IT-Aktien am Neuen Markt auf Achterbahnfahrt

12.07.2001
Im Juni näherten sich die Kurse wieder ihren Tiefständen. Die Gefahr, dass sie unter dieses Niveau abgleiten, sei gering, behaupten Bankanalysten.

Wer den Neuen Markt ganz abschreibt, vergibt die Renditechancen von morgen. Dieser "fromme Wunsch" wird den meisten Neuer-Markt-Aktionären sauer aufstoßen. Denn seit März vorigen Jahres betragen die Kursverluste im Schnitt mehr als 80 Prozent. Jetzt meint die schweizerisch-britische Investment- bank CSFB jedoch, einzelne Werte werden weiter enttäuschen, aber das Schlimmste sollte überstanden sein. Nach scharfen Korrekturen scheinen die Ergebnisprognosen der Realität näher zu kommen. Zumindest hielten sich die bösen Überraschungen für das erste Quartal dieses Jahres im Vergleich zu früher in Grenzen. Die aggres-siven US-Zinssenkungen machen Anlegern Hoffnung. Jedoch ist Vorsicht geboten: Ertrags- und Umsatzaussichten der einzelnen IT-Segmente sind sehr unterschiedlich.

Situation 2002 noch unklar

Die meisten Analysten erwarten tendenziell bessere Ergebnisse. Die Gewinnsituation für 2002 ist jedoch schwer zu prognostizieren. Im September ist eher abzusehen, wie es im nächsten Jahr tatsächlich wird. Dann ist auch klarer, wie stark die Zinssenkungen wirken. Aus diesem Grund hat zum Beispiel Sun Micro "noch keinen einzigen Server mehr verkauft", meint das US-Investmenthaus Prudential Financial. Strittig ist, ob die Konjunktursorgen die Kurse bereits beeinflussen. Bei anhaltender wirtschaftlicher Talfahrt könnten einige Unternehmen noch mehr Probleme als bisher bekommen. Der Software- und Internetbereich gilt als besonders wacklig. Softwarehäuser warnen am häufigs-ten, haben verschiedene Studien herausgefunden. Und als Frühindikator dafür sei ein Vorstandswechsel anzusehen.

Auf Basis der aktuellen Konsensprognosen (rechnerischer Mittelwert der Analystenprognosen von Banken und Brokern) ist die diesjährige Ertragslage der jungen IT-Unternehmen überwiegend dürftig. Die Mehrzahl der Gesell- schaften wird 2001 im Minus oder nur ganz knapp im Plus abschließen. Am schlechtesten erscheint die Situation im Sektor Netzinfrastruktur/Internet-Software und -Services, der zum Beispiel ehemals Prominente wie Adva, Bintec, Intershop, Poet, Datadesign, Brokat, Integra, T-Online, Freenet und Multimedia-Agenturen enthält. Articon Integralis, IDS Scheer und Orbis beispielsweise sollen positive Ergebnisse präsentieren. In anderen Softwaresegmenten ist gegenüber dem Vorjahr zwar eine leichte Besserung zu beobachten. Die Gewinnvorhersagen wirken insgesamt jedoch ein wenig unsicher. Ein eher noch unklares Bild bieten vorläufig ERP-Spezialisten wie Infor, Brain oder SAP SI. Etwas besser, aber dennoch unbeständig ist die Lage bei der Grafiksoftware (Mb Soft, Graphisoft, Nemetschek) und im Dokumenten-Management (Ixos, SER Systeme, Easy Soft, Ceyoniq (früher CE Equipment). Durchwachsen trotz günstiger Perspektiven erscheint die Situation in den Segmenten IT-Sicherheit (Biodata, Norcom, Secunet, Utimaco) und Finanzsoftware. Hohe Zuwachsraten beim Umsatz und Ertrag sind keineswegs selbstverständlich. Jedoch begünstigt das niedrige Ausgangsniveau die Kalkulation. Stabiler tendieren die Bereiche Hardware/Systemhäuser, Chips und Distribution. Hier überwiegen bei den voraussichtlichen Ergebnissen die Pluszeichen. Dazu gehören beispielsweise Bechtle, Cenit, Kontron, Maxdata, Teleplan, Computerlinks, MSH International, IPC Archtec, Lintec, MuM, PC-Spezialist und Integrata Training sowie die Smartcard-Fabrikanten Mühlbauer und Winter. Mit konkreten Hinweisen geht die Branche derzeit aber sehr vorsichtig um. Am ehesten finden Sonderaspekte Beachtung. Jedoch ist den Profis der jeweilige Sachverhalt meist schon länger bekannt, und die Aktien notieren recht teuer. Die Verabschiedung der Rentenreform hat zum Beispiel den Softwareherstellern COR Insurance und FJA Aufträge beschert. Bei FJA blieben Aktionäre bislang von verfehlten Planzahlen und Managementquerelen verschont. Auch CPU und NSE gehören zu der Sparte Finanzsoftware, sie hatten allerdings mehrmals schwer enttäuscht. Die Banken und Versicherungen als Anbieter der privaten Altersvorsorge müssen ihre Datenverarbeitung auf die neuen Anforderungen umstellen, der Verwaltungsaufwand allein ist schon erheblich. Der Sektor Telekommunikation könnte von der geplanten Kooperation im UMTS-Bereich profitieren. Die Regulierungsbehörde hat sich zustimmend geäußert. UMTS-Lizenznehmer wollen beim Bau und Betrieb der Netze zusammenarbeiten, um Kosten zu sparen, was zum Beispiel Mobilcom gut bekäme.

Vorsicht bei Billigpapieren

Gefährlich ist die Spekulation mit Billigpapieren (die unter zwei oder einem Euro notieren) am Neuen Markt, solange keine substanzielle Besserung eintritt. Der Fachjargon bezeichnet dies als "Lottoschein-Effekt". Die Leute träumen davon, mit ihrem Einsatz den Hauptgewinn zu machen. Dabei werden die Chancen überschätzt. Viele abgestürzte IT-Aktien kommen nicht mehr richtig auf die Beine, wie zahlreiche Beispiel an den US-Börsen zeigen.

Bewertungen wie vor einem Jahr, die fast ausschließlich auf enthusiastischen und irrationalen Wachs- tumsspekulationen beruht hatten, sind Geschichte. Alle Experten glauben, eine "dynamische Rückkehr" sei ausgeschlosssen, da das Vertrauen der Anleger zu stark erschüttert worden sei. Die Geldinstitute haben ihre Vorhersagen korrigiert. Zurzeit werden - immer noch optimistische - Ziele von 2.600 bis 3.800 Punkten im Nemax All Share genannt. Mitte Juni notierte der Index knapp unter 1.600 Punkten. (kk)

Zur Startseite