E-Commerce: Nur Dabeisein reicht nicht mehr aus

18.05.2000
Die Wirklichkeit holt die virtuellen Händler ein. In der zweiten Phase des E-Commerce reicht schnelles Wachstum allein nicht mehr aus, jetzt muss Geld verdient werden. Das Zauberwort dafür lautet "Navigation", glauben Berater der Boston Consulting Group.

Es ist kein Geheimnis, dass die traditionellen Handelsunternehmen von der Konkurrenz durch die Internet-Händler überrascht wurden. Bestes Beispiel ist der Bücherhändler Amazon. Die großen amerikanischen, aber auch die deutschen stationären Buchhändler haben alle Hände voll zu tun, um sich eine ähnliche Online-Präsenz zu schaffen wie der virtuelle Händler.

Die Schnelligkeit, mit der sich Online-Händler wie Amazon einen Namen machen, führte dazu, dass sich Anleger begeistert auf deren Aktien stürzten. Die Annahme, dass alles, was irgendwie mit Internet oder E-Commerce zusammenhängt, an der Börse zieht, gilt zwar auch heute noch. Doch die Investoren werden aufmerksamer. Inzwischen werfen sie einen schärferen Blick auf die Geschäftmodelle der Dotcom-Unternehmen. Der Druck, bald die ersten schwarzen Zahlen zu schreiben, wird groß. Die reale (Geschäfts-)Welt holt die virtuellen Unternehmen ein.

Während das Motto "Dabeisein ist alles" bis vor kurzem für Internet-Startups noch ausreichte, um Anleger zu überzeugen, müssen heute junge Firmen Strategien einsetzen, um so bald wie möglich Gewinn zu erwirtschaften. Nur dann überleben sie in der Neuen Wirtschaft. Dabei gibt es aber ein Problem: "Unter vier Augen bekennen manche Online-Unternehmer durchaus, dass ihnen schleierhaft ist, wie sie je Geld verdienen sollen", schreiben Philip Evans und Thomas Wurster in einem Artikel* zum Thema "E-Commerce: Jetzt geht es ums Geld verdienen". Brotlose Kunst ist out, so bald wie möglich Gewinn erzielen, ist in. Bloß wie? Während in der ersten Phase das schnelle Wachstum eine entscheidende Rolle gespielt hat, müssen sich die E-Businesses nun Diffe-renzierungsstrategien überlegen. Evans und Wurster, beide Vice Presidents beim Beraterungsunternehmen Boston Consulting Group, sprechen von "der zweiten Generation des E-Commerce".

Navigation ein eigenes Geschäftsfeld

Sie arbeiten als Unterscheidungsmerkmal und Wettbewerbsvorteil zwischen dem traditionellen stationären Handel und dem Vertrieb über das Internet das Konzept "Navigation" heraus.

Zwar bietet auch der stationäre Handel dem Kunden "Navigationshilfen" beim Einkaufen an, indem er eine Vorauswahl an Produkten und Marken trifft, für diese wirbt und die Beziehung zu den Kunden pflegt. Doch die Suche nach der gewünschten Ware ist im Internet so leicht und schnell geworden, dass dem Handel dieser Wettbewerbsvorteil verloren geht. Kunden können Produktinformationen und Preise bequem online einholen, ohne sich in einen Laden oder ein Kaufhaus bewegen zu müssen. Dadurch ist den Verkäufern die Möglichkeit genommen, ihren Einfluss im Verkaufsgespräch mit den Kunden auszuüben.

Das Weiterleiten der Kundenwünsche oder das Helfen bei der Suche nach bestimmten Produkten ("navigieren") ist im Internet ein eigenes Geschäftsfeld geworden. Bestes Beispiel sind die Suchmaschinen wie Yahoo oder Altavista, die über die Suchfunktion hinaus ja schon lange Kategorien wie "Finanzen", "Wetter" oder "Einkaufen" anbieten. Auch Communitys sind nichts anderes als Navigatoren.

Die beiden Berater sind überzeugt, dass beim Vertrieb über das Internet Navigation "das Kampfgelände ist, auf dem Wettbewerbsvorteile zu gewinnen oder zu verlieren sind".

Sie machen drei Dimensionen der Navigation aus: Reichweite, Affiliation und Informationsfülle. Über diese drei Dimensionen werden alle E-Commerce-Player in den Wettbewerb zueinander treten. Deshalb müssen Online-Händler und solche, die es werden wollen, ihre strategischen Überlegungen damit beginnen, welche dieser drei Dimensionen sie bereits gut beherrschen und wo sie noch dazulernen oder Allianzen eingehen müssen.

Drei Dimensionen der Navigation

So erklären Evans und Wurster die drei Ausdrücke:

- Reichweite bezieht sich sowohl auf die Zahl der Kunden, die ein Unternehmen erreichen kann, als auch auf die Zahl der Produkte, die es anbieten kann. Dadurch, dass bei Internet-Händlern die Navigationsfunktion (der Katalog) von der Warenlagerung getrennt wurde, können deren Kunden aus einem viel größeren Warenspektrum auswählen als die Kunden eines stationären Händlers.

