Hochkonjunktur für professionelle Datenrekonstruktion

17.09.1998

MÜNCHEN: Datenverlust kann jeden treffen - und das jeden Tag. Mögliche Auslöser für den größten anzunehmenden Unglücksfall, der einem Computeranwender widerfahren kann, den kompletten oder zumindest teilweisen Crash wichtiger Datenbestände, gibt es mehr als genug. Falls vorhanden, können Sicherungsmaßnahmen Risiken reduzieren, einen hundertprozentigen Datenschutz gibt es bis heute jedoch nicht. Im Katastrophenfall retten hochspezialisierte Experten, was zu retten ist.Stellen Sie sich vor, Ihr 20-bändiger Brockhaus ist aufgrund widriger Umstände versehentlich im Reißwolf gelandet und Sie wollen ihn jetzt wieder zusammensetzen. Eine Herausforderung, die angesichts des gut gemischten Bergs von Papierschnipseln wohl selbst enthusiastischen Puzzle-Experten einen Schauer über den Rücken jagt. Vor einer vergleichbaren Aufgabe stehen professionelle Datenretter, wenn es beispielsweise darum geht, eine Festplatte zu rekonstruieren, deren Zuordnungstabellen und Verzeichnisse infolge eines Head-Crashs verlorengegangen sind.

In Zeiten globaler Vernetzung stellen elektronisch gespeicherte Unternehmensdaten heute eine elementare Geschäftsgrundlage dar. Kundendaten, Bilanzen, Vertriebsberichte, Umsatzstatistiken, Wettbewerbsaktivitäten, Produktinformationen, vertrauliche Informationen, Aufträge, Lieferscheine, Rechnungen, Lagerbestände: Der komplette oder zumindest teilweise Verluste dieser Datenbestände kann für Unternehmen fatale Folgen haben. Bereits vor Jahren errechnete der Haftpflichtverband der deutschen Industrie, daß etwa 40 Prozent der Firmen, die ein EDV-Crash ohne Notfallplanung trifft, spätestens nach zwei Jahren vor dem Aus stehen. Die Situation hat sich mittlerweile deutlich verschärft. Das Ergebnis neuer amerikanischer Studien belegt: 43 Prozent der Unternehmen, die wichtige Unternehmensdaten unwiederbringlich verloren haben, existierten nach sechs Monaten nicht mehr.

Wer die Liste möglicher Auslöser eines Datencrashs auf unvorhersehbare Hardware- und Softwarefehler und vielleicht noch Computerviren reduziert, liegt falsch. Häufig sind es gerade banale Ursachen, die zur Katastrophe führen: Die glimmende Zigarette, die die Oberfläche eines Magnetbandes oder einer Diskette beschädigt, der verschüttete Kaffee, der zielsicher seinen Weg bis zur Systemfestplatte findet und dort einen Kurzschluß in der Elektronik verursacht, oder das Notebook, das während eines Autounfalls durch das Fahrzeug geschleudert und schwer beschädigt wird. Bereits das Umfallen eines aufgestellten Tower-Gehäuses reicht aus, die zulässige Schockbelastung der darin befindlichen Festplatte um ein Vielfaches zu überschreiten.

Unverhofft kommt oft

Die Liste denkbarer Szenarien, die den Crash herbeiführen können, läßt sich quasi beliebig fortsetzen. Neben den aufgezählten Unwägbarkeiten erweist sich der Mensch dabei nach wie vor als konstanter Risikofaktor. Durch Bedienfehler, beispielsweise die fälschlicherweise initiierte Formatierung einer Festplatte, ist er für gut ein Drittel aller Datenverluste direkt verantwortlich.

Kein Grund zur Panik für Anwender, die regelmäßig Datensicherungen auf Backup-Tapes durchführen, mag man denken. Abgesehen davon, daß selbst bei täglicher Sicherung im ungünstigsten Fall die Leistung eines gesamten Arbeitstages verlorengehen kann, erweist sich diese weitverbreitete Vorsichtsmaßnahme in der Praxis gelegentlich als trügerisch. Da stellt sich dann im Krisenfall heraus, daß sich das Backup-Laufwerk im Laufe seiner jahrelangen Benutzung kontinuierlich dejustiert hat und ältere Bänder mittlerweile nicht mehr lesbar sind. Vereinzelt erweisen sich Backup-Tapes im Ernstfall auch aufgrund von Bandalterung, Verschleiß oder dem Einfluß magnetischer Felder als unbrauchbar.

