Die heilsamen Träume des Unternehmers Pankratius Knerzenbeck

12.06.1996
Von Stefan RohrPankratius Knerzenbeck wühlt im Schlaf. Schweiß steht ihm auf der Stirn und sein beklemmendes Gemurmel schwoll immer wieder in lautes Geschimpfe. Ab und zu wird die sonst so stille Nacht von einem spitzen Schrei aus seiner Kehle durchlöchert. Dann ist es für Momente wieder völlig ruhig, sieht man von dem dumpfen Rascheln ab, das durch das Beinstrampeln unter der schon klammen Bettdecke entstand.

Von Stefan RohrPankratius Knerzenbeck wühlt im Schlaf. Schweiß steht ihm auf der Stirn und sein beklemmendes Gemurmel schwoll immer wieder in lautes Geschimpfe. Ab und zu wird die sonst so stille Nacht von einem spitzen Schrei aus seiner Kehle durchlöchert. Dann ist es für Momente wieder völlig ruhig, sieht man von dem dumpfen Rascheln ab, das durch das Beinstrampeln unter der schon klammen Bettdecke entstand.

Alle seine Mitarbeiter haben sich zusammengerottet. Als Weihnachtsmänner verkleidet, jagen sie hinter ihm her und seine Flucht vor der Meute führt ihn durch die leeren Straßen des abendlichen Büroviertels. Leichter Niesel mischt sich mit ersten Schneeflocken. Fahles Licht sackt von den Laternen herab und schneidet einsame Kegel in die ankommende Dunkelheit. Er fröstelte. Und als er an sich herunterschaut, bemerkt er zu seinem Entsetzen, daß er völlig nackt ist. Er schaut sich um. Nur einige wenige Leute gehen vereinzelt auf der anderen Straßenseite und lächeln verstohlen, als sie ihn bemerken. Eine ältere Frau zeigt mit dem Finger auf ihn und ruft etwas, was er aber nicht mehr verstehen kann. Die Meute biegt bereits johlend um die Ecke und droht ihn in wenigen Augenblicken zu erwischen. Knerzenbeck läuft so schnell er konnte. Richtungslos und ohne Ziel. Je näher die Meute kommt, desto schwerer werden seine Beine, die förmlich im Asphalt versacken. Knietief stapft er durch schweren Boden, schaut sich wieder und wieder um. Sie kommen immer näher. 40 wütende Weihnachtsmänner schwingen ihre Ruten, schreien und drohen. Sie sind nun schon so nahe, daß er ihre blutunterlaufenen Augen sehen kann. "Packt ihn, den Verbrecher!" hört er, "Schlagt ihm seinen Geiz raus!" Er taumelt, fällt hin, versucht sofort wieder auf die Beine zu kommen. Aber nun versinken auch seine Arme im Gehsteig. Alles vergeblich. Die Meute hat ihn gepackt. Fluchtversuch ausgeschlossen.

Die Ruten haben Dornen und werden mit wildem Gebrüll begleitet geschwungen und müssen jeden Augenblick seinen frierenden Körper treffen. Seine Haut fühlt sich kalt und hart an, wie Glas. Der erste Schlag mit der Rute würde diese zerbrechen und in tausend Splitter zerspringen lassen. Das ist nun das Ende...

Knerzenbeck schnellte hoch. Oh Gott, was für ein Traum! Zur Sicherheit drehte er sich doch im düsteren Schlafzimmer nach allen Seiten um. Wirklich! Nur ein Traum. Frau Knerzenbeck lag neben ihm. Die Lockenwickler am Abend noch sorgsam eingedreht und mit einem lindgrünen und durchsichtigen Nylon-Tuch abgedeckt. Doch der Anblick, der ihn ansonsten eher erschreckte, wirkte in diesem Augenblick beruhigend und anheimelnd. Ja, es mußte ein Traum gewesen sein, denn dieses ist die Realität.

Vorsichtig schüttelte er sein Kopfkissen auf. Leise. Sie sollte besser nicht aufwachen. Würde nur Fragen stellen. Er legte sich zurück und atmete tief durch. Puh! Warum nur diese Wut seiner Leute? Und warum hatten sie sich als Weihnachtsmänner verkleidet? Und warum war er denn nackt im Traum? Noch ein paar Gedankenfetzen schwirrten durch sein schläfriges Hirn, dann war er wieder eingeschlafen.

