PoS am Scheideweg

Die 10 Gebote des neuen Retails



Dr. Rudolf Aunkofer ist Direktor am Institut für Information & Supply Chain Management (iSCM) der Hochschulie für angewandtes Management in Ismaning bei München.
Multi-Channel, Omni-Channel, Customer Journey, Customer Experience, Erlebnis-Shopping, … die letzten Jahre waren voll von Schlagwörtern, was richtig für den Retail-Channel sei.

Die letzten Monate machen jedoch bewusst, dass ein neues Retail-Denken jenseits der Automatismen der vergangenen Jahre erforderlich ist!

Es verwundert nicht, das Info-Terminals, Selbstbedienungskassen und nützliche Shopping-Apps in der Liste der gewünschten Innovationen am PoS an erster Stelle stehen.
Es verwundert nicht, das Info-Terminals, Selbstbedienungskassen und nützliche Shopping-Apps in der Liste der gewünschten Innovationen am PoS an erster Stelle stehen.
Foto: iSCM Institute

Nachholbedarf im Handel hinsichtich der Digitalisierung

Speziell für Technologieprodukte konnte man im letzten Jahrzehnt den Eindruck gewinnen, dass der gesamte Channel mit all seinen Teilnehmern autopilotartig, in einer Art von Konformismus durch die Wellen der Digitalisierung steuert - oder: in einigen Fällen glich das "Steuern durch die Digitalisierungswellen" eher einem "getrieben werden". Konzepte wie Erlebnis-Einkauf wurden aus dem Food- und Fashion-Bereich, in dem sie sehr erfolgreich waren, ohne große Überlegungen oder grundsätzliche Anpassungen übernommen. Ihre Relevanz für technische Gebrauchsgüter-Märkte wurden nicht im Detail zu hinterfragt.

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Aufgrund der Tatsache, dass Digitalisierung und (teil-) digitalisierte Lösungen vieles erstmals wie einfach möglich machten, wurde ausprobiert und getestet, was Marketing- und Sales-Strategen in den Kopf kam. Oftmals war keine klare auf Kunden fokussierte Strategie zu erkennen. Noch etwas in den Kinderschuhen steckende digitale Technologien wie Augmented Reality erweckten teilweise Neugier, führten aber nicht dazu, Verkaufszahlen langfristig zu erhöhen, Kunden verstärkt zu binden oder Kosten nachhaltig zu senken. Es ist neues Retail-Denken erforderlich!

Die Tech-Customer Journey ist stark produktspezifisch

Konsumenten besitzen in der Regel einfache Anschaffungsgründe, um Technik zu erwerben. Die Customer Journey verläuft aufgrund gemachter Erfahrungen in der Vergangenheit, funktionaler Fokussierung der Produkte sowie konkreten Anwendungsszenarien - "ich weiß, was ich damit machen will" - teil-automatisiert. Ihre Phasen - Awareness, Consideration, Purchase, Retention, Advocacy - sind stark produktspezifisch gestaltet.

Konsumenten sind, für Märkte mit technologischen Neuerungen wie Drohnen oder Wearables, bereit, Produkteigenschaften im Detail zu vergleichen und gegeneinander abzuwägen; für Märkte mit wenig wahrgenommenen Produktunterschieden, gelerntem Nutzungsverhalten oder geringem Investment wie Zubehör oder Technik-Peripherie, findet der Kauf mit geringem Zeitaufwand, an der Verfügbarkeit orientiert, teilweise impulsiv oder emotional rein über Markenbindung statt.

Diesen stark unterschiedlichen Kaufprozessen schenkten eTailer wie klassische Retailer in Marketing, Produktplatzierung oder Sortimentsgestaltung in der Vergangenheit zu geringe Beachtung. Es wurde versäumt, Konsumenten entlang der Customer Journey an das eigene Unternehmen nachhaltig zu binden. Klassische Kundenkarten jeglicher Form waren zwar in der Vergangenheit ein probates Mittel hierzu. In digitalisierten und somit transparenten Märkten führen sie tendenziell zu gegenteiligen Effekten, da aufgrund planbarer Anschaffungszeitpunkte verstärkt auf ihre Funktion zur Preisreduzierung fokussiert wird.

