Keine Angst vor der 42-Stunden-Woche

03.07.1997
MÜNCHEN: In der deutschen Wirtschaft wird seit Jahrzehnten der Abbau der Wochenarbeitszeit realisiert. Dagegen stehen heute der Wettbewerbsdruck und die leidige

MÜNCHEN: In der deutschen Wirtschaft wird seit Jahrzehnten der Abbau der Wochenarbeitszeit realisiert. Dagegen stehen heute der Wettbewerbsdruck und die leidige

Problematik der ständig geleisteten Überstunden. Der Trend geht somit wieder häufiger in Richtung Arbeitszeiterhöhung und Modellierung attraktiver Arbeitszeit-Typen. Wie diese den sozialen Bedürfnissen ebenso Rechnung tragen wie den unternehmerischen Forderungen erläutert Stefan Rohr*.

Noch vor wenigen Jahren wurde diskutiert ob denn die Sechs-Tage-Woche nicht um einen Tag gekürzt werden sollte. Als dieses durchgesetzt war, begann sogleich der Run auf die schrittweise Verkürzung der Wochenarbeitszeit, der - nach dem Wunsche so mancher Gewerkschaft - noch lange nicht bei der 35-Stunden-Woche beendet sein soll. Begleitet wird dieser Dauerbrenner gewerkschaftlicher Sozialverfechtung mit stets steigenden Urlaubskontingenten und der unumgänglichen Konsequenz bezahlter Mehrarbeitsleistungen, schlicht der Überstunden.

Da ist schon eine ziemliche Inkonsistenz zu bemerken. Einerseits wird die Zeitschraube ständig nach unten gedreht, andererseits wird akzeptiert, daß die noch verbleibende Arbeitszeit kaum dazu geeignet ist, daß Maß der Arbeit in der nunmehr verbleibenden Zeit zu erfüllen. Es müssen also Überstunden her. Allerdings wird die Verkürzung von Arbeitszeiten stets mit der Forderung des

hundertprozentigen Lohnausgleiches verknüpft, was nichts anderes bedeutet, als "gleiches Geld für weniger Arbeit". Überstunden werden natürlich on-top bezahlt, was wiederum nichts anderes heißt, als für die ursprünglich gleiche Arbeit schlußendlich auch noch mehr Geld zu bekommen. Da Überstunden zudem mit saftigen Zuschlägen ausbezahlt werden müssen, grenzt in vielen Unternehmen derlei Vorgehensweise an planerischen Raub. Wer da noch von Ausbeutung der Arbeitnehmerschichten spricht, versteht wohl kaum die eigentlichen Zusammenhänge und Auswirkungen am Arbeitsmarkt.

Überstunden sind billiger als neue Mitarbeiter

Der Abbau von Mehrarbeitsleistungen (Überstunden) zugunsten neuer Arbeitsstellen ist ein von den Gewerkschaften gern ausprobiertes Patentrezept, eine Hilfestellung zur gegenwärtigen Arbeitsmarktpolitik zu geben. Es bleibt jedoch eine der sogenannten Milchmädchenrechnungen, da die bezahlte Überstunde betriebswirtschaftlich noch eher zu verdauen ist, als entsprechend viele neue Mitarbeiter einzustellen, die mit ihren sozialen Besitzständen natürlich weitaus teurer sind, als es die Argumentation und Pennälerlogik der Befürworter solcher Umschichtungen offenlegen.