Selbst wenn der Anwender alle Sicherungsmaßnahmen akkurat durchgeführt hat, reicht letztendlich ein Wasserschaden oder ein Brand in der EDV-Zentrale aus, die dort gelagerten empfindlichen Bänder komplett zu zerstören. Die Hoffnungen - und nicht selten die Zukunft des gesamten Unternehmens - ruhen dann eventuell auf einem Klumpen Metall, der früher einmal eine Festplatte war.

"Plattenchirurgen" brauchen Erfahrung und Intuition

Falls auf einem Medium überhaupt noch Daten vorhanden sind, können sie auch wiederhergestellt werden, lautet die Philosophie professioneller Datenretter. Routinearbeit gibt es dabei nicht. Jahrelange Erfahrung ist ein Muß, reicht allerdings nicht aus. Oft ist es die Intuition, die zum Erfolg führt.

"Es sind sowohl die Fachkenntnisse als auch die Fähigkeit, neue Problemstellungen aus veränderten Perspektiven zu sehen, was uns in die Lage versetzt, letztendlich die meisten Fälle zu lösen", beschreibt Guro Bye, Abteilungsleiterin beim norwegischen Unternehmen Ibas Laboratories, das Anforderungsprofil erfolgreicher Plattenchirurgen.

Eine hohe Bedeutung hat für Datenretter unter anderem die Zusammenarbeit und Unterstützung seitens der Festplattenhersteller, beispielsweise wenn es um Dekodierungssoftware geht. Die rasante Entwicklung der Festplattentechnologie hat nach den Worten von Ibas-Mitarbeiter Kjell Sundby die Arbeit der Datenretter in den letzten Jahren deutlich beeinflußt. "Mit immer größeren Datenmengen und kompakteren Platten werden die Herausforderungen immer größer." Am schwierigsten sind seiner Erfahrung nach die Fälle, bei denen der Kunde mit entsprechenden Utilities selbst versucht, den Schaden zu reparieren. "Beherzigen Sie den Rat eines alten Hasen: Nie mit Utilities auf dem Originaldatenträger arbeiten!"

Ein Fehler, der häufig gemacht wird, wie auch Karl-Friedrich Flammersfeld, Geschäftsführer der deutschen Ibas-Niederlassung in Hamburg berichtet. "Wenn ein Head-Crash vorliegt und ich arbeite eine halbe Stunde lang mit einer Diagnosesoftware, um den Fehler zu finden, ist die Platte anschließend komplett zerstört. Man verdirbt sich seine letzte Chance."

Kommt das defekte Medium umgehend in die Hände von Datenrettern ist die Chance auf Wiederherstellung recht hoch. Zwischen 70 und 80 Prozent liegt derzeit die Erfolgsquote führender Unternehmen. Das dabei gelegentlich das Unmögliche möglich gemacht wird, belegt ein Beispiel aus der Praxis. Den Ibas-Experten gelang es in mühevoller Detektivarbeit, fast alle Daten von einer Festplatte zu retten, die auf einem gesunkenen Schiff acht Monate lang in 30 Meter Tiefe auf dem Grund der Nordsee lag.

Schnelligkeit und Diskretion sind unabdingbar

Das Geschäft professioneller Datenretter boomt. Allein im Pirmasenser Data Recovery Center der Convar Systeme Deutschland GmbH werden täglich mehr als 30 Medien rekonstruiert. Dabei ist es unwesentlich, ob durch einen Softwaredefekt die FAT oder der Boot-Sektor zerstört wurde, ein Schreib-/Lesekopf ausgefallen ist oder bei einem MO-Medium der Transportring beschädigt wurde.

Da es sich im Regelfall um essentielle Datenbestände handelt, spielt die Schnelligkeit bei der Datenrettung eine entscheidende Rolle. Jede Minute, in der wichtige Daten nicht verfügbar sind, bedeuten für ein Unternehmen Wartezeit, Produktionsausfall und in letzter Konsequenz einen monetär meßbaren Verlust.

