"Information lebt in Computern, das Wissen im Menschen"

16.12.1999
PALO ALTO: John Seely Brown ist Corporate Vice President und wissenschaftlicher Leiter von Xerox und Director des Xerox Palo Alto Research Center (Parc). In dieser Rolle führt er Forschungsarbeiten durch, die sich mit der Frage befassen, wie neue Technologien die Weise, in der wir lernen und arbeiten, beeinflussen.

"Wissensmanagement" klingt recht vage und schwer greifbar. Ist das nur ein leeres Schlagwort, oder ist das tatsächlich ein Thema, aus dem wir Nutzen ziehen können?

BROWN: Informationen leben vor allem in Computern, wohingegen Wissen in Menschen lebt. Und während es wichtig ist, Wissen zu verwalten - Fakten, Daten, Dinge, die man in Büchern findet -, liegen 90 Prozent unseres Wissens, die wirklich wertvollen Dinge, im stillschweigenden, das heißt impliziten Wissen. Ein effektives Wissensmanagement ermöglicht es Organisationen, Verbindungen zwischen Menschen aufzubauen, damit sie auf dieses Wissen zugreifen können, wenn sie es benötigen. Stellen Sie sich vor, welche Auswirkungen ein solches Wissensmanagement auf die Regierungsarbeit und die Art haben könnte, in der Regierungsbehörden mit den Bürgern interagieren, in deren Dienst sie stehen.

Einige Fachleute glauben, daß Internet-Portale in Zukunft die Leitsysteme für das Wissensmanagement sein werden. Wie wichtig sind Portale in Zukunft für die Bewertung und Verwaltung von Inhalten im Internet und anderswo?

BROWN: Portale werden nicht nur beim Zugang zu Informationen eine Rolle spielen, sondern auch bei ihrer Bereitstellung. Dies gilt innerhalb wie außerhalb des Internet. Xerox hat zum Beispiel ein Portal namens Flow-Port entwickelt, eine Serversoftware, die die Einspeisung von in Papierform vorliegenden Informationen in den elektronischen Arbeitsablauf vereinfacht. Dafür sind nur zwei Tools erforderlich: Ein einfaches Deckblatt namens Paper-Ware und ein an das Netzwerk angeschlossenes Bürogerät, etwa ein digitaler Kopierer oder Drucker oder ein Internet-Faxgerät. Mit Hilfe einer speziellen, veränderbaren Codierung auf dem Paper-Ware-Formular können Anwender Flow-Port befehlen, das gescannte Dokument zu speichern, zu laden oder zu verteilen - ganz ohne Einsatz eines PCs. Papiergestützte Prozesse werden damit enorm vereinfacht. Das Potenzial von Portalen, die Funktion von Leitsystemen für ein Wissensmanagement zu übernehmen, ist also in keiner Weise auf das Internet beschränkt.

Müssen unsere Schulen, Colleges und Universitäten ihre Rolle ändern, um die entstehende Wissenswirtschaft zu unterstützen? Wenn ja, wie?

BROWN: Die Schulen müssen zunächst ihr Lernkonzept als solches ändern. Unsere Vorstellung davon, wie Lernen funktioniert, basiert auf Descartes "Ich denke, also bin ich", und Pädagogik handelt im wesentlichen davon, jemandem Wissen in den Kopf zu trichtern. Schulen müssen ihr Lernkonzept stärker nach dem Satz "Ich partizipiere, also bin ich" ausrichten und das interaktive und soziale Wesen der Lernerfahrung erkennen. Das bedeutet eine einfache aber radikale Veränderung der Arbeitsweise der meisten Schulen.

Ausbildung ist ein wichtiges Element jeder wissensgestützten Lösung. Dennoch werden die Ausbildungsbudgets häufig als erstes gekürzt. Woher kommt dieser Widerspruch, und wie läßt er sich lösen?

BROWN: Der Widerspruch kommt wahrscheinlich aus der Tatsache, daß die Leute häufig Technologie und Wissensmanagement verwechseln. In Wirklichkeit ist die richtige Technologie ein wertvolles Element des Wissensmanagements, aber man darf das menschliche Element nicht außer acht lassen. Die richtigen Anreize, wie beispielsweise eine ansprechende Lernkultur, sind Beiträge zum Wissensmanagement. Worum es tatsächlich geht, ist die Umwandlung des Arbeitsplatzes in einen Ort des Lernens. Gehört Ausbildung dazu? Natürlich. Aber die richtigen Verfahren am Arbeitsplatz - solche, die Lernen und Arbeit zu einer untrennbaren Einheit machen, anstatt Lernen fest mit formaler Ausbildung zu verknüpfen - sind wahrscheinlich noch wichtiger.

Welche Rolle werden Büchereien künftig spielen?

BROWN: Selbst wenn die Menschen online gehen und haufenweise Informationen in elektronischer Form abrufen können, werden Büchereien auch weiterhin wichtig sein. Warum? Weil, ganz egal wie weit die Entwicklung unserer digitalen Welt geht, Bücher und Papier wichtige Merkmale unserer physischen Welt sind, die nie verschwinden werden. Papier bleibt wichtig, weil es einen Kontext bietet. Wenn Sie eine Zeitung lesen, gibt Ihnen das Papier wichtige Hinweise auf den Inhalt, wenn Sie darauf achten, welche Artikel auf der oberen Blatthälfte stehen, welche Schriftgröße verwendet wird. Online-Zeitungen können diese kontextuellen Hinweise nicht so gut wiedergeben.

Das Fernsehen wird von einigen als "riesige Einöde" bezeichnet. Ist das Internet in Bezug auf die Inhalte besser oder anders als das Fernsehen?

BROWN: Unabhängig davon, was man vom Fernsehen hält, geht die Charakterisierung des Internet als "riesige Einöde" vollkommen an der Sache vorbei. Das Fernsehen ist ein Sendemedium. Das Internet ist ein sehr großes und vielseitiges Zweiwege-Medium, das nicht nur eine unbeschränkte Reichweite, sondern auch einen Austausch bietet. Im Web ist jeder zugleich Produzent und Konsument von Inhalten. Dadurch hat das Internet das Potenzial, neue Gemeinschaften und eine neue Art der Kommunikation zu schaffen.

Was kann man tun, um den Austausch von Wissen und Erfahrungen zwischen unterschiedlichen Einrichtungen, Abteilungen und Ebenen des Regierungsapparats zu verbessern?

BROWN: Ein effektives Wissensmanagement sollte in jedem Unternehmen die natürliche, informelle Zusammenarbeit unter Kollegen imitieren. Wir haben dies bei Xerox in unserem Eureka-Projekt untersucht. Wir haben beobachtet, wie unsere Servicetechniker Informationen austauschen und dann versucht, ein System zu entwickeln, um diesen informellen Informationsaustausch zu formalisieren. Wir stellten fest, daß diese Art von Wissensmanagement auf einem freiwilligen Austausch von Informationen basierte. Das System basiert auf sozialem Kapital, dem Anreiz, Informationen weiterzugeben und zu bekommen. Der Regierungsapparat muß, wie jede Organisation, eine Lernkultur fördern, in der die Menschen spüren, daß die Weitergabe und der Austausch von Informationen eine lohnende und gewinnbringende Tätigkeit ist.

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