Die weltweite Vernetzung der Rechner ermöglicht theoretisch auch Neuseeländern, in deutschen Warenhäusern einzukaufen, sprich die Reichweite der Unternehmen hat sich ausgedehnt. Viel mehr Kunden als bisher haben nun Zugriff auf das Angebot.

- Informationsfülle: Auch diese Dimension hat zwei Aspekte. Zum einen ist damit gemeint, wie viel Produktinformation ein Unternehmen den Kunden bieten kann und zum anderen, wie viel Information ein Unternehmen über die Kunden, ihre Kaufgewohnheiten und Wünsche sammelt.

- Affiliation: Darunter verstehen die Berater, dass die Navigatoren sich auf die Seite der Konsumenten stellen und ihren Interessen entgegenkommen.

Konkurrieren über Reichweite

Irgendwann stößt auch das größte Kaufhaus an die Grenzen des Produktangebots. Für den Handel, egal ob klein oder groß, ist eine zu große Produktvielfalt unwirtschaftlich. Nicht so im Internet: Weil virtuelle Händler den Produktkatalog von der Lagerhaltung getrennt haben, können sie den Kunden mit großen Datenbanken eine riesige Auswahl bieten. (Auf die Probleme mit der schnellen Warenlieferung gehen Evans und Wurster nicht näher ein.) Entscheidend ist, dass die Kunden wegen des umfassenden Angebots zu einem Online-Händler kommen. Clevere Anbieter wie Amazon machen sich das zunutze und bieten nun den Kunden mehr als das ursprüngliche Portfolio. Was mit Büchern begonnen hat, wurde auf CDs, Pflegeprodukte, Gartenmöbel oder Raritäten ausgeweitet. Amazon wandelte sich vom Buchhändler zum Navigator. Wer weiß, wenn es den Kundenwünschen entspricht, bietet Amazon nächstes Jahr vielleicht Lebensmittel an. Die Geschäftsgrenzen verwischen also. Ein Computerhändler bleibt online nicht unbedingt ein Computerhändler, sondern bietet auf einmal auch Reisen oder Büromöbel an, wenn er merkt, dass seine Kunden diese Produkte suchen.

Evans und Wurster empfehlen dem stationären Handel deswegen, seine Online-Präsenz nicht einfach als Schaufenster-Auslage für sein bereits existierendes Geschäft zu sehen. "Sie dürfen sich nicht von den Gegebenheiten in ihren realen Läden leiten lassen", lautet ihr Credo. E-Commerce muss als Geschäft mit eigenen Regeln begriffen werden.

Hersteller können zwar durch den Direktverkauf über das Netz ihre Einzelhändler umgehen, doch dafür müssen sie in Kauf nehmen, dass Navigatoren ihre Produkte leichter vergleichbar mit denen der Konkurrenz machen.

Als beispielsweise das ehemalige ComputerPartner-Informationssystem (heute Computerproduct-Informationssystem) startete, um dem IT-Handel das Angebot und die Preise der IT-Großhändler übersichtlich anzubieten, liefen diese Sturm dagegen. Heute geht eine Firma wie DCI genau mit diesem Geschäftsmodell an die Börse. Das Internet hat die Haltung aller Marktteilnehmer verändert. Wer als Compaq-Partner beispielsweise einen Webshop von Compaq betreibt, darf derzeit noch ausschließlich Compaq-Produkte darüber verkaufen oder Peripherie-Produkte, die nicht mit den Produkten des amerikanischen Anbieters konkurrieren. Das wird und muss sich ändern, denn wenn sich die Navigation auf die eigenen oder nur auf einen Anbieter beschränkt, ist das für den Hersteller oder Händler ein Nachteil. Navigatoren, die viele Anbieter auf einer Plattform zusammenbringen, pro-fitieren vom größeren Zulauf. Und nichts ist im Netz so wertvoll wie viel Verkehr auf der Website.

Konkurrenz über Affiliation

Navigatoren, die mehr als einen Anbieter vertreten, können Einzelprodukte neutral präsentieren. Die Kunden, inzwischen an die Transparenz, die das Internet ermöglicht, gewöhnt, würdigen dies. Wer als Agent oder Händler nur einen Hersteller vertritt, wird sehr aggressiv die Vorteile von dessen Produkten bewerben und damit im Netz nicht weit kommen, weil eben andere den Vergleich anbieten. Sich dagegen zu wehren, bringt nichts, also hilft nur mitmachen und den Konsumenten mit dem versorgen, was er braucht. Dieses starke Eingehen auf die Wünsche der Kunden, oder noch stärker ausgedrückt, das Identifizieren mit dem Kunden, nennen Evans und Wurster Affiliation.

