Fachkräftemangel behindert Wirtschaftswachstum

22.03.2001
Laut Bitkom werden IT-Fachkräfte immer mehr zur Mangelware. Wenn Politiker und Wirtschaftsbosse dieser Tendenz nicht bald entgegenwirken, drohe Europa der wirtschaftliche Kollaps.

Jörg Menno Harms, Vizepräsident vom Bitkom, malte während der Tagung "European Information Technology Observatory" (EITO) Anfang März in Berlin den Teufel an die Wand: "In Europa fehlen derzeit 1,9 Millionen Spezialisten für Informationstechnik, Telekommunikation und E-Business. Dieser Mangel wird bis 2003 voraussichtlich auf 3,8 Millionen anwachsen. Die europäische Wirtschaft läuft Gefahr, im Jahr 2003 ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 2,5 bis drei Prozent zu verschenken, weil die im Umgang mit neuen Medien geschulten Spezialisten fehlen, um die Wachstumspotenziale auszuschöpfen." Laut Studie sind Anbieter wie Anwender von Informations- und Kommunikationstechnik sowie E-Business-Lösungen betroffen.

Das gleiche Horrorszenario gilt auch für Deutschland. Der Fachkräftemangel wird sich hier laut Bitkom von derzeit 444.000 auf 723.000 vakanten Stellen im Jahr 2003 verschärfen. "Die Untersuchungsergebnisse sind beunruhigend", erklärt Harms. Von Entwarnung oder einer Entspannung des Arbeitsmarktes könne keine Rede sein, obwohl "wir seit 1995 eine tief greifende Reform des deutschen Bildungswesens anmahnen". Er gibt wohl zu, dass sich auch tatsächlich schon einiges bewegt habe, aber man sei zu langsam. Mit jedem Jahr des Wartens würden mehrere Zehntausend zusätzliche Arbeitsplätze verloren gehen und damit unausgeschöpftes Innovationspotenzial bei den neuen Technologien verschenkt. Ein weiterer Bremsklotz sei die hohe Abbrecherquote von 50 Prozent im Studiengang Informatik. Schuld daran seien laut Harms theorielastige Studiengänge, schlechte Betreuung und daraus resultierend eine überlange Studiendauer. Aber auch die verschärfte Wettbewerbssituation spitze die Situation auf dem Arbeitsmarkt weiter zu.

Konkurrenz aus dem Anwenderlager

Die Informations- und Kommunikationswirtschaft wächst weiter, und der Bedarf an E-Business-Lösungen steigt. Gleichzeitig wandern die knapp bemessenen IT-Fachkräfte aus der eigentlichen ITK-Kernbranche zu den Anwendern ab. Besonders Banken, Versicherungen, öffentliche Verwaltungen, Produzierendes Gewerbe, Transportunternehmen und Wissenschaftsbetriebe brauchen und holen sich IT-Know-how. "Auf einen Arbeitsplatz in der IT-Kernbranche kommen künftig zwei entsprechende Arbeitsplätze auf der Anwenderseite", so Harms. Unter den Top Ten der deutschen Software- und Systemhäuser befinden sich nur zwei IT-Unternehmen. Den Rest stellen die DV-Abteilungen großer Anwender.

