"Ich glaube felsenfest an virtuelle Marktplätze"

12.07.2000
Professor Dr. Bernd Skiera widmet sich an der Johann Wolfgang GoetheUniversität in Frankfurt am Main der Nachwuchsförderung: Seit Sommer 1999 hat der 34-Jährige hier den ersten deutschen Lehrstuhl für Electronic Commerce inne. Mit ComputerPartner-Redakteurin Marzena Fiok sprach er über die Notwendigkeit des Internet für Unternehmen.

Als Professor für E-Commerce können Sie uns doch sicher die Frage aller Fragen beantworten: Womit lässt sich im Internet wirklich Geld verdienen?

Skiera: Im Grunde gibt es nur drei Möglichkeiten: Erstens, Sie verkaufen Produkte oder Dienstleistungen und verdienen damit Geld. Zweitens, Sie versuchen, Kontakte zu vermitteln, und realisieren Erlöse über Banner- oder E-Mail-Werbung. Drittens, Sie sammeln Nutzerinformationen, zum Beispiel in Form eines Panels, und verkaufen diese dann an Dritte. Es gibt natürlich auch Bereiche, in denen Sie den Vorteil haben, diese drei Erlösquellen parallel zu verfolgen.

Welche zum Beispiel?

Skiera: Interaktives Fernsehen, das sicher sehr stark kommen wird, also der Zugang zum Internet über den heimischen Fernseher. Da haben Sie zum einen die Settop-Box, die können Sie möglicherweise verkaufen. Allerdings muss man abwarten, wie schnell hier das "Handy-Phänomen" kommt: dass also die Endgeräte letztlich sehr stark subventioniert werden und beispielsweise nur noch eine Mark kosten. Als Nächstes können Sie die Startseite mit entsprechender Werbung belegen. Und - weil in dieser Settop-Box ja quasi ein kleiner Computer steckt - das Nutzerverhalten im Internet aufzeichnen und die Daten dann, wenn Sie die entsprechende Zustimmung ha-ben, beispielsweise an Marktforschungsinstitute weiterverkaufen. Allerdings gibt es beim E-Commerce auch einige Geschäftsmodelle, mit denen Sie gar kein Geld verdienen können, wie man an einigen Unternehmen sehen kann, die an der Börse in die Kritik geraten sind.

Was haben diese Unternehmer denn Ihrer Meinung nach falsch gemacht?

Skiera: Ich meine, es ist jetzt zu einfach, diesen Leuten einen Vorwurf zu machen. Noch vor knapp einem Dreivierteljahr konnten Sie mit einem Geschäftsmodell, bei dem Sie nur Verluste machen und keine oder nur wenig Umsätze vorweisen, zum Venture-Capital-Geber oder an die Börse gehen und haben trotzdem einen Haufen Geld bekommen. Das immer auf die Unternehmer zu schieben, finde ich nur bedingt korrekt. Es gab Anreize von der Investorenseite: Schließlich konnte man zunächst mit Venture Capital und Börsengang immens viel Geld verdienen. Daher hat nicht nur der Unternehmer was falsch gemacht, sondern auch die Investoren. Die haben einfach zu wenig geschaut, wann es sich wirklich lohnt, Verluste in Kauf zu nehmen. Es gibt da sicherlich eine Reihe sinnvoller Geschäftsmodelle, aber es sind eben nicht alle - wie wir jetzt an der Börse sehen.

Zu lohnenswerten Verlusten gehört es Ihrer Meinung nach, dass Firmen ihre Produkte auch mal im Internet verschenken. Was genau soll das bringen?