Schlaue Navigatoren ermöglichen beispielsweise Shop- oder Produktvergleiche, bieten Links zu Verbrauchertests oder stellen Software für die Entscheidungshilfe vor dem Kauf bereit.

Das Interesse des Herstellers steht eigentlich dem des Konsumenten diametral gegenüber. Er will nicht, dass seine Produkte verglichen werden und möglicherweise schlechter abschneiden. Doch wenn sich ein Hersteller als Navigator positionieren will, kommt er am Affiliationskonzept nicht vorbei. Was tun? Die Berater der Boston Consulting Group nennen Dell als Beispiel. Der PC-Hersteller bietet seinen Kunden einen Konfigurator an und Links zu Peripherieprodukten. Als weiterführendes Affiliationsinstrument schlagen Evans und Wurster vor, einen umfassenden und objektiven Katalog für Peripheriegeräte anzubieten. Denn das erleichtert den Kunden die Suche und bindet sie deswegen an den Hersteller. Natürlich könne das Spiel auch andersherum gespielt werden, wenn ein Peripherie-Anbieter neutrale Information zu verschiedenen PC-Anbietern liefert.

Konkurrenz über Informationsfülle

Im Gegensatz zu den Dimensionen "Reichweite" und "Affiliation" sind traditionelle Händler und Hersteller in diesem Punkt im Vorteil. Traditionelle Händler, weil sie bereits eine Fülle an Informationen über ihre Kunden besitzen, Hersteller, weil sie ja Produkte entwickeln und sozusagen die Quelle aller Wareninformationen sind.

Die technischen Möglichkeiten für das Auswerten von Kunden- und Kaufdaten sind heute ausgefeilter als je zuvor - Stichwort Data Mining. Navigatoren im Internet häufen Datenberge über ihre Kunden an. Je geschickter ein Unternehmen diese Daten auswertet, desto leichter kann es dem Kunden maßgeschneiderte Angebote unterbreiten. Der Faktor Datenschutz begrenzt die Auswertungsmöglichkeiten und darf keinesfalls außer Acht gelassen werden. Verbraucher haben ein Recht darauf zu wissen, was mit ihren Daten passiert. Doch innerhalb dieser Grenzen seien reichhaltige Kundeninformationen eine "wirkungsvolle Waffe" meinen Evans und Wurster. Sie gehen davon aus, dass Märkte zum Informationsaustausch entstehen werden.

Markenbildung steht in den Zeiten des Internet ebenfalls unter anderen Vorzeichen. Evans und Wurster stellen fest, dass es zwei Arten von Marken gibt: eine versucht, über den Glauben an Produkteigenschaften, Kunden zu gewinnen, die andere versucht, über eine bestimmte Erfahrung die Konsumenten anzusprechen. Der Glaube an eine Marke wird durch Vergleiche, wie sie Navigatoren anbieten, schnell entzaubert. Deswegen eignet sich diese Art der Markenbildung nicht für das Internet.

Marken, die Erfahrungen oder ein Lebensgefühl transportieren, stehen besser da. Barbie vom Spielwarenhersteller Mattel zum Beispiel steht für eine Fantasiewelt. Wenn Mattel nun auf der eigenen Homepage Geschichten rund um Barbie bietet oder neue Kleider vorstellt, den Kindern ermöglicht, Mails an Barbie zu schreiben, oder mit anderen Barbie-Geschichten auszutauschen, erleben die Kunden Barbie als Marke, als Produkt und als Erfahrung. Der Hersteller hat die Verkaufsmacht vom Handel zurückgewonnen, weil ein einzelner Händler überfordert wäre, müsste er für jedes seiner Produkte so eine Erfahrungswelt aufbauen. Meist besitzen Marken sowohl die Glaubens- und Erfahrungskomponente. Evans und Wurster empfehlen für das Medium Internet, letztere zu stärken.

Ein Unternehmen an das E-Commerce-Zeitalter anzupassen, ist eine große Herausforderung. Es kann passieren, dass das neue E-Geschäft mit dem ursprünglichen nichts mehr zu tun, ja sogar, dass es das alte kannibalisiert. Dennoch raten Evans und Wurster, den Schritt auf jeden Fall zu machen, sonst bleiben Unternehmen auf der Strecke.

Sinnvolle Synergien zwischen stationärem und Online-Handel erwähnen sie nicht. Wenn man beachtet, dass Kunden sich vor dem Einkaufen im Internet informieren, dann aber doch im stationären Handel kaufen, ist es ja naheliegend, dass Online-Händler mit stationären kooperieren oder sogar reale Outlets eröffnen. Viele Kunden, die sich scheuen, mit der Kreditkarte online zu bezahlen, könnten das Produkt im Webshop bestellen und im physikalischen Laden bezahlen. Der Fachhandel hat also durchaus eine Zukunft, wenn er den stationären Vertrieb mit dem Online-Vertrieb klug verbindet. (is)

www.manager-magazin.de/harvard

*Der Artikel erschien in "Harvard Business Review", Ausgabe 3/2000.

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