Kommentar

18.06.1998

Immer wieder sagen uns die Marktauguren den Paradigmenwechsel voraus: Der schwerfällige PC mit seinen Monsterprogrammen wird abgelöst vom handlichen Network Computer (NC), auf dem nur noch leichte Java-Applets laufen. Doch bisher ist davon nichts zu sehen. Entweder können Hersteller wie Sun oder IBM die nötige Hardware nicht bereitstellen, oder es fehlt an Java-Programmen.Zumindest bei der Software tut sich etwas: Java-Programmierer werden derzeit händeringend - und meist erfolglos - gesucht. Und erste sogenannte "100prozentig reine" kommerzielle Java-Programme gibt es auf dem Markt. Viele Hoffnungen wurden vor allem in die Verfügbarkeit von plattformunabhängigen Server-basierenden Office-Paketen gesetzt. Nun sind sie da (siehe Seite 24), und keiner will sie. Warum?

Offenbar ist der Leidensdruck auf Seiten der Anwender noch nicht groß genug. Sie wollen nach wie vor ihre Texte und Tabellen auf ihrer eigenen Festplatte archivieren, auf den Gedanken, diese Dateien gar auf den Server ihres Internet-Service-Providers zu schicken, kämen wohl die wenigsten. Aber auch den Unternehmen erschließt sich die Notwendigkeit eines zentral zu verwaltenden Office-Pakets nicht. Dokumente können auch ohne Java von mehreren Anwendern bearbeitet werden, ein intelligentes Workflow-Konzept vorausgesetzt.

So wundert es nicht, daß viele Softwarehersteller, sei es Oracle oder Corel, mit ihren Java-Office-Suites Schiffbruch erlitten haben. Ihre Nachfolger, Lotus und Applix, argumentieren nun, daß es mit der Verfügbarkeit von NCs sogleich aufwärts gehen wird. Doch diese Begründung hinkt gewaltig, denn für Java-Applets brauche ich keinen NC. Jeder einigermaßen mit Arbeitsspeicher ausgerüstete PC kommt hierfür genauso gut in Frage. Das viel strapazierte Argument der Total Cost of Ownership (TCO) zieht hier ebenfalls nicht, denn auch PC-Netzwerke lassen sich kostengünstig betreiben, sofern die Anfangsinvestitionen gut überlegt sind und das weitere Management von Profis gestaltet wird. So ist es relativ unwahrscheinlich, daß - wie von den Herstellern vorhergesagt - bereits dieses Jahr der NC-Boom ausbricht. Denn nur in diesem Fall würde eine verstärkte Nachfrage nach Java-Programmen einsetzen, und der Fachhandel wäre gefragt.

Eher denkbar ist folgendes Szenario: Java kehrt zurück zur seinen Ursprüngen. Wurde doch diese plattformunabhängige Programmiersprache speziell für TV-Set-top-Boxen entwickelt. Hier und woanders gibt es sicherlich noch ein großes Potential an kleinen, vom Netz zu ladenden Anwendungen: Video-on-demand, Pay-per-view oder Web-Telefon.

Ronald Wiltscheck

Zur Startseite