Der Trend zeigt zudem in eine völlig andere Richtung. Dieser geht - man merke und staune - in Erhöhung der Arbeitszeiten auf mindestens 40 Stunden per Woche. Der Grund dafür steckt noch viel tiefer, als es in der vorangegangenen Einführung zu Tage getreten ist. Die hier immer häufiger verlangte Arbeitszeiterhöhung wird von den Betreibern als Normalisierungsprozeß angesehen und steht vor allem für die Sicherung der aktuell vorhandenen Arbeitsplätze. Diese befinden sich nämlich in vielen Unternehmen - insbesondere in der IT-Branche - in unmittelbarer Gefahr, sofern eher der Zeitabbau als der Arbeitszeitzuwachs verfolgt wird. Schon mit den branchenüblichen 38 Stunden je Woche kann in vielen Unternehmen kaum noch wettbewerbsfähig - und dabei werden natürlich besonders die europäischen Wettbewerber zu betrachten sein - agiert werden. Der Kostendruck aus den fortschreitenden Preissteigerungen und die zum Teil rabiaten Verhandlungstaktiken der Kunden, Käufer und Abnehmer von Produkten und Dienstleistungen gaukeln dem Verbraucher in augenwischender Weise einen fortschreitenden Preisverfall vor (was vorübergehend auch das Konsumverhalten anregt). Die in unserem Lande jedoch vorherrschenden Grundlagen innerhalb der Lohn- und Gehaltsgesetzgebung strangulieren langsam, aber stetig den betriebswirtschaftlich verantwortlichen Unternehmer. Da der Schritt zur Lohnreduzierung in vielen Unternehmen kaum realisierbar erscheint, fallen automatisch Arbeitsplätze weg. Das verbleibende Maß an Arbeit muß nun anders verteilt werden. Mehrarbeit oder Auslagerung (gegebenenfalls in Billiglohnländer) oder die Beauftragung kostengünstigerer Subunternehmer sind dann die Folge.

Dieses Beispiel zeigt sicherlich sehr eindeutig die "Schraube", in der sich die Wirtschaft in vielen Bereichen befindet. Die Forderungen nach immer weiteren Arbeitszeitminimierungen ist daher schon recht abenteuerlich und zeigt ein hohes Maß an Ignoranz, fehlgeleiteter Dogmatik und Infantilität auf.

Dem immer deutlicher anwachsenden Trend der Arbeitnehmer, den Anteil der Freizeit und der Freizeitgestaltung attraktiv auszuweiten, diesem Trend, der gern auch als Wertewandel in der Arbeitswelt verstanden wird, kann nicht allein durch verantwortungslose und blinde Minimierungspolitik begegnet werden. "Est modus in rebus" (Alles hat sein Maß). Ein weiterer Abbau von Arbeitszeiten kann deshalb kaum noch ernsthaft gefordert werden.

Viele Experten haben sich deshalb zur Aufgabe gemacht, diese Problematik durch geschickte Zeitmanagementvarianten zu lösen. Da wurde vor vielen Jahren die Gleitzeit erfunden. Im Gespräch war der Verzicht auf Kernzeiten. Vor kurzer Zeit kam die Philosophie der Jahresarbeitszeit auf. Heute sprechen wir gern von der Lebensarbeitszeit. Alle Modelle fanden ihre Freunde und wurden mehr oder weniger breit in der deutschen Wirtschaft implementiert.

Gepaart sind die jeweiligen Modelle oft mit der Vereinbarung einer Teilzeit, in manchen Unternehmen mit der Möglichkeit der Kurzarbeit, in anderen wiederum mit dem Angebot, die Wochenarbeitszeit in vier Tagen zu erwirtschaften und so mehr subjektiv empfundene Freizeit zu generieren. Dem Strudel der immer rapider steigenden Arbeitslosigkeit jedoch konnte allgemein nicht entgegengewirkt werden.

Dieses hat auch seinen guten Grund. Durch Verschiebungen allein kann nur bedingt eine Produktivitätssteigerung erzielt werden. Die Unternehmen werden dieses Maß der Produktivitätssteigerung jedoch nicht in neue Arbeitsplätze umsetzen, sondern den möglicherweise erwirtschafteten Gewinn als Ausgleich für viele Investitionen verstehen und somit in die Schublade der Amortisation stecken.

Arbeitszeiten an die Marktsituation anpassen

Es muß deshalb erkannt werden, daß es in den Unternehmen eine Umkehr geben muß: den Schritt zur Normalisierung und Anpassung der Arbeitszeiten an die Unternehmenssituation, Marktbedürfnisse und Einflüsse aus dem bevorstehenden EU-weiten Wettbewerb.

