Kommentar

09.03.1998

Die Prognosen waren fast zu gut, um wahr zu sein: Die Hälfte aller Software sollte ab dem Jahr 2000 elektronisch über das Internet vertrieben werden. Die Aufregung unter den Softwareanbietern war groß, keiner wollte den Zug verpassen, jeder machte sich sofort daran, ein Projekt "Elektronische Software Distribution" (ESD) ins Leben zu rufen. Die Vorteile für Anbieter liegen auf der Hand: niedrigere Produktions-, Distributions- und Lagerkosten sowie eine bessere Kundenregistrierung. Neue Märkte über einen neuen Kanal erschließen, Marktanteile gewinnen, Umsatz vergrößern: So lauten die Ziele, die sie mit dem elektronischen Vertrieb verfolgen.Ihren Vertriebspartnern wollen die Anbieter das Modell mit dem Argument schmackhaft machen, daß sie keine Softwareboxen mehr auf Lager legen müssen und außerdem noch spielend leicht ihr Sortiment verbreitern können. Der Handel, betonte etwa der damalige Microsoft-Geschäftsführer Rudolf Gallist auf dem Wiesbadener Softwareforum in vergangenen Jahr, könne sich durch ESD auf seine eigentliche Aufgabe, Endkundenmarketing zu betreiben, konzentrieren.

Und dem Endkunden garantiert der digitale Vertriebsweg im Idealfall bequemeres Einkaufen, keine Lieferzeiten und am wichtigsten natürlich: den besten Preis.

Die Rechnung wurde - wie so oft - ohne den Wirt gemacht. Die Kunden wollen sich einfach nicht an das halten, was die Marktforscher so forsch voraussagen. Einmal abgesehen von den Bedenken, ob denn der Kauf mit der Kreditkarte über das Netz sicher sei, sind ihnen die Download-Zeiten für die Programme einfach zu lang. Warum kostbare Zeit vor dem PC verbringen und den Telefongesellschaften Geld in den Rachen werfen, wenn eine CD-Rom oder Diskette schon am nächsten Tag geliefert werden kann? Und dann besitzen sie wenigstens ein Produkt zum Anfassen und ein Handbuch. Der Anwender sieht offensichtlich noch nicht den Nutzen des digitalen Softwareeinkaufs.

Inzwischen hat sich auch unter den Anbietern herumgesprochen, daß die Prognose (siehe oben) wohl keine Realität werden wird. Jetzt klingen die Aussagen vorsichtiger: Der Softwarevertrieb über das Internet wird den herkömmlichen nur ergänzen, nicht ablösen. Konkrete Umsatzzahlen will keiner mehr so recht nennen, von Prognosen ganz zu schweigen. Nur nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, lautet die Devise. Die Schätzungen für den Umsatz mit elektronischer Softwaredistribution im vergangenen Jahr liegen zwischen 350 und 700 Millionen Dollar. Nur für wenige Händler wie für die Karlsruher Asknet GmbH ist das Geschäft profitabel (siehe Artikel Seite 58). Aber auch nur deshalb, weil Asknet auf die technische Infrastruktur der Universität zurückgreifen kann und deswegen nicht die Anfangsinvestitionen hatte, die andere Fachhändler auf sich nehmen müßten.

Welche Rolle die Distributoren bei der elektronischen Softwaredistribution spielen, ist ebenfalls ungewiß. Sollen sie die Funktion des Lizenz-Clearing-house übernehmen?

Bereits im vergangenen Jahr zeigte sich Norbert Dippold, Geschäftsführer der Münchener Corporate Software & Technology, skeptisch gegenüber ESD: "Diese Vertriebsform wird sich bei weitem nicht so schnell durchsetzen, wie manche sich das offenbar vorstellen." Rückblickend bleibt nur zu sagen: Wie wahr! Ingrid Schutzmann

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