In dieser Nacht jagten die Mitarbeiter von Knerzenbeck noch oft ihren Chef durch die Straßen. Immer waren sie als Weihnachtsmänner verkleidet, immer war er nackt. Und jedesmal kriegten sie ihn. Und er wachte stets kurz vor den drohenden Rutenhieben auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst nach dem Morgengrauen fiel er in einen dumpfen und traumlosen Tiefschlaf, Hand in Hand mit seiner Frau, die mittlerweile einen ihrer Lockenwickler verloren hatte und diesen unter ihrer rechten Wange begrub.

Als Knerzenbeck am nächsten Morgen in seine Firma fuhr, fühlte er sich so, als ob er zehn Tage im Sattel eines durchgedrehten Kamels gesessen hätte. Er spürte jeden Knochen und eine leichte Beklemmung saß in seiner leidgeprüften Seele. Die Begrüßung durch seine Frau Klonowski fiel dementsprechend karg aus. Hat wohl wieder 'ne schlechte Nacht gehabt. Vielleicht hat seine Frau ihn auch nicht ... dachte die Empfangsdame spontan und trug ihrem Chef den üblichen Kaffee nach. Das lauwarme Gebräu würgte Knerzenbeck widerwillig herunter. Bah! Man sollte sie in Kloakofix umtaufen ... Warum schmeiße ich sie nicht einfach raus?! Heute noch. Soll sie doch mit ihrem Kaffe einem anderen Chef vergiften. Ja! Einfach raus. Die nächste Gehaltserhöhung kann sie sich sowieso abschminken.

Brriiingg!!! Telefon. "Herr Knerzenbeck, Pochallek hier. Steht der Termin für unser Betriebsratsgespräch heute?" Knerzenbeck spürte ein Kribbeln im Genick. Genau dort, wo der Friseur stets zuviele Haare abrasiert. Nach wenigen Tagen wuchsen dann nämlich dort, kurz über dem Kragen, kleine Borsten, die dann immer am Hemdkragen schubbern. "Ähhh! ... Mensch, Pochallek - habe ich jemals die mir so lieben Termine mit meinem Betriebsrat nicht eingehalten?" "Ja ... " war die Antwort, doch ohne darauf einzugehen schrie Knerzenbeck: "Kommen Sie mir nicht so, Herrrrr Pochallek!" Und etwas leiser fügte er hinzu: "Sie wissen genau ... äh ... ach was ... 10 Uhr steht. O.K.? ... also bis dann." und hängt auf.

Daß diese Tunichtgute einem immer gleich den ganzen Tag verderben können. Die Nacht oft dazu. Die Nacht? Mensch, siehste! Diese Kerle haben es doch glatt geschafft, dir auch noch Alpträume zu verschaffen. Nicht auszudenken, wenn so ein Traum Wahrheit werden würde. Die brächten einen glatt um - ohne mit der Wimper zu zucken.

Es ist jedes Jahr um diese Zeit das gleiche. Kurz vor Weihnachten kommen sie alle und wollen sein Geld. Der Postbote erscheint auffällig oft persönlich. Die Putzfrau schreibt plötzlich nette Grüße auf den Anforderungsschein für das Toilettenpapier. Der Hausmeister sorgt sich auf einmal wieder rührselig um Glühlampen im Foyer. Knerzenbeck kommt es vor, als ob alle Behindertenwerkstätten, karitativen Verbände und selbst die Heilsarmeen aller Länder es sich zur Aufgabe gemacht haben, ihn auszuräubern. Weihnachten müßte abgeschafft werden. So, wie er es schon zu Hause seit Jahren gemacht hat. Würstchen statt Putenbraten. Kommt doch nur die ganze Verwandschaft und frißt sich durch. Alle wollen ein Geschenk. Immer größer und immer teurer. So genügsam wie er ist doch niemand mehr. Was hat er schon für Ansprüche? In Ruhe gelassen werden will er. Kostet doch alles genug Piselotten heutzutage.