Mit einem Internet-basierenden Informationssystem versucht man

bei Convar, die Auftragsabwicklung zu beschleunigen. Über die unternehmenseigene Homepage (http://www.convar.de) hat der Kunde die Möglichkeit, eine Datenrettung zu avisieren. Nachdem der Kunde über Daten bezüglich des defekten Mediums abgefragt wurde, erhält er online eine Jobnummer und kann versehen mit dieser sein defektes Medium per Kurier auf den Weg schicken. Parallel dazu laufen beim Datenretter bereits eine Reihe von Vorbereitungen an. Voraussichtlich benötigte Personalkapazitäten, Softwaretools und Ersatzteile werden koordiniert beziehungsweise weltweit bestellt.

Innerhalb von vier bis acht Stunden nach Eintreffen des defekten Mediums wird es diagnostiziert, das heißt, es wird im Labor beziehungsweise im Reinraum mit eigens entwickelten Instrumenten, Methoden und Softwarewerkzeugen bearbeitet. Anschließend wird der Kunde über die rekonstruierbaren Datenbestände und die damit verbundenen Kosten informiert. Erteilt der Kunde den Auftrag, erfolgt die Datenrettung innerhalb von ein bis zwei Tagen. Nach Fertigstellung werden die Daten in der Regel auf CD überspielt und dem Kunden übersandt.

Neben einer schnellen Reaktionszeit ist ein zweiter Faktor bei der Abwicklung der Datenrettung unabdingbar: der diskrete Umgang mit dem anvertrauten Datenmaterial. Auch in Krisenfällen genießt der Schutz persönlicher oder geschäftlicher Daten höchste Priorität. Das bestätigt Garnet Tode, Leiterin Marketing bei der Münchner Vogon International GmbH, nach eigenen Angaben europäischer Spitzenreiter bei der Datenrettung von Festplatten. "Die Datenwiederherstellung wird ausschließlich von unseren Spezialisten durchgeführt. Dabei werden alle Daten absolut vertraulich behandelt, auf Anfrage sind auch Vereinbarungen zur Nichtoffenbarung erhältlich. Die Datenrettung findet in zugangskontrollierten Bereichen statt, anschließend werden die gesicherten Datenbestände in feuerfesten Safes aufbewahrt."

Kooperationspartner sind willkommen

Bedingt durch die Kosten für eine professionelle Datenrettung werden Recovery-Aufträge heute fast ausschließlich durch Gewerbetreibende oder die Industrie erteilt. Zwar zeigt die Praxis, daß eine Datenrettung auch in zunehmendem Maße von Heimanwendern und Kleinbetrieben angefragt wird, dann jedoch häufig an den finanziellen Mitteln scheitert. Etwa 20 Prozent der Aufträge laufen aktuell über den PC-Fachhandel. Die Tendenz ist steigend.

"Gerade Händler in der IT-Branche sind wichtige Partner für uns als Mittler zum Endkunden. Interessierten Händlern geben wir die Möglichkeit, die Dienstleistung der Datenrettung in ihr Angebotsportfolio aufzunehmen. Über finanzielle Vereinbarungen sprechen wir mit jedem Händler individuell, da der Markt sehr unterschiedlich ist", zeigt sich Ibas-Geschäftsführer Flammersfeld offen für Kooperationen.

Aufgeschlossen für Partnerschaften mit IT-Unternehmen ist auch die Ontrack GmbH in Böblingen. Hier bietet man ebenfalls autorisierten Händlern, die Option ihr Angebot bezüglich Informationssicherheit abzurunden. Neben einer Vergütung der Vermittlungs- beziehungsweise Serviceleistungen eröffnet sich laut Ontrack interessierten Partnern damit die Möglichkeit, die vorhandene Marktposition zu stärken und die Kundenzufriedenheit zu erhöhen.

Durch den stetig wachsenden Bedarf an größeren Speichermedien ist auch der Bedarf an professioneller Datenrettung gewachsen. Das Aufkommen hat sich nach Aussage der Pirmasenser Convar Systeme Deutschland GmbH in den letzten zwei Jahren mehr als verfünffacht. Die Verwendung von immer größeren Festplatten und die wachsende Kapazität bei Bändern machen eine immer komplexere Datenrettung notwendig. Bis zum Ende des nächsten Jahres rechnen Experten daher im Bereich Recovery mit einem weiteren Zuwachs von mehr als 200 Prozent. (sd)

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