Dieser Schritt muß natürlich möglichst sozialverträglich erfolgen. Allein die Wochenarbeitszeit auf 40 oder 42 Stunden zu erhöhen, wird kaum - dazu vielleicht auch noch isoliert - in einem Unternehmen zur Produktivitätssteigerung führen.

Es muß daher den vielschichtigen Interessen, sozialen Umständen und den subjektiv empfundenen Werten der Mitarbeiter Rechnung getragen werden. Dieses kann durch die Entwicklung und Implementierung von verschiedenen Arbeitszeit-Typen erfolgen. Jeder dieser Arbeitszeit-Typen hat eine definierte Wochenarbeitszeit und einen anhängigen Katalog, der die Regeln für bestimmte Zeitmanagement- und Gehaltsbedingungen festlegt. So werden "Typen" entwickelt, die alle anfallenden Mehrarbeitszeiten ausschließlich durch Zeitausgleich abwickeln können. Andere zum Beispiel können wiederum keinerlei Mehrarbeitszeiten über den Monat hinweg ansparen. Es können Typen vereinbart werden, die bereits mit ihrem "neuen" Gehalt sämtliche Überstunden pauschal bezahlt bekommen oder ihre Überstunden kumulieren können, um diese für Brückentage oder den Betriebsurlaub zu verwenden.

Die verschiedenen Arbeitszeit-Typen haben verschiedene Wochenarbeitszeiten vereinbart. Diese erstrecken sich von einer 42-Stunden-Woche bis hin zu Teilzeitvereinbarungen, die nach Absprache durch Vorleistungen oder durch Gehaltskürzungen etwa für den Vaterschaftsurlaub oder die geplante Weltreise abgestimmt werden können. Ein Mengengerüst stellt dabei sicher, daß die Funktionalität im Unternehmen gewährleistet bleibt. So kann zum Beispiel vereinbart werden, daß sich mindestens 60 Prozent der Belegschaft in der Gruppe des "40-Stunden-Arbeitszeit-Typen" befinden. Die restlichen 40 Prozent erhalten die Möglichkeit, zeitbegrenzt andere Arbeitszeit-Typen innezuhalten.

Erhöhte Arbeitszeiten treffen nicht alle Mitarbeiter

Die Erhöhung von Arbeitszeiten trifft somit nicht alle in der Belegschaft. Die Mitarbeiter können zudem ein Stück weit mitentscheiden, zu welcher Gruppe der Arbeitszeit-Typen sie gehören möchten. Arbeitszeit wird zu einer individuellen und persönlichen Bewertung, die sich an den privaten und sozialen Umständen des Einzelnen ausrichten läßt. Die "Jungen" und "Aufstrebenden" werden in der Lage sein, im Unternehmen die machbare Leistung ohne knebelnde Allgemeinrichtlinien einzubringen. Der Familienvater, der gerade ein Haus gebaut hat, erhält die Möglichkeit, sein Einkommen durch einen zeitweise veränderten Arbeitszeit-Typus (zum Beispiel durch die 42-Stunden-Woche) attraktiv zu erhöhen und seine Finanzierung damit zu optimieren. Vorruhestandsregelungen werden besser zu erzielen sein, wenn ein älterer Mitarbeiter nur noch 30 Stunden arbeiten möchte. Ein Mitarbeiter, der sich nebenbei qualifiziert (Studium, Abendschule etc.) kann dieses leichter und sozialverträglicher bewerkstelligen.

Diese wenigen Beispiele zeigen, daß sich wirtschaftliche Notwendigkeiten, unternehmerische Interessen und die individuellen Bedürfnisse bei der Gestaltung und Veränderung von Arbeitszeitmodellen durchaus verträglich, ergänzend und optimierend zusammenbringen lassen. Jedes Unternehmen wird dabei seine individuellen Notwendigkeiten abzugrenzen haben. Der Weg, die in manchem Unternehmen unumgängliche Arbeitszeiterhöhung zu realisieren, ist durch phantasievolle und mutige Modellierung so erheblich bequemer zu beschreiten.

* Stefan Rohr ist geschäftsführender Gesellschafter der r&p management consulting Hamburg/Düsseldorf/Frankfurt

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