Deutsche Info-Highways: In der Technik Spitze, in der Anwendung Diaspora

20.03.1998

FRANKFURT/MAIN: Die Grundlage für Electronic Commerce steht: In der Netzinfrastruktur und bei Endgeräten erlebte Deutschland 1997 einen Boom mit überwiegend zweistelligen Wachstumsraten. Dadurch konnte die IuK-Industrie immerhin 100.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Doch es hätten wesentlich mehr sein können, ist Jörg Menno Harms, HP-Chef und Vorsitzender des Fachverbandes Kommunikationstechnik in VDMA und ZVEI überzeugt und fragt: "Was bringen die Info-Highways, wenn wir weiter Roller fahren?"Deutschland hat im vergangenen Jahr einen großen Schritt in Richtung Informationsgesellschaft getan. Zu diesem Fazit kommt der Fachverband Informationstechnik im Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) und Zentralverband Elektrotechnik und Elektronikindustrie (ZVEI) in seinem neuesten Update der Studie "Wege in die Informationsgesellschaft". Allerdings: Die Fortschritte wurden vor allem in den Bereichen Infrastruktur und Endgeräte gemacht. Dort spielt Deutschland international gesehen keine schlechte Rolle.

Bei den Anwendungen, die neue Wertschöpfung nach sich ziehen sollen wie zum Beispiel E-Commerce, ist die Bundesrepublik dagegen nach wie vor weit abgeschlagen. "Wir haben eine hervorragende Infrastruktur. Was fehlt, ist deren Nutzung mit qualitativ hochwertigen Diensten", klagt Bernhard Rohleder, Geschäftsführer des Fachverbandes Informationstechnik bei der Vorstellung der Zahlen in Frankfurt/Main.

Seit 1996 veröffentlichen VDMA/

ZVEI die wichtigsten Daten zur Informationsinfrastruktur und der Informationswirtschaft Deutschlands im internationalen Vergleich, damals als Ausgangsbasis für den Bericht "Info 2000" der Bundesregierung. Grundlage hierfür sind im wesentlichen die Statistiken des European Information Technology Observatory (EITO).

In den Industrieländern entwickelt sich die Informationsgesellschaft in rasender Geschwindigkeit, mißt man deren Fortschritt wie die Statistiker an der technischen Ausstattung. So stieg im vergangenen Jahr die Zahl der weltweiten ISDN-Anschlüsse um 88 Prozent, Mobiltelefone hatten ein Plus von 45 Prozent, die Zahl der direkten Internet-Zugänge und der Abonnenten von Online-Diensten stieg um 36 beziehungsweise 34 Prozent. Nach einem Plus von 13 Prozent waren Ende 1997 weltweit 334 Millionen PCs installiert.

Diese schon hohen Wachstumsraten wurden in Deutschland in einigen Bereichen sogar übertroffen. Insbesondere gilt das für die Bereiche ISDN und Online-Zugänge. Die in Deutschland installierte Rechenleistung wächst jedes Jahr um etwa 50 Prozent. Gravierende Unterschiede bestehen jedoch im Nord-Süd- wie auch im Ost-West-Vergleich. Während in Westeuropa durchschnittlich neun Prozent der Einwohner Mobiltelefone besitzen, sind es in Polen 0,6 Prozent. Der Nord-Süd-Vergleich fällt noch krasser aus: 90 Prozent der Schwarzafrikaner haben zum Beispiel noch nie telefoniert. Der Abstand zwischen Nord und Süd vergrößert sich, weil sich die Informations-Infrastrukturen in den Industrieländern weiterhin dynamisch entwickeln.

