Internet als Alltagsdroge

15.04.1999

MÜNCHEN: Suchtgefahr durch exzessives Surfen im Internet klingt wie ein neues Schlagwort der Soziologen. Und dennoch ist dies für viele schon Realität, eine Realität, der sie sich mehr und mehr verschließen. Folgt auf anerkannte Krankheiten wie Kauf- oder Spielsucht bald auch der Begriff der Internetsucht?Netsurfer sind meist jung, überdurchschnittlich gebildet, gut verdienend, technisch interessiert und aus geordneten Verhältnissen. Doch das Bild trügt. Surfen im Internet kann nämlich süchtig machen, so der Psychiater Oliver Seemann, der an der Universitätsklinik München die erste "Online-Ambulanz" eingerichtet hat. Obwohl richtige Abhängigkeiten derzeit noch eher die Ausnahme sind, schätzt Seemann, daß in den nächsten 20 Jahren rund zehn Prozent der Computernutzer schon zu den Suchtgefährdeten gehören könnten. Bei derzeit 42 Millionen Netznutzern weltweit wären es schon 400.000 Menschen, die allmählich zu Webaholics würden.

Körperliche Verfallserscheinungen oder Verwahrlosung wie bei Drogen- oder Alkoholabhängigen gebe es zwar keine, aber entscheidend sei, so Seemann, "die Zwangshandlung". Zwanghaft darauf fiebern, ob eine E-Mail eingetroffen oder wann ein Download beendet ist, kann Seemann zufolge schon der Anfang einer Abhängigkeit sein. Ist die Verbindung zum Netz unterbrochen, stellen sich für viele Betroffene eine innere Leere und Unruhe ein. Weitere Folgen sind Schlafstörungen, Alpträume, Vereinsamung und Partnerschaftsprobleme, Realitätsverluste und Abdriften in eine Phantasiewelt. Nicht zuletzt läßt bei vielen Webaholics aber auch die berufliche oder schulische Leistung nach, da sie beim Surfen jegliches Zeitgefühl verlieren und die Nächte für sie immer länger werden. Von den hohen Zugangskosten ganz zu schweigen. Manch Surfer bringt es auf eine Telefonrechnung von über 1.000 Mark, ohne viel zum Hörer zu greifen.

Christa Merfert-Diete von der Deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahr in Hamm warnt davor, den Suchtbegriff zu inflationieren oder zu banalisieren. Denn sonst würde man am Ende auch Bücherratten als süchtig bezeichnen. Sie sieht in Surfexzessen eher eine klassische Zwangsneurose ähnlich dem Putzfimmel. Aber auch sie weist nicht von der Hand, daß sich die "Spirale dieses Tuns immer enger drehen" und somit in die Abhängigkeit führen kann.

Wann kommt die Antisurfpille?

Seemann denkt indes schon weiter. Er schließt nicht aus, daß in besonders schweren Fällen oder bei Suizidgefahr tiefenpsychologische Ansätze sowie die Verabreichung von Medikamenten nötig würden. Da es in Deutschland bisher aber noch keine Surfsucht gegeben hat, die zu körperlicher Selbstzerstörung führte, sind Computerhersteller vorerst davor gefeit, ihren Produkten einen Warnhinweis beizulegen, der da lautet "Surfen gefährdet Ihre Gesundheit". (kh)

Das Internet soll Menschen in aller Welt zusammenführen. Dennoch gibt es eine wachsende Zahl von Surfern, die vereinsamen, weil sie sich zuviel im Web aufhalten.

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