Was allein alles so durch die ganzen Kundenpräsente zu Weihnachten durch den Schornstein rauscht. In den einen Jahr sind es Weine, im anderen Bücher, wieder ein Jahr weiter sind es Pralinen oder so ein Zeugs. Und selbst bekommt man lediglich eine dieser bescheuerten Weihnachtskarten. Motiv Schneemann. Naive Malerei. Gemalt von Sonja, 11 Jahre alt, behindert. Mann, da verdient doch nur die Post dran. "Die Belegschaft und die Geschäftsführung wünschen Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und ein erfolgreiches Neues Jahr Schießmichtot." Mensch! Wer meint das denn wirklich erst. Standardsprüche mit Wiederholungscharakter. Schreiben sich alle um die Weihnachtszeit die Finger wund. Und lesen tut's doch sowieso niemand.

Dreimal am Tag klingelt zur Vorweihnachtszeit auch noch das Rote Kreuz, die Arbeiterwohlfahrt, der Bund der Steuerzahler, der Kindergarten "Pumuckl" oder das Müttergenesungswerk "Erika".

Und jetzt auch noch wieder einmal seine Mitarbeiter. Klar, der Betriebsrat ist doch nur das Sprachrohr. Und gerade der Pochallek. Hat sich selbst als Bock zum Gärtner gemacht. Arbeitsscheu - aber Betriebsratsvorsitzender. Fast unkündbar. Ruht sich aus den ganzen Tag und schafft kaum etwas selbst. Wenn man das ganze Geld, was die so im Jahr mit ihren Betriebsratssitzungen verbraten, auf einem Haufen hätte, dann könnte man auch an Gehaltserhöhungen denken. Aber so? Laß doch 'mal ausrechnen. Also: Sieben Leute mal hundert Stunden mal ....

Es klopfte. Pochallek und ein Zweiter standen in der Tür. "Typisch", dachte Knerzenbeck, "traut sich nicht allein rein. Muß wieder das Wiesel Wagenknecht mitnehmen. Kein Rückgrat, diese Leute." Pochallek und Wagenknecht nahmen Platz. Nach anfänglichem Räuspern und dem obligatorischen "alles klar soweit, läuft alles, alles bestens" kam die "Gesandtschaft des Proletariats" schnell zum Kern. Wie sieht's mit dem Weihnachtsgeld in diesem Jahr aus und vor allem: Gehaltserhöhung im nächsten Jahr.

Knerzenbeck verfluchte innerlich seinen Friseur und wischte mit seinem Zeigefinger in der Innenseite seines Hemdkragens auf und ab. Im neuen Jahr wird das anders, er wird sich einen anderen Haarschnipsler suchen.

Nun ja. Weihnachtsgeld. Ob der Betriebsrat denn wisse, wie hoch die Kosten waren. Zudem hätte das Unternehmen schließlich eine hohe Steigerung der Einkaufspreise hinnehmen müssen - und das bei drei unvermuteten Schwangerschaften in diesem Jahr. Der Betriebsrat hat wohl auch nichts von der allgemeinen Flaute mitbekommen. Die Taschen der Kunden sind wie zugenäht, im Moment. Pochallek warf ein, daß das Betriebsergebnis aller Voraussicht nach um satte 12 Prozent gesteigert werden konnte und daß dadurch doch ein gewisser Teil für die Mitarbeiter ...

Knerzenbeck unterbrach: Ob Pochallek denn auch bedacht habe, daß nur durch das persönliche Verkaufsgeschick von Knerzenbeck selbst die dicken Aufträge eingebracht hätten, die Mitarbeiter selbst doch kaum ein positives Ergebnis zusammengebracht hätten ...

Wagenknecht rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Nun: Die Aufträge des Chefs hätten leider - einzeln und für sich betrachtet - jeweils eine negative Umsatzrendite ergeben, der zu erwartende Gewinn muß auf die vielen Kleinaufträge ...

Paperlapapp! Wenn die Mitarbeiter nicht zu blöd (jaja, Entschuldigung: zu unbedarft) wären, die Deals des Chefs wirtschaftlich zu gestalten, dann sähe alles ganz anders aus. Wahrscheinlich ist das sogar alles beabsichtigt. Sabotage! Den Alten demontieren. Aber jetzt mehr Geld, was?

