Lean-Management

10.01.1998

MÜNCHEN: "Lean" ist in. Alle Welt spricht von Lean-Management, Lean-production, Lean-office, Lean-responsibility, Lean-working und so fort. Über Sinn und Unsinn der Lean-Welle ein Beitrag von Stefan Rohr*.Findige Marketingexperten namhafter Consultinghäuser haben eine wichtige Hauptaufgabe: das Erfinden von neuen Main-streams und die Suche nach einem geeigneten diesbezüglichen Schlagwort. So wird nicht selten alter Wein in neue Schläuche gegossen und mit selbsternannten "Gurus" kunstvoll verkauft. Jeder Manager, der hier nicht mitmacht, hat bewiesen, daß er weder flexibel noch innovativ denken kann.

Derlei Beispiele gibt es mannigfach. Und jeder Leser wird selbst schnell auf entsprechende Begriffe und Modetrends kommen, die ihm vielleicht noch sauer auf dem Magen liegen, so daß er sich eigentlich eher wünscht, er würde nie diesen "Kongreß" besucht oder dieses "Fachbuch" gelesen haben.

Einer der prägnantesten und vermeintlichen Main-streams ist die Lean-Welle (gewesen), die in unzähligen Unternehmen und Organisationen Einzug gehalten und viel Unheil angerichtet hat. Sie wurde (und wird zum Teil immer noch) als Allheilmittel für Unternehmen verstanden, die sich mit dem Begriff der "Restrukturierung" nicht mehr abgeben möchten, da diese in vielen Köpfen anmutet wie ein viel zu lange gekautes Kaugummi.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Der Zwang, vorhandene organisatorische und personelle "Wasserköpfe" abzuspecken (in Überführung des Begriffes "Lean" sprechen Sprachbewußte auch gerne von "Verschlankung", einem Wort, das in keinem Duden zu finden ist), ist zwar ein enorm wichtiger Prozeß, allerdings ist es schon seit Anbeginn betriebswirtschaftlicher und organisatorischer Selbstbetrachtungen üblich gewesen, ab und zu einmal zu prüfen, ob nicht eine "Abmagerungskur" not tue und betriebswirtschaftliche Optimierungen einbringe.

Spätestens seitdem auch das Management begriffen hat, daß Personalkosten (insbesondere in unserem Lande) nicht in den Himmel wachsen dürfen, gibt es handfeste Aktivitäten und Bestrebungen, an dieser Stelle zu reorganisieren. Auf solche Weise entstanden sogar marktanerkannte Organisationsstandards und Spezialisten, die sich in derlei Prozessen und "Techniken" auskannten. Hierbei denke man allein an den Fachbegriff "REFA", den es schließlich nicht erst gibt, seitdem das Spukgespenst Lean in den Wirtschaftsgazetten herumgeistert.

Verantwortung an die richtige Stelle

Natürlich ist Lean auch eine Philosophie. Lean-Management meint selbstverständlich mehr als "nur" ein Zurück zum Wesentlichen und Notwendigen. Im Rahmen des wirtschaftlichen Feudalismus haben sich in den vielen Jahren vor der Lean-Ära eine ganze Reihe von Unternehmen so viel Management-Speck angefressen, so weit gefächerte Verantwortungsstrukturen aufgebaut und so immens intransparente Ablaufprozesse gesponnen, daß man schon mit einem philosophischen Ansatz kommen mußte, um eine Rückbesinnung zu initiieren. "Lean" bedeutet unter anderem, daß die Verantwortungen auf die Ebenen (zurück)verlagert werden müssen, wo sie tatsächlich auch hingehören. Transparenz und klare Verantwortlichkeiten, möglichst in dem Rahmen, der seitens der Arbeitsprozesse sinnreich ist, ist sowohl philosophisch zu begründen als auch betriebswirtschaftlich und personalstrategisch.

Allerdings, und das ist die Crux an derlei Main-streams, wird der reinen Lehre nicht immer auf die gewünschte Weise gefolgt. Mißbrauch und unzulässige Interpretationen sind viel eher an der Tagesordnung und lassen manch guten Ansatz, den es zweifellos in nahezu jeder Optimierungsphilosophie gibt, verkümmern. Mit dem Lean-Argument ist eine Köpfungswelle ausgebrochen, die in den vergangenen Jahren, vornehmlich seit zirka 1992, vielen Managern und Führungskräften der mittleren Ebene das Aus eingebracht hat. Gepaart mit der schizophrenen Ideologie, daß jeder Mitarbeiter, der eine "5" vor seiner Lebensalterszahl trägt, unmittelbar in das nächstgelegene Altersheim verbracht werden müsse, entstand mit großer Wucht eine neuartige Schädigung an der Volkswirtschaft und eine Woge traumatischer Schicksalsschläge auf individueller Ebene.