ISDN-Anschlüsse werden weiter boomen

Also alles eitel Sonnenschein? Näheres Hinsehen lohnt: Weltweit liegt Deutschland erstmals mit 58 digitalen Telefonhauptanschlüssen je 100 Einwohner an der Spitze, freuen sich die Statistiker. Im Klartext: Die Digitalisierung der Vermittlungsstellen ist vollständig erreicht, jeder Haushalt und jeder Betrieb hat die Möglichkeit, digitale Telefondienste zu nutzen beziehungsweise Daten übers digitale Netz zu schicken. Diese Möglichkeit wird offensichtlich auch geschätzt: So hat sich die Zahl der ISDN-Anschlüsse 1997 fast verdoppelt. Mit 3,6 Millionen Anschlüssen ist international gesehen jeder dritte ISDN-Zugang in Deutschland, gefolgt von Frankreich, Japan und Großbritannien. Abgeschlagen die USA mit 1,3 Millionen Anschlüssen, die 1997 von Japan überholt wurden. Ein Blick in die Kristallkugel läßt für dieses und das kommende Jahr in Deutschland ein Wachstum von jeweils 40 Prozent erwarten.

Positiv wertet die Studie auch das dichte deutsche TV-Kabelnetz. Jeder zweite Haushalt ist daran angeschlossen, was im Vergleich mit anderen europäischen Staaten und mit Japan ein äußerst hoher Wert ist, der nur von den USA überboten wird, wo der Markt bei 65 Anschlüssen je 100 Haushalte stagniert. In Deutschland betrug das Wachstum etwa fünf Prozent, das sich in dieser Höhe auch 1998 fortsetzen soll.

Kabel-TV in jedem zweiten Haushalt

Doch ob die Spitzenpositionen in ISDN und beim TV-Kabelnetz ausreichende Kriterien für das Entstehen der Infogesellschaft sind, erscheint zweifelhaft. Schließlich führt die Deutsche Telekom deutlich vor, daß auch ohne ISDN-Anschlüsse komfortabel telefoniert werden kann, und High-speed-Modems bieten eine ähnlich schnelle Auffahrt auf die Datenhighways. Auch beim TV-Kabelnetz muß Harms zugeben, daß sich dessen Nutzung für Online-Dienste, Telebanking oder andere Leistungen noch nicht konkret abzeichnet.

PC-Verbreitung ist immer noch viel zu gering

Möglich wäre mit der deutschen Netzinfrastruktur so vieles. Doch dies ist in weiten Bereichen Theorie, bestätigen die Statistiken. So ist der PC hierzulande vergleichsweise wenig verbreitet: 20 Millionen Geräte - immerhin sieben Prozent mehr als im Vorjahr - waren in Deutschland 1997 installiert. Etwa 40 Prozent davon stehen in privaten Haushalten. Insgesamt bringen diese Zahlen im internationalen Vergleich einen Platz am unteren Ende des Mittelfeldes. Doppelt so hoch ist die PC-Dichte in den USA, gefolgt von der Schweiz, Norwegen, Dänemark, Schweden, Niederlande, Großbritannien und Finnland. Harms: "Da muß man mehr tun, denn PCs treiben die Nutzung der Netze an."

Wichtig für den Fachhandel: Für 1998 rechnen die Marktforscher in Deutschland mit fünf Millionen verkauften Desktops, hinzu soll knapp eine Million neuer Notebooks kommen.

Im Bereich Internet-/Online-Zugänge befindet sich Deutschland oberflächlich betrachtet derzeit in einer Aufholjagd. 38 Prozent jährliches Wachstum sollen laut Statistik bis zum Jahr 2001 anhalten und bis dahin den zweiten Platz in der Rangliste der Marktdurchdringung einbringen. Heute ist jeder fünfte US-Amerikaner im Internet, aber nur jeder zwanzigste Deutsche.

Bei den Inhalten des Internets ist Deutschland jedoch Diaspora. Dies läßt sich jedenfalls aus der Zahl der Internet-Hosts schließen: Zwölf Stück je 1.000 Einwohner sind hierzulande nur in Betrieb, in Finnland - dem weltweiten Spitzenreiter - sind es 88, in den USA 78. Sieben weitere Länder einschließlich Österreich und der Schweiz nutzen das Internet intensiver als Deutschland. Unterm Strich kommen gerade mal zehn Prozent des europäischen E-Business aus deutschen Landen. Vor allem die Kommunikation zum Endkunden über das Internet klappt noch nicht: "Wir haben sehr viele Transaktionen über das Internet im Business-to-Business-Bereich, nicht aber zum Konsumenten", bilanziert Harms.