Pochallek schlug eine andere Strategie ein: Statistik. Ob es Herrn Knerzenbeck bewußt sei, daß die in den letzten fünf Jahren ausgesprochenen Gehaltssteigerungen prozentual gesamt gerade die Preissteigerungsrate des Jahres 1993 auffangen würden ...

Knerzenbeck konterte politisch bewandert, daß die Arbeitsplatzsicherheit heutzutage wie ein Gottesgeschenk zu betrachten wäre, ihm alle dankbar sein müßten, überhaupt eine Arbeitsstelle zu haben.

Die gewerkschaftlichen Schulungen von Pochallek und Wagenknecht entfalten nun ihre Wirksamkeit: Ob denn dem Chef klar sei, daß er ohne Mitarbeiter auch keinen Gewinn machen könnte?

Pahhhh! Gewinn habe er schon gemacht, als Pochallek und sein Wiesel noch auf der Wolke 7 saßen. Er könne auch wieder ganz ohne Personal. Und überhaupt versteht er diese Undankbarkeit gar nicht. Mensch, haben denn schon alle die tolle Grill-Party im Juli vergessen?! Selbst die Ehefrauen waren dazu eingeladen (die kreischenden Gören haben sie ungefragt einfach mitgebracht und auf meine Kosten durchgefüttert). War doch eine gelungene Mitarbeiterbetreuungsmaßnahme. Bis zum letzten Tropfen ist alles ausgesoffen worden und kein Krümel ist übriggeblieben (die Kinder haben so zugelangt, als ob sie vier Wochen zuvor bei Wasser und Brot gehalten worden wären). Und die geplante Weihnachtsfeier in wenigen Tagen. Wissen denn Pochallek und Konsorten nicht, was diese Orgie kosten wird. Grünkohl satt, Musike und Trinken bis zum Abwinken. Getanzt darf auch werden - mit den Kolleginnen (die Frauen bleiben besser zuhause, dann können die gefräßigen Gören wenigstens nicht mit). Und das jedes Jahr wieder. Statt 300 Mark in der Tasche mehr ist doch so ein Fest viel mitarbeiterfreundlicher und kommunikativer.

Pochallek griff ein. Ohne diese Fete würde Knerzenbeck also schon einmal bereit sein, 300 Mark Weihnachtsgeld auszuschütten.

Quatsch! Dreihundert hier, dreihundert da. Kommt die Steuer, bleibt dem Mitarbeiter sowieso nichts davon. Und die Firma (er) hätte zudem auch noch die Sozialanteile zu tragen. Schon einmal ausgerechnet, was das bedeutet? Außerdem ist das Ganze sowieso nicht mehr zu stornieren.

Wagenknecht sah seine Chance in der "Zangentechnik": Na eben, Dreihundert sind ja auch viel zu wenig. Es müßte mindestens das Vierfache sein, damit es sich zu lohnen beginnt. Pochallek ergänzt, daß vier eine schöne Zahl sei: 4 Prozent Gehaltserhöhung im kommenden Jahr - das könnte doch vereinbart werden.

Bin ich hier der Weihnachtsmann, habe ich etwas zu verschenken? Sollen die Mitarbeiter doch erst einmal etwas leisten, bevor sie um mehr Geld schreien.

Pochallek wurde rot. Glaubt Herr Knerzenbeck etwa, daß die Mitarbeiter demnächst ihr Gehalt noch selbst in die Firma einbringen. Vielleicht glaubt der Herr Knerzenbeck noch an den Weihnachtsmann? Und dann könnte er jetzt ja - bei dieser Einstellung - jeden seiner Mitarbeiter als eine Art Weihnachtsmann betrachten.

Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen, bellte Knerzenbeck zurück. Es müssen Rücklagen gebildet werden, zu Sicherung der Arbeitsplätze im kommenden Jahr. Er selbst übt sich ja auch in Bescheidenheit und Zurückhaltung. Und überhaupt: Polemik ist hier doch wirklich falsch am Platze. Er wird über die Sache nachdenken und dem Betriebsrat seine Entscheidung zukommen lassen. Danke, meine Herren (so, und jetzt raus, bevor ich den Laden in zehn GmbHs umorganisiere und ihr euren Betriebsrat in eurer Stammkneipe als e.V. gründen könnt).

