmal kein vollwertiger "Arbeit-Nehmer", was inhaltlich ohnehin bereits eine Begriffskombination darstellt, die in diesem Bezug erst gar nicht kombinierbar ist. Zunächst ist der erste Teil dieses Terminus (Arbeit) gleichbedeutend mit "Aktivität", "Leistung" und somit "Produktivität". Dieses ist auf Praktikanten keinesfalls anwendbar.

Der zweite Teil des Begriffes (Nehmer) ist dagegen dem Praktikanten äußerst angeglichen. Er nimmt gern Wissen an, nimmt gern die Zeit anderer in Anspruch, nimmt Kantine und Betriebssportangebote wahr, nimmt sich oft frei, nimmt sich für die Ausführung der Arbeiten viel Zeit, nimmt seine Ausbildung eigentlich nicht ernst, nimmt und bringt nicht zurück, nimmt sich dort Beispiele, wo diese für ihn am vorteilhaftesten sind und nimmt bei Kritik häufig den Mund zu voll. Diese sympathischen "Nehmer"-Eigenschaften machen den Praktikanten beliebt, begehrt und jederorts gern genommen.

Schnöde Arbeiten

Auf der Basis gesetzlicher Absicherung und feudalem Sozialpanzer darf der Praktikant eigentlich auch gar nichts von dem erbringen, was sich der Bereitsteller derlei Ausbildungsplätze gedacht hat. Schließlich soll eine "Ausbildung" erfolgen, was nicht gleichbedeutend das ausbeuterische Recht freisetzt, dem Praktikanten schnöde Arbeit anzudienen. Fürs Arbeiten hat er ja nicht einmal sich selbst vorgesehen und empfindet daher derlei Versuchungen seiner brotgebenden Umwelt als ungebührliche Anträge mit sittenwidrigem Charakter. Diese gilt es, freundlich aber vehement, zurückzuweisen.

Natürlich ist es die Pflicht eines jeden Praktikanten, dieses so zu gestalten, daß nicht gleich eine Arbeitsverweigerung daraus abgeleitet werden kann. Mit Niveau und persönlicher Integrität geht das schließlich viel eleganter und bedeutend wirkungsvoller.

So wird beispielsweise der nahezu persönlichkeitsbeleidigende Auftrag, eine 32-Seiten-Akte zu kopieren, zu einer Tagesarbeit, die mit wissenschaftlicher Akribie und dem Temperament einer Wanderdüne geleistet wird. Schließlich fehlt es noch ein wenig an Routine, der Kopierer ist auch nicht ganz leicht zu verstehen und letztlich möchte man doch auch wissen, warum, wozu und wieso diese Akte denn kopiert werden muß.

Ausbildungsphasen

Der erste Abschnitt der Auftragserfüllung besteht deshalb auch darin, den Auftraggeber ausführlich über den Inhalt und den Zweck dieser Akte zu befragen. Man muß immer erst verstehen, bevor man zielgenau arbeiten kann. Desweiteren besteht in dem grundsätzlichen und ausführlichen Diskutieren ein Grundsatzanspruch eines Praktikanten, da er ansonsten seinen Ehren-Codex-Bedingungen nicht vollends gerecht werden könnte.

Die hierauf folgende Phase ist rein analytisch geprägt. Der versierte Refa-Techniker baut zunächst auf die Zeit- und Aufwandsschätzung, um hierüber eine erste Kosten-Nutzen-Analyse entwickeln zu können. Hieran nimmt sich der Praktikant ein gutes Beispiel und beginnt mit dieser analytischen und weltentscheidenden Erstbewertung. Mit der Start- und Grundsatzdiskussion, ergänzt durch die anschließende Analysephase, kann davon ausgegangen werden, daß die rettende Mittagspause hierüber erreicht wird. Diese dient dann zur Erholung und Schöpfung neuer Kräfte und ist somit eine wichtige, substantielle Phase innerhalb der Auftragsabwicklung. Selbstverständlich war diese in der Zeitschätzung gebührend berücksichtigt.

Mit großen Schritten wird sich nun dem Kopiervorgang der Akte genähert. Bevor allerdings die praktische Arbeit begonnen werden kann, ist eine vorgeschaltete Übungsphase (Cold-walk-through) notwendig, in der Bewegungsabläufe, Handgriffe, Maschineneinstellungen und ergonomische Grundlagen festgelegt und auf Sinn und Aufwand untersucht werden. Gewissenhafte Praktikanten glänzen in dieser Phase oft mit Planspielen, der Entwicklung von Flow-Charts und gegebenenfalls auch schon einmal einem ausführlichen Pflichtenheft. Letzteres allerdings nur dann, wenn es der Aufwand der zu leistenden Arbeit auch wirklich erfordert, was in diesem Falle ab zirka zwei zu kopierenden Akten angenommen werden müßte. Es besteht allerdings kein Grund, dieses nicht schon frühzeitig zu üben - schließlich ist man Praktikant.