Fünf grundlegende Nachfrage-Faktoren

Für Tech-Märkte mit hoher Haushaltsausstattung wie Kaufkraft (wie wir sie in Deutschland vorfinden) sind - neben dem verfügbaren und von der Branche nur sehr bedingt beeinflussbarem Budget - fünf grundlegende Faktoren entscheidend, um sich für den Kauf eines Produktes zu entscheiden:

  • Lebensdauer, Abnutzung, Alterung oder End-of-Life-Ankündigungen

  • Anzahl der akzeptabel nutzbaren Geräte im Haushalt

  • erlebter, praktischer technologischer Vorteil, gewünschte Funktionen, tatsächlicher Nutzen

  • Nutzungsintensität (Zeitdauer, parallele Nutzung und Nutzerzahl)

  • Design, Haptik oder Image von Produkten

Das Preisniveau bestimmt den grundsätzlich adressierbaren Kundenkreis, das Kundenpotential. Der konkrete Preis beziehungsweise die oftmals kommunizierte Preisreduktion - je nach Käufertypus - beeinflusst den Kaufzeitpunkt und die Wahl des Retailers. Abwartendes wie vorgezogenes Kaufverhalten lassen sich somit allein durch die Preispolitik steuern. Das Marktvolumen und der Umsatz verändern sich dadurch wenig.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass eine Reihe von Investments der Vergangenheit nur bedingt zum gewünschten Erfolg führten. Konsumenten sind im Technik-Umfeld deutlich pragmatisch orientiert: ansprechbare, wirklich kompetente Verkäufer, ansprechendes Design und gute Produktfunktionalität, Ausprobieren und Testen von Produkten, Rückmeldung für Produktverbesserungen oder ungestörtes Stöbern im Shop verbunden mit einer kurzen "Kaffeepause" sind die Faktoren, die Konsumenten einfordern.

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Aufgrund langer Nutzungszeiten ist es für Retailing wichtig, Unsicherheit bei der Kaufentscheidung zu reduzieren, Entscheidungssicherheit zu geben und den Kaufprozess effizient zu gestalten. Der Einsatz jeglicher Art von digitaler Technologie im Retail muss sich in dem skizzierten Kontext bewähren. Somit verwundert es nicht, das Info-Terminals, Selbstbedienungskassen und nützliche Shopping-Apps in der Liste der gewünschten Innovationen an erster Stelle stehen. Sie versprechen ein pragmatisch-effizientes Einkaufserlebnis gerade bezüglich Informationssuche und Kaufabwicklung. Information und Dialog reduzieren das wahrgenommene Risiko des Fehlkaufs.

Entscheidend für die kommenden Jahre ist daher der produktspezifisch passende Einsatz dieser, wie der weiteren vom Konsumenten präferierten Technologien. Neue Technologien im Retail müssen sowohl hohes Involvement bei hochpreisigen oder eher langlebigen Produkten wie auch geringem Involvement bei niedrigpreisigen oder eher kurzlebigen Produkten Rechnung tragen. Extensives wie habitualisiertes Kaufverhalten ist adäquat abzubilden und situationsgerecht zu unterstützen.

Was Retailer jetzt beachten sollten

Für Technik-Produkte sollten Retailer daher versuchen, Konsumenten während des gesamten Kaufprozesses und zusätzlich in der Zwischenzeit bis zum nächsten Kauf an sich zu binden. Hierdurch erhöht sich das Potential für Up- wie Cross-Selling und der erzielbare Umsatz deutlich! Folgende 10 Commandments für neues Retailing sollten in den 2020er Jahren beachtet werden:

  • Inform: digitale Produktinformation inkl. Bilder und Spezifikationen sollten klar strukturiert, konsistent und vollständig zur Verfügung gestellt werden

  • Compare: Online-Produktvergleiche sollten über Endgeräte hinweg verständlich und einfach bedienbar möglich sein

  • Explain: Produkterläuterungen und -demos sollten online kurz, knapp und unterhaltsam als Video-Clips verfügbar sein

  • Advise: Individuelle Beratung sollte kombiniert - zum Beispiel online per Chat, telefonisch wie vor Ort - fachkundig angeboten werden, um wirklichen Mehrwert zu bieten. Kaufempfehlungen sind konkret zu geben.