Aus seiner Sicht verbirgt sich dahinter vor allem ein emotionales Problem der Deutschen. Es müsse endlich erkannt werden, daß die Informationsgesellschaft ganz neue Wege der Wertschöpfung schaffe. Dazu brauche es "Lust auf Neues und Experimente" (Harms). Doch die Blockaden sind aus Sicht des Verbandsvorsitzenden vielfältig: Unnütz und hindernd seien vor allem Diskussionen um die Verschlüsselung, um die als Handwerksordnung getarnten Zunftregeln für System- und Softwarehäuser oder um Rundfunkgebühren für geschäftlich genutzte Internet-PCs. "Das sind typische Beispiele für Verhinderungspolitik", so Harms. Auch die Kulturhoheit der Länder oder den Mediendienste-Staatsvertrag stellt er in Frage.

Initiative für qualifizierte Mitarbeiter gestartet

Ohne solche Diskussionen und mit einer Förderung kleiner Unternehmen, die intelligente Dienstleistungen rund ums Netz kreieren, gäbe es in der Branche deutlich mehr Jobs, bilanziert der deutsche HP-Chef in seiner Abrechnung. Immerhin: Mit 1,72 Millionen Menschen ist die Informationswirtschaft (IT, Telekommunikation, Medien) nach dem öffentlichen Dienst und dem Baugewerbe drittwichtigster deutscher Arbeitgeber.

100.000 neue Jobs schuf die Branche 1997, dieses Jahr sollen 91.000 weitere hinzukommen. Durch indirekte Beschäftigungseffekte in anderen Branchen seien zudem jeweils vier mal so viele Jobs entstanden. Dennoch: "Es hätten in der Informationswirtschaft gut 50.000 neue Jobs mehr sein können", ist Harms überzeugt.

An Schulen für Informatik werben

Das Problem neben den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen: Die Firmen tun sich immer schwerer, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. So sind nach Aussagen von Harms von 11.000 Informatik-Studienplätzen eines Jahrgangs nur 6.000 bis 7.000 besetzt - der Bedarf liegt aber bei mindestens 20.000 Informatikern pro Jahr. Mit einer Ende Februar gestarteten Aktion "Bildung, Qualifikation, Arbeitsmarkt" will der Fachverband gegensteuern. Dazu beitragen sollen Informationen für Schüler und Lehrer, die Initiative "Unternehmer an die Schulen" sowie die Einrichtung neuer Berufsakademien und zusätzlicher Studiengänge an Fachhochschulen.

Jörg Menno Harms, Vorsitzender des Fachverbandes Kommunikationstechnik in VDMA und ZVEI, hält die Diskussion um die Handwerksordnung für unnütz und hinderlich.

Obwohl die digitalen Mobilfunknetze in Deutschland so gut ausgebaut sind wie in kaum einem anderen Land, besitzt nur jeder zehnte Einwohner ein Handy. Zwar nahm die Zahl der Anschlüsse 1997 um 45 Prozent zu, doch unterm Strich ist die Verbreitung von Handies nur in Frankreich geringer, vergleicht man die wichtigsten Industrienationen. Spitzenreiter Japan bringt es immerhin auf mehr als doppelt so viele Mobiltelefone je 100 Einwohner. Für 1998 wird in Deutschland mit drei Millionen neuen Mobilfunkkunden gerechnet.

Bei der Zahl der installierten ISDN-Anschlüsse macht Deutschland so leicht keiner etwas vor. Immerhin haben von 1.000 Einwohnern 44 einen solchen Telefonanschluß, während es in den USA nur fünf sind.

Thomas Pleil. Der Autor ist freier Journalist in Stuttgart.

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