Nach der feststehenden Meilenstein-Planung ist hiernach die nachmittägliche Kaffee-Pause erreicht, in der Konzentration und mentale Kraft für die bevorstehende Realisierung generiert werden.

Die Realisierung dann ist von akkurater und exakter Natur geprägt. Jede Vorlage wird millimetergenau auf das Kopierraster eingestellt, die Grauabstufungen säuberlich getestet, vielleicht noch ein Tropfen Graphit-Öl in das Sorter-Scharnier geträufelt, sich noch einmal von der Perfektion und Vollkommenheit der Vorbereitung überzeugt, kreisend der rechte Zeigefinger in die Nähe des Startknopfes gelenkt und dann ... klick ... behutsam der Auslöser gedrückt.

Gratifikationen

Zack! Und schon nach sechs Stunden und vierundzwanzig Minuten ist von der Akte die erste Seite kopiert. Hurra! Da liegt sie nun. Aus einem jungfräulichen, weißen, chlorfreien Papier ist nun ein Dokument entstanden, kunstvoll, über perfekte technische Präzision mit Toner verziert, stellt es die exakte Klonung eines anderen Schriftstückes dar. Eine fantastische Leistung, dieses aus der meisterlichen Hand eines fast genialen Menschen, der zur Zeit ein tristes Dasein als Praktikant durchlebt. Welch eine Verschwendung! Man muß sich derlei Zusammenhänge viel bewußter machen.

Nach dem Kraftakt der Vorbereitung und Produktion des ersten Teilproduktes ist die Zwischenphase der Qualitätssicherung angesagt. So geht der Praktikant mit der frischen Kopie der ersten Seite zu seinem Auftraggeber und präsentiert sein Produkt. Schließlich will man sich versichern, ob die bisherigen Vorleistungen auch immer noch auf der Ideallinie der Zielerfüllung liegen oder vielleicht weitere Wünsche und Vorgaben seitens des Auftraggebers die Änderung bestimmter Vorgaben erfordert. Außerdem bringt diese Qualitätssicherungsphase Erholung, Atemluft und Bestätigung für die bisherigen Leistungen. Auch ein Praktikant möchte Lob und konstruktive Leistungskritik.

Perlen vor die Säue

Da der Auftraggeber zu diesem Zeitpunkt leider eine Besprechung hat, wird sich aus dem Bestreben nach der höchstmöglichen Produktqualität entschieden, den Arbeitsprozeß zu unterbrechen und vor dem Büro des Auftraggebers zu warten, bis dieser für die Verifikation der Erstergebnisse persönlich zur Verfügung steht.

Die ausliegenden Zeitschriften, die Möglichkeit arbeitspsychologischer Beobachtungsstudien durch das geschäftige Treiben im Vorzimmer sowie die freundlich servierte Cola helfen, die unangenehme Zwangspause adäquat zu überbrücken.

Nachdem jedoch die Wartezeit droht, über die Tagesarbeitszeitgrenze hinwegzurutschen, muß der heutige Produktionsprozeß leider beendet werden und am morgigen Tag, an gleicher Stelle, fortgesetzt werden. Sicherlich ist dieser Umstand betriebswirtschaftlicher Müll, jedoch ist es ja nicht die Schuld des Praktikanten. Sollen die Manager doch ihre Ressourcen besser planen. Aber so: Perlen vor die Säue.

Der Anschiß am nächsten Tag bestätigt dem Praktikanten sein Vorurteil, daß es in der Arbeitswelt grob und ungerecht zugeht, Intelligenz, Genauigkeit und persönliche Aufopferung kaum gewertet, erst recht nicht geschätzt werden. Und seine Einstellung für die Einbringung in das unausweichliche Berufsleben ist nun mehr als klar: 1. bloß nicht nachdenken (der Frust lauert überall), 2. auf Qualität kommt es nie an (kann sowieso niemand wertschätzen), 3. schnellstens Manager werden (dann kann man die eigene Doofheit am besten auf Sündenböcke abwälzen). Hat das Praktikum am Ende doch was genutzt! Aber, einen Augenblick mal, da gibt es ja noch ein kleines Problem: Wie wird man eigentlich Manager?

Stefan Rohr, der Autor dieses Beitrags, ist geschäftsführender Gesellschafter der r&p management consulting Haburg/Düsseldorf/Frankfurt/Speyer.

Zur Startseite