  • Serve: Kauf, Lieferung und gegebenenfalls Rückgabe sollten beliebig im Omni-Channel-Ansatz kombinierbar sein

  • Select: Relevante und loyalitätsfördernde Serviceleistungen sollten im Kaufpreis mit inkludiert sein, zum Beispiel Information bezüglich Updates/Upgrades

  • Navigate: Produktnutzung im SmartHome mit weiteren (vorhandenen) digitalen Produkten (u.a. Licht- oder Heizungssteuerung) sollte aufgezeigt werden

  • Guide: Installation und Implementierung in das digitale Ökosystem des Konsumenten sollte als Service-Option verfügbar sein

  • Communicate: Kauf- und Beratungserfahrungen sollten separat von Produktbewertungen entsprechend Kaufzeitpunkt klassifiziert und kommuniziert werden

  • Educate: Produkterfahrungen und -erlebnisse sollten über die Nutzungsdauer qualitativ hochwertig gesammelt, kommentiert und klassifiziert werden; Konsumenten sollten für ihre Teilnahme transparent honoriert werden

Der Retail muss sich in seiner Funktion als "Gatekeeper zum Konsumenten" deutlich von Hersteller und Produkt differenzieren. Bewertungen des Kaufprozesses, Kontakthalten während der Produktnutzung, am Ökosystem des Konsumenten orientierte Beratung sind zwingend erforderliche Aktivitäten. Retailing sollte produkt-, sortiments-, herstellerübergreifend an den Bedürfnissen des Konsumenten stattfinden. Digitale Technologien versetzen in die Lage, dieses neue Retailing, diese neue Customer Centricity Realität werden zu lassen. Das bedeutet: eigene Strategien entwickeln, eigenständig agieren - Autopilot off!

Die Frage nach Zweck und Sinnhaftigkeit

In der Praxis bedeutet dies für jegliche Art von Tech-Retailing - große wie kleine Händler - die klassische, aus den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägte Channel- und Geschäfts-Positionierung weiter zu entwickeln. Den neuen Möglichkeiten einer digital-vernetzten Geschäftswelt Rechnung zu tragen. Die Positionierung beziehungsweise das Agieren am Markt muss die Verschmelzung von digitalem wie real-physischem Kaufprozess produktspezifisch nachvollziehen. Sie muss dem Konsumenten eine neue pragmatisch-effiziente wie bequeme Shopping-Experience bieten. Positionierungsoptionen sind:

  • IT-Shops (traditionell):
    vor-Ort-Präsenz, persönlicher Dialog, Problemlösung, Installation

  • IT-Shops (digital und neu):
    Smart Home-Implementierung, Remote Trouble-Shooting

  • Fachmärkte (traditionell):
    reales Produkterlebnis, persönliche Beratung, Produktauswahl

  • Fachmärkte (digital und neu):
    Update- und Upgrade-Services, Gebrauchtwarenbörse, Trade-In-Angebote

  • Retailer ind Online-Händler (traditionell):
    24x7-Verfügbarkeit, Produkt-Informationen, Sortiment, Lieferung

  • Retailer ind Online-Händler (digital und neu):
    Chat-Beratung und -Support, Kooperation mit lokalen Service-Partnern

Digitale Info-Terminals, virtuelle Produkt-Demos, Kiosksysteme, Augmented Reality, self-scanning Kassensysteme, digitale Regale oder Verkaufsberater mit KI: Die Liste neuer, potentieller Technologien für den Retail ist lang. Entscheidend ist und bleibt derer Akzeptanz bei Kunden.

Konsumenten stehen Innovationen grundsätzlich offen und positiv gegenüber. Die Zustimmungsrate ist allerdings je nach Kundenalter und Service/Technologie sehr unterschiedlich. Retailer sollten für eine angemessene Übergangszeit daher immer mehrere Optionen anbieten. Retailer sollten auf Technologien setzen, die zudem wirklich zu ihrer DNA, zu ihrer Positionierung, zu ihrem Auftreten passen.

Neue Technologien müssen zudem die Frage nach Zweck und Sinnhaftigkeit beantworten. Der Einsatz von Technik um ihrer selbst illen oder ihr autopilotartiger Einsatz analog zu anderen Branchen führt weder kurzfristig zu zusätzlichem Umsatz noch langfristig zur erhofften Kundenbindung. Konsumenten erwarten, dass Technologien ihre individuelle Customer Journey angemessen, flexibel und effizient unterstützen. Das ist die Chance für New Retailing!

Rudi Aunkofer ist Gründer und Direktor des iSCM Institute.
Rudi Aunkofer ist Gründer und Direktor des iSCM Institute.
Foto: iSCM Institute

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