Mit einer Tasse Anis-Tee ging Knerzenbeck am selben Abend wieder ins Bett. Frau Knerzenbeck saß am Bettrand und hüllte gerade ihr Nylon-Tuch über die Wickler - fein sorgsam und mit der Geschicklichkeit aus jahrzehntelanger Übung - zipp, zipp. Die Nachttischlampe erlosch mit einem blechernen Klick und die Nacht beginnt.

Knerzenbeck schloß die Augen. Eins, zwei, drei, vier, fünf ... er schlief tief und fest. Pochallek, Wagenknecht, Frau Klonowski und ihr Giftkaffee .... der Hausmeister, Weihnachtskarten in übergroßen Postsäcken, die Putzfrau, die plötzlich 100-Mark-Scheine auf die Toilettenrollen rollt ... zwei Heilsarmisten tragen eine mannshohe Sammelbüchse in sein Büro und rütteln diese im Takt - eins, zwo, eins, zwo - Geld-her, Geld-her. Knerzenbeck ist wieder nackt. Die Vertreterin des Müttergenesungswerkes lacht gellend und zeigt ihre langen gelben Zähne. Schaut ihn euch an, den Knerzenbeck, nichts in der Tasche - nichts in der ...

Plötzlich wird es still in der Gruppe. Wie aus einem Vakuum heraus tritt ein alter Mann in den Kreis. Ein heller Lichtschein umgibt ihn und für einen Augenblick ist es Knerzenbeck so, als höre er einen Chor von hellen, klaren Stimmen. Der Alte trägt einen wolligen roten Mantel, schwarze Stiefel und eine buschige Mütze. Er zieht seine großen roten Fäustlinge aus und fährt sich mit der Hand zweimal durch den wallenden, flauschigen weißgrauen Bart. "Hmmm, wen haben wir denn da? Ist das nicht der Knerzenbeck? Mal sehen, was so in meinem goldenen Buch über dich steht ... Soso ... naaahhh .... aha ..." Er tritt sehr nahe an Knerzenbeck heran. "Da habe ich ja ein feines Bürschchen vor mir. Und einen Wunschzettel hat er mir auch geschrieben ... Willst du mir noch etwas sagen, bevor ich ihn zerreiße?" ...

Knerzenbeck rückt ein wenig zurück und hält verschämt die Hände vor seinen Schoß. Er schluckt kräftig und kneift sich einige Male in den Oberschenkel. Verdammt! Warum wache ich nicht auf? Ist doch bloß ein Traum. A u f w a c h e n!!! Noch ein Kniff. Autsch! Doch es bleibt so wie es ist. "Na, hast du die Sprache verloren, Knerzenbeck? ... Dann will ich dir mal helfen: Ich sehe einen heillosen Geizknochen und Raffzahn vor mir. Du verachtest die Menschen und strafst sie mit Undankbarkeit und Arroganz. Nichts ist dir heilig, bis auf deinen Geldbeutel. Es ist deshalb der Wille der weihnachtlichen Obrigkeit, daß du fortan ohne Beachtung deiner Mitmenschen bleibst - und zwar so lange, bis du dich selbst eines Besseren belehrt hast. So soll es nun geschehen." Päng.

Mit einem Ruck springt Knerzenbeck aus dem Bett. Du meine Güte. Das wird ja immer schlimmer von Nacht zu Nacht. Im nächsten Jahr wird alles anders. Ich mache sie alle nieder. Keiner wird mir entrinnen. Diese Geldgeier. Verfolgen mich schon im Schlaf und mißbrauchen sogar den guten alten Weihnachtsmann für ihre miesen Pläne.

Als Knerzenbeck am nächsten Tag auf den Firmenhof fährt, steht vor dem Eingang - auf seinem Parkplatz - ein anderes Auto. Sein Namensschild ist fort und auch das Schild "Chefparkplatz" hat irgendeiner dieser "Sozis" demontiert. Im Empfang herrscht lebhaftes Treiben. "Ernst," ruft einer, "kannst du mir schnell einmal bei den Exportpapieren helfen? Dann geht die Neubestellung von heute noch vor Weihnachten raus." "Klar, Heinrich, muß nur eben noch dem Stift erklären, wie Scheckeinreichungen gemacht werden, dann können wir die heutigen V-Schecks noch vor zwölf in die Bank geben - du weißt ja, jeder Tag zählt."