Reduzierung der Management-Ebenen

Viele Vorstände und Geschäftsleitungen beauftragten ihr nachgeordnetes Management, eine Lean-Analyse durchzuführen und dabei das (vorbestimmte) Ergebnis zu produzieren, daß mindestens ein bis zwei Managementebenen überflüssig und flugs zu eliminieren seien. Nicht selten traf es dabei diejenigen, die derlei Analysen selbst durchgeführt und verantwortet hatten. Die so entstandenen Lücken wurden dadurch gestopft, daß die nachgeordneten Führungsebenen die Verantwortungen (zusätzlich) übernehmen mußten. Folglich wurde Verantwortung gesplittet und sauber nach "unten" durchgereicht. Leider haben viele der Vordenker und Optimierer vergessen, daß jede Kette ein Ende hat. Dünnt man eine Verantwortungsorganisation aus, bleibt nichts weiter übrig, als irgendwo in der Nachfolge die Zuständigkeiten und Verpflichtungen neu zu verankern - oder diese einfach wegfallen zu lassen. Letzteres geht natürlich nicht, das ist jedem klar.

Clevere Experten konnten allerdings, dies bis zum heutigen Tage, eine Lösung anbieten: die Fachführungsebene. Das Organigramm zeigt nun erheblich weniger Management-Köpfe auf. Zentralisierungen, Verantwortungsunionen und vieles mehr lassen die Herzen von Vorständen und Geschäftsführern höher schlagen, und alle freuen sich, daß man im eigenen Unternehmen den Begriff "Lean" richtig kapiert und umgesetzt hat. Ziel erreicht.

Zwitterstellung "Fachführungsebene"

Das sieht dann so aus: Wie bei einem Körper, dessen Knochen - mit besten Absichten - zerschlagen worden sind, sackt alles nach unten. Oben entstehen auf diese Weise ziemlich leere und dünnhäutige Hüllen, unten drängt sich die Masse, ähnlich einem mit Wasser gefüllten Luftballon.

Die Fachführungsebene, die wirklich Sinn und Wirkung aufweist, ist nun leider ad absurdum geführt. Die so benötigten Mehrzahlen an Fachführungskräften bilden eine unangemessen große Masse an Zwitter-Chefs, die einerseits keine offiziellen Disziplinargewalten innehalten, andererseits jedoch die freigewordenen Verantwortungen zu gewährleisten und durchzusetzen haben.

Das "Oben" eingesparte Gehaltsvolumen wird "Unten" nicht nur verbraucht, in den meisten Fällen sogar weit überschritten. Die übrig gebliebenen (echten) Manager haben nun anstelle einer klar strukturierten und verantwortlichen Führungsebene ein undurchsichtiges Konglomerat an Willigen, jedoch leider nicht Legitimierten, die es zu führen und zu organisieren gilt. Eine völlig neuartige Problemstellung, der in unangenehm vielen Unternehmen heutzutage begegnet werden muß.

Die so in Stolz gekrönten Fachführungskräfte blicken nach "Oben" und stellen sich die Frage, was sie in diesem Unternehmen, innerhalb dieser Organisation, eigentlich karrieremäßig noch erreichen können. Bei gerade erfolgtem "Verschlankungsprozeß" sind vornehmlich diejenigen abgebaut worden, die tragischer Weise ein höheres Lebensalter aufzuweisen hatten. Die Managementriege ist demnach jung und sieht einem noch möglichst langen Verbleib im Unternehmen entgegen (in anderen Unternehmen gibt es entsprechend weniger Karrierechancen, die haben sich ja auch kürzlich der Lean-Welle ergeben). Den zahlreichen Fachführungskräften steht also eine unverhältnismäßig kleine Zahl von Aufstiegschancen gegenüber. Das schafft spontan und nachhaltig höchste Unzufriedenheiten, Abwanderungsgedanken und eine Fluktuation, die dem Unternehmen selbst, als auch dem Markt, viele unangenehme und zum Teil gravierend unwirtschaftliche Probleme einbringt.

Am Ende heisst es: "Volle Kraft zurück!"

Wird dieser Konterschluß dann endlich vom Unternehmen erkannt, ist der Ruf nach kompetenten Managementberatern schnell getätigt. Es wird nun die Laufbahnplanung, die Personalentwicklungskonzeption, die Führungsstruktur und die Bedarfsanalyse durchgesetzt. Das Ergebnis ist nicht selten die Organisationsform, die es vor dem Lean-Geschehen im Unternehmen gegeben hat, sicherlich mit der einen oder anderen Optimierung und Anpassung an die gegenwärtige Unternehmens- und Marktentwicklung.

Etwas platter ausgedrückt, kann durchaus von "rein in die Kartoffeln" und "raus aus den Kartoffeln" gesprochen werden. Viel Geld ist dabei ausgegeben, und viele wirtschaftliche Negativkonsequenzen sind durchlebt worden. Immerhin kann das Management behaupten,

es sei flexibel und innovativ dem Main-stream gefolgt und habe nichts unversucht gelassen, die wirtschaftliche Situation des Unternehmens zu optimieren. Schließlich gab und gibt es atemberaubende Beispiele für die Funktionalität und Wirtschaftlichkeit dererlei Prozesse: Einer der weltweit größten Sportartikelhersteller ist immerhin eines der "leansten" Unternehmen überhaupt. Die Kernmannschaft weist nur wenig mehr als 100 Mitarbeiter auf, alles andere ist "verleant" und "outgegliedert". Klar kann das als ein Traumbeispiel herangezogen werden - ich frage mich nur, als Beispiel für was?

*Stefan Rohr ist geschäftsführender Gesellschafter der r & p management consulting Hamburg/Düsseldorf/ Frankfurt/Speyer/Hannover/München/ Zug(CH)

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