Skiera: Im Beispiel von Napster hat das sicherlich Sinn gemacht. In extrem kurzer Zeit wurden mit einer überschaubaren Investition ein sehr renommierter Markenname und ein großes Netzwerk aufgebaut, von dem Napster letztlich lebt. Wenn Sie das schaffen und gleichzeitig irgendwann später ansetzen und einen Dienst anbieten, mit dem Sie auch Geld verdienen können, dann ist das ein Fall, in dem sich hohe Anfangsinvestitionen lohnen. Oder nehmen Sie "Acrobat Reader" oder die zahlreichen Streaming-Produkte: Zuerst werden sie verschenkt, deshalb oft genutzt, und das führt dazu, dass irgendwann die beiden Browser-Hersteller sagen: Oha, da gibt es so viele Nutzer, wir müssen das in irgendeiner Form bei uns integrieren. Dann haben Sie quasi einen Standard geschaffen und fangen mit Produktdifferenzierung an: Sie werden natürlich weiterhin eine kostenlose Variante anbieten, aber auch eine zweite, ich sage mal eine Luxusvariante, mit der Sie entsprechende Preise erzielen.

Welche Branchen haben denn grundsätzlich die größten Entwicklungschancen beim E-Commerce?

Skiera: Grundsätzlich glaube ich, dass alle Branchen in irgendeiner Form profitieren werden. Was man in Deutschland sicherlich gut erkennen kann, ist, dass Online-Banking eine Art Vorreiterposition einnimmt. Die zwei Neueinsteiger Consors und Comdirect haben es hier geschafft, innerhalb von wenigen Jahren ein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell aufzubauen, mit dem sie nachweislich auch langfristig schwarze Zahlen schreiben. Das ist sicherlich ideal. Zumal Sie bei diesen Geschäften hinterher keine Logistik mehr brauchen. Aktien müssen Sie nicht irgendwohin liefern wie beispielsweise Lebensmittel, das Produkt kann rein digital behandelt werden. Auch Musik ist ein rein digitales Produkt, bei dem Sie das ganze Logistikproblem vom Tisch haben. Bei den meisten so genannten E-Tailern, die versuchen, klassischen Handel von physischen Produkten ins Internet zu verlagern, gibt es oft Schwierigkeiten: Die haben den Prozess, das ganze Handling, die Umstellung, Lagerkosten und Auslieferung meist schlicht und ergreifend unterschätzt.

Aber es gibt offenbar auch Startschwierigkeiten: Die meisten Umsatzprognosen für E-Commerce scheinen zu hoch angesetzt worden zu sein.

Skiera: Man muss da zunächst die Bereiche Business-to-Consumer und Business-to-Business deutlich trennen. Es gibt Untersuchungen die zeigen, dass B2B deutlich größer wird als B2C, was sicherlich auch richtig ist. Nur bei B2B haben Sie viele Doppelzählungen drin: Die Wertschöpfungskette besteht aus dem Lieferanten, Hersteller, Händler Distributor und Konsumenten. Nur das letzte Stück entfällt auf den Consumer - alles andere zählt zum B2B-Bereich. Und so haben Sie gewisse Umsätze immer wieder doppelt gezählt. Von daher muss man die Größenordnungen durchaus relativieren. Wir haben hier auch zwei unterschiedliche Märkte. Wenn Sie als Unternehmen Ihre Transportkosten für eine Bestellung von 200 auf 50 Mark senken können, dann machen Sie das. Ein Konsument sagt oft: Okay, das kann ich online bestellen, kostet 25 Mark plus zehn Mark Transportkosten, das ist mir zu teuer. Das ist mitunter kurzsichtig, denn die Kunden sehen nicht, dass sie, um offline einzukaufen, irgendwo hinfahren und Kosten für Benzin, Parkplatz und Zeit mitrechnen müssten. Das ist für mich auch ein Grund, warum der Bereich B2B schneller vorankommen wird.

Auch die mangelnde Sicherheit schreckt die Endverbraucher ab. Niemand schickt seine Kreditkartennummer gerne durchs Internet.