Frau Klonowski hat sich verändert. Mensch, die ist ja geschminkt. Und die Haare hat sie sich ja auch gemacht. Ilse Klonowski hat ein Telefonat: "...selbstverständlich gern, Herr Runge. Natürlich werden wir es versuchen, ihre Reservierung noch in dieser Woche zu bearbeiten. Ja, Service ist uns wichtig. Vielen Dank. Gern geschehen." Kaum hat sie aufgelegt, schon der nächste Anruf. "Firma KSC, mein Name ist Ilse Klonowski. Was kann ich für Sie tun?"

Moment mal. Knerzenbeck traut seinen Ohren nicht. Wieso "Firma KSC"?! Der Laden heißt immer noch "Knerzenbeck" und überhaupt. Gegrüßt hat ihn noch niemand. Verdammt. Hat denn keiner den Chef bemerkt. "Klonowski! Welcher Blödmann hat sein Tretauto auf meinem Parkplatz abgestellt? Holen sie mir sofort den Pochallek! Die roten Socken haben mir die Schilder abmontiert. Der muß doch wissen, wer das war ..."

Im Vorbeigehen fragte Berger seinen Kollegen: "Sag mal, Micha, was machst Du mit Deinem Weihnachtsbonus? Neues Auto oder Hawaii?" "Nee Kalle, nichts von beidem. Wir bauen doch. Und der Bonus geht für die Küche drauf." "Und hoffentlich auch ein wenig für die Einweihungs-Fete ..." "Ist doch logo, wo ihr alle beim Rohbau mit angepackt habt."

Knerzenbeck drückt seinen Rücken durch: "Berger!! - Hansen!! Haben Sie beide nichts besseres zu tun, als hier Privatgespräche zu führen. Dafür bezahle ich sie nicht. Sie sollten besser ..."

Doch Berger und Hansen lachen sich noch einmal freundlich an, und ohne Knerzenbeck eines Blickes zu würdigen gehen sie ihres Weges.

Brrriinnng. "Firma KSC, mein Name ist Ilse Klonowski ..." Knerzenbeck stapft wütend in sein Büro. Als er die Tür aufmacht, traut er seinen Augen nicht. Wände gemalt, eine neue Einrichtung, und Wagenknecht am Schreibtisch, den Telefonhörer am Ohr. "Ja. ... Natürlich ... Wir haben in diesem Jahr glatte sechs Millionen Umsatzsteigerung erwirtschaftet. Ja .... Auch die Rendite ist prima .... plus 6,3 Prozent, gestiegen auf satte 9,8 Prozent. Damit werden wir in diesem Jahr einen Gewinn von 2,1 Millionen hinlegen. 800 Tausend mehr als erwartet. ... Klar, stolzes Ergebnis. Vor allem läßt das eine Sonderausschüttung an die Belegschaft von durchschnittlich fünftausend Mark pro Nase zu. ... Sowieso. Die Stimmung ist gut. Die meisten hoffen sogar noch, daß sie kurz vor Weihnachten noch einen guten Abschluß erzielen. Jeder Punkt zählt. ... Mache ich gerne, und Grüße auch an ihre Gattin. Sie kommt hoffentlich auch zu unserer kleinen Feier, oder? ... Schön, auf wiederhören."

Knerzenbeck steht mit heruntergeklapptem Unterkiefer in der Tür. Sein Blick fällt auf einen Bilderrahmen über dem Schreibtischsessel des Chefs. Darin eingerahmt waren die zehn Leitsätze der KSC GmbH & Co. KG:

1. Wir arbeiten zum Wohle des Unternehmens und somit zum Wohle unserer selbst.

2. Wir partizipieren durch unsere individuelle Leistung am Unternehmenserfolg.

3. Wir kommunizieren nach innen und außen fair, geradlinig und offen.

4. Wir empfinden uns als Team unter Beachtung der Kollegialität und unter Akzeptanz der individuellen Interessen und Ansichten.