Insgesamt wurden im Jahr 2000 in Westeuropa 14,5 Millionen Experten nachgefragt. Etwa 10,4 Millionen oder 72 Prozent gehören zu den "klassischen" ITK-Arbeitsplätzen. Besonders hoher Bedarf besteht laut Bitkom an erfahrenen Netzwerkspezialisten, Programmierern, Entwicklern sowie Beratern, die über gleichermaßen gute technische wie betriebswirtschaftliche Kenntnisse zur Analyse kundenorientierter Geschäftsprozesse verfügen. Auf das Segment E-Business entfallen europaweit 2,8 Millionen sowie auf den stark wachsenden Bereich Call-Center und Online-Support 1,3 Millionen Arbeitsplätze. Von der Gesamtnachfrage nach Spezialisten konnten 13 Prozent (knapp 1,9 Millionen) nicht befriedigt werden. Bis zum Jahr 2003 wird der Bedarf an entsprechenden Experten in Europa auf 22 Millionen anwachsen. Der Bitkom-Vize fürchtet, dass dann sogar 18 Prozent - also jede sechste Stelle - nicht besetzt werden können. Besonders hart betroffen von dem Arbeitskräftemangel ist der E-Business-Bereich, da hier die Nachfrage nach Spezialisten allein im Jahr 2001 um 40 Prozent steigen wird. Zwischen 2000 und 2003 sollen in diesem Sektor 3,5 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Die Krux daran ist aber, dass die europäischen Bildungssysteme nur 2,1 Millionen zusätzliche Experten zur Verfügung stellen. Jede dritte E-Business-Stelle kann deshalb im Jahr 2003 nicht oder nur unzureichend qualifiziert besetzt werden. Auch für die Call-Center erwartet Harms aufgrund der Studie eine explosionsartige Nachfrage nach Fachkräften, die aber dank geringerer Anforderungen an das Personal mit einem Minus von sieben Prozent weniger große Lücken reißen wird.

Fachkräftebedarf in Deutschland am größten

Innerhalb Westeuropas verzeichnet Deutschland vor Großbritannien den stärksten Fachkräftebedarf. Zurzeit besteht in Deutschland eine Nachfrage nach 2,95 Millionen ITK-, E-Business- und Call-Center-Spezialisten. Rund 15 Prozent davon (444.000 Stellen) können nicht besetzt werden. Bis zum Jahr 2003 wird die Nachfrage auf 4,22 Millionen ansteigen, aber nur 991.000 der 1,27 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätze werden besetzt werden können. Die Qualifikationslücke vergrößert sich also allein in Deutschland um 279.000 Experten oder 63 Prozent.

Vor diesem Hintergrund mahnt Harms ein energisches Gegensteuern an. Er berichtet, dass innerhalb von nur sechs Monaten mit der Green Card genau so viele ITK-Spezialisten nach Deutschland kamen wie alle deutschen Hoch- und Fachschulen im Jahr 2001 insgesamt an Informatikern diplomieren werden. Diese Ergänzung des deutschen Arbeitsmarktes war in seinen Augen überfällig, doch letztlich handelt es sich seiner Meinung nach nur um eine kurzfristige Entspannung der Situation. Die langfristige Behebung des Mangels an qualifizierten Fachleuten muss nach Ansicht von Bitkom zu einer vordringlichen Aufgabe der Politik werden. "Die Lösung des Fachkräfteproblems sichert nicht nur Arbeitsplätze. Sie hilft uns auch, unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA und Japan zu steigern", erläutert Harms die Situation. Ausbildung sollte seiner Meinung nach ein strategisches Element der Wirtschaftspolitik sein. Sein Vorschlag: modulare Studiengänge in Baukastenform und kürzere Studienzeiten.

www.bitkom.org

ComputerPartner-Meinung:

Seit fünf Jahren beklagt Bitkom das starre, studentenunfreundliche Bildungssystem. Doch die Politik reagierte bislang nicht oder nur halbherzig. Vielleicht lag das daran, dass allen Unkenrufen zum Trotz die Wirtschaft brummte, besonders in der ITK-Branche. Jetzt ist aber der Zenith der Kommunikations- und Computerbranche überschritten. Mit der Hardware allein kann man kaum noch Gewinn machen - das neue Zauberwort der Gewinnmaximierung heißt Service, und genau dafür benötigt man Fachkräfte. Aber keine Sorge: Spätestens Ende dieses Jahres, wenn die Vorbereitungen für die nächste Bundestagswahl im September 2002 beginnen, werden die Politiker das Potenzial des Fachkräftemangels erkennen und dann vielleicht sogar etwas dagegen tun. (go)

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