Skiera: Ich halte diese Sicherheitsdiskussion für überzogen. Man muss das mal realistisch sehen: Manche, die mit ihrer Kreditkarte an der Tankstelle zahlen, werfen den Bon auch in den Mülleimer und machen sich überhaupt keine Sorgen. Genauso geben sie dem Kellner die Karte, der verschwindet und bringt sie irgendwann mal zurück, daran verschwenden sie keinen Gedanken. Aber wenn sie die Kreditkartennummer durchs Internet verschicken, sehen sie auf einmal schwarz. Natürlich gibt es Schwachstellen, doch vieles von dem, was in der Presse berichtet wird, halte ich für überzogen.

Werden Unternehmen ohne E-Commerce künftig überleben können?

Skiera: Die Frage ist ungefähr so wie diese: Können Sie heute ein Unternehmen ohne Telefon führen? Es geht einfach nicht. Ich glaube, wer heute nicht in der Lage ist, E-Mails zu empfangen, hat ab einer gewissen Größe ein Problem. Es gibt definitiv Verlagerungen ins Internet. Sie erwarten ja auch von jedem Unternehmen, dass es irgendwo eine Homepage hat. Von daher entspricht die Frage "Kann ich auf das Internet verzichten?" der Frage "Kann ich es mir leisten, heute kein Telefon oder kein Fax zu haben?". Ob gleich jedes Unternehmen über einen Marktplatz Dinge verkaufen muss oder eine Shop-Lösung braucht - da könnte Zurückhaltung durchaus bei einigen noch angebracht sein. Aber dass die Unternehmen durch das Internet extre-me Verbesserungsmöglichkeiten haben, das ist doch offensichtlich.

Wird sich die Wirtschaft, wie wir sie heute kennen, dadurch grundlegend verändern?

Skiera: Im Bereich Business-to-Consumer gewinnt man zur Zeit eher die Erkenntnis, dass das Internet offensichtlich nur ein weiterer Vertriebskanal ist. Viele Firmen, die bisher ausschließlich im Internet tätig waren, wie Amazon, fangen jetzt an, sich Strategien für die Offline-Welt zu überlegen, denken über Filialen und dergleichen nach. Andererseits ist es so, dass große Banken oder beispielsweise die Lufthansa sagen: Wir werden weiterhin unsere Filialen behalten beziehungsweise über Reisebüros verkaufen und zudem eben über einen weiteren Kanal vertreiben - und der heißt Internet. Ich glaube, wir werden bald sehen, dass reine Internet-Anbieter stärker in die Offline-Welt gehen. Dazu kommt, dass wir im Bereich B2B wesentlich mehr so genannte kollaborative Systeme bekommen werden.

Was genau muss man sich darunter vorstellen?

Skiera: Das heißt, dass die Unternehmen wesentlich enger verzahnt miteinander arbeiten werden. Über das Internet haben sie weitaus leichter die Möglichkeit, Informationen geschickt auszutauschen. Nehmen wir an, wir haben eine Zweier-Situation - Lieferant und Produzent. Dann versuchen Sie, eine Win-win-Situation für beide herzustellen. Wenn Sie die Prognose eines Abnehmers bezüglich der Absatzzahlen kennen und Zulieferer sind, dann können Sie Ihre Produktion besser auf diese Zahlen einstellen. Praktisch könnte man Lagerkosten möglicherweise vermeiden. Das kann in irgendeiner Form auch dem Abnehmer zugute kommen.

Aber das würde erfordern, dass ich meine Interna einem anderen preisgebe. Wer macht das schon?

Skiera: Das ist sicherlich richtig. Die Idee ist charmant, aber dann ist eben die Frage da: "Wie viel bin ich bereit preiszugeben?" Es wird möglicherweise einen Trend geben, Dritte zwischenzuschalten oder intelligente Systeme aufzubauen, um nicht zu viel preiszugeben. Aber alles baut natürlich auf einem Vertrauensverhältnis auf. Ich bin davon überzeugt, dass einige Unternehmen damit anfangen werden, und dann stehen die anderen schlicht und ergreifend unter einem Kostendruck, wenn sie so etwas nicht auch machen. Die Aufgabe besteht darin, das gemeinschaftlich zu lösen.