5. Unsere Mitarbeiter sind das Potential unseres Unternehmens und werden deshalb geachtet, qualifiziert und leistungsgerecht bezahlt.

6. Unsere Kunden sind unsere Partner, wir pflegen deshalb eine faire Beziehung, unter der Maßgabe einer langfristigen Kooperation.

7. Die Mitarbeiter werden in unserem Unternehmen dort eingesetzt, wo sie den höchsten Beitrag zum Unternehmenserfolg beitragen und wo sie sich am wohlsten fühlen.

8. Wir handeln stets verantwortungsbewußt und zielorientiert, im gegenseitigen Vertrauen.

9. Wir setzen uns Ziele und Leistungsvorgaben.

10. Wir wollen nie wieder einen Knerzenbeck.

Als Knerzenbeck den letzten Satz liest, werden seine Knie schwach. Nie wieder einen Knerzenbeck. Nie wieder? Was hat das alles zu bedeuten? "Mensch, Wagenknecht" schreit Knerzenbeck, "ich bin's, Ihr Chef. Lassen Sie uns doch einmal über alles reden ..."

Doch Wagenknecht hängt schon wieder am Telefon. Flinken Schrittes kommt Ilse Klonowski herein und reicht Wagenknecht eine Tasse Kaffe, mit einem Schokoladenkeks am Rand. "Hier Chef" flüstert sie, "nehmen Sie mal ne Tasse Kaffe zu sich - entspannt ungemein. Zwei Löffel Zucker und die Milch sind schon drin, wie immer ..." Dann ist sie wieder verschwunden. Draußen klingeln schon wieder die Telefone.

Knerzenbeck geht noch einmal zurück in den Empfang. Das geschäftige Treiben hält immer noch an. Und immer noch nimmt niemand Notiz von ihm. Pochallek kommt den Flur entlang. Knerzenbeck hebt den Arm und will etwas rufen, doch Pochallek hat sich schon einem Kollegen zugewendet und gibt einige freundliche Anweisungen, die dieser mit einem beflissenen Kopfnicken annimmt und eilfertig verschwindet. Dann steckt Pochalleck einen Zettel an das schwarze Brett und geht fort.

Knerzenbeck tritt an den Aushang und liest die Hausmitteilung unter der Rubrik "Nachrichten des Betriebsrates". Auf der steht, mit schwarzen Linien umrahmt, die Todesanzeige von Knerzenbeck. Kein Wort des Lobes, keine Erwähnung seiner unternehmerischen Aufbauleistung, nichts. Nur: Wir haben die traurige Mitteilung allen Mitarbeitern zu machen, daß der ehemalige Firmeninhaber unseres Unternehmens nach langer und schwerer Krankheit heute im christlichen Sozialhospitz verstorben ist. Eine Beerdigungsfeier sowie eine feierliche Beisetzung finden nicht statt. Er ist tot. Da steht es schwarz auf weiß. Tot. Im Armenhaus verreckt. Wahrscheinlich verhungert oder einfach so dahinkrepiert. Keiner weint ihm eine Träne nach. Keiner wird morgen mehr wissen, wer er war und was er einmal geleistet hat. Tot. Weg. Futsch. Aus.

Knerzenbeck geht aus dem Gebäude. Er setzt sich in sein Auto und dreht den Zündschlüssel um. Der nächste Betonpfeiler soll der seinige sein. Ihn fröstelt ein wenig bei dieser Vorstellung. Ihm wird kälter und kälter. Eine Gänsehaut überzieht seinen ganzen Körper und er muß plötzlich weinen.

"Männe, Männe!!! Wat is los mit Dir?!" Hin und her geschüttelt machte Knerzenbeck die Augen auf und blickte in das angstvolle Gesicht seiner Frau, das unter der Lockenwicklerhaube und dem Nylon-Tuch herausschaute. "Männe, wat weinste denn ..." Knerzenbeck war ganz offensichtlich wieder wach.

Er sprang aus dem Bett und bat seine Frau, den besten Anzug herauszulegen. Unter der Dusche versuchte er noch einmal, sich an die zehn Regeln zu erinnern. Ja. die kriegt er noch zusammen. Und jetzt nichts wie ab in die Firma. Im nächsten Jahr wird alles anders. Nein, besser: ab sofort wird alles anders.

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