Wie schätzen Sie die Chancen der virtuellen Marktplätze ein?

Skiera: Ich glaube felsenfest an virtuelle Marktplätze. Die Frage ist nur, wann sie in der Funktionalität vorliegen werden, wie wir sie uns heute vorstellen. Diese Frage muss in der Tat noch beantwortet werden. Aber ich glaube, es ist nahe liegend, dass Sie heute an einem virtuellen Ort Angebot und Nachfrage auf intelligente Weise zusammenbringen.

Derzeit schießen diese Marktplätze wie Pilze aus dem Boden. Wer wird dabei überleben?

Skiera: Auch da kann man jetzt schon absehen, dass nur eine überschaubare Anzahl an Marktplätzen pro eng abgegrenzter Branche übrig bleiben wird. Sie werden auf der ganzen Welt ja auch nur eine bestimmte Anzahl an Börsen haben. Börsen leben von Liquidität, sprich von Angebot und Nachfrage. Je mehr Angebote und Nachfrage die haben, desto attraktiver werden sie. Gleiches gilt für virtuelle Marktplätze: Je größer, desto besser, und die Kehrseite ist eben: Je kleiner, desto schlechter. Deswegen ist klar, dass nur relativ wenige übrig bleiben werden. Um Liquidität auf den Marktplatz zu bekommen, brauchen Sie große Unternehmen, die bereit sind, Ihren Marktplatz zu unterstützen. Wenn Sie eine Deutsche Bank dazu gewinnen können, einen Teil ihres Beschaffungsvolumens über Ihren Marktplatz abzuwickeln, dann haben Sie relativ schnell die Größenordnung von 500 Millionen Mark zusammen. Und das heißt nichts anderes, als dass Sie potentiellen Lieferanten zusichern, dass hier Aufträge im Wert von 500 Millionen Mark zu vergeben sind. Aber die Großen wissen natürlich auch, dass die Liquidität ein entscheidender Erfolgsfaktor ist. Und sie überlegen sich deshalb: Unterstütze ich den Marktplatz von einem anderen - er profitiert letztendlich davon -, oder mache ich einen eigenen auf, weil ich im Grunde genommen ja die Liquidität habe. Technik ist einerseits schön und gut, aber sie ist kein entscheidender Erfolgsfaktor.

PROF. DR. BERND SKIERA

Facts & Figures

Durch die Umstrukturierung des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an der Frankfurter Goethe-Universität entstand zu Beginn des Sommersemesters 1999 der erste Lehrstuhl für Electronic Commerce in Deutschland. Der Lehrstuhl ist als Spezialisierung innerhalb des betriebswirtschaftlichen Studiums integriert. Auf diesen Lehrstuhl wurde der 34jährige ehemalige SAP-Programmierer Prof. Dr. Bernd Skiera berufen. "Dr. E. Kommerz", wie er von seinen Studenten genannt wird, hat nach seinem Studium in Mannheim, Lüneburg und Cordoba (Spanien) in Kiel promoviert und habilitiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Electronic Commerce, der Preispolitik, der Entwicklung von Planungsmodellen und der Außendienststeuerung. Praxis sammelte er bei verschiedenen Beratungsprojekten, seiner dreijährigen Mitarbeit bei der SAP AG und verschiedenen Beiratstätigkeiten in E-Commerce-Unternehmen. Das Angebot der Universität Frankfurt, am ersten Lehrstuhl für Electronic Commerce zu studieren, wurde im abgelaufenen Semester von rund 150 Studenten wahrgenommen. Für seine wissenschaftlichen Leistungen wurde Skiera mehrfach ausgezeichnet. Das von ihm am FAZ-Institut mitherausgegebene Buch "E-Commerce: Einstieg, Strategie und Umsetzung im Unternehmen" erscheint in Kürze in zweiter, aktualisierter Auflage. (mf)

www.ecommerce.wiwi.uni-frankfurt.de

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