Mit freundlichen Grüßen...

14.11.2002

Vobis AG

Vorstand

Herrn Dr. Jürgen Rakow

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52068 Aachen

Chefredaktion

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München, 11.11.2002

Lob den Bedenkenträgern

Sehr geehrter Herr Dr. Rakow,

wenn der Bundeskanzler die wichtigste Person im Staat ist, wer ist dann die zweitwichtigste? Der Vizekanzler? Der Bundespräsident? Der Wirtschaftsminister? Oder vielleicht sogar die Frau des Bundeskanzlers? Ich sage, die nach dem Bundeskanzler wichtigste Person ist der Oppositionsführer. Zum einen weil der Oppositionsführer die Personifizierung der demokratischen Staatsform ist (in Diktaturen gibt es keine offizielle beziehungsweise funktionierende Opposition), zum anderen aber auch, weil der Oppositionsführer der größte Kritiker des Kanzlers und der Regierung ist. Der Oppositionsführer ist quasi von Amts wegen der oberste Bedenkenträger der Nation. Denn er hat aus Prinzip Bedenken, dass das, was der Kanzler und sein Kabinett beschließen, zum Wohle des Volkes ist.

In den Unternehmen ist es nicht viel anders. Wenn die wichtigste Person in einem Unternehmen der Vorstand, der Geschäftsführer, der Inhaber ist, wer ist dann die zweitwichtigste? Der Vertriebsleiter? Der kaufmännische Leiter? Die Sekretärin des Vorstands? Oder gar der Betriebsratsvorsitzende? Ich sage: Die zweitwichtigste Person in einem Unternehmen ist der Bedenkenträger. Der Unterschied zur Politik besteht darin, dass der Bedenkenträger im Unternehmen der Regierung angehört oder zumindest dasselbe Parteibuch besitzt.

Bekanntlich hat der Bedenkenträger ein ganz schlechtes Image und liegt ungefähr mit dem Erbsenzähler auf einer Stufe (allerdings steigt das Ansehen guter Erbsenzähler in diesen harten Zeiten rapide an). Üblicherweise ist das Wort "Bedenkenträger" ja keine neutrale und emotionslose Bezeichnung, sondern eine Beschimpfung und eine Beleidigung. Wer von einem anderen sagt, er sei ein Bedenkenträger, drückt damit aus, dass er nicht viel von ihm hält. Diese Diskreditierung des Bedenkenträgers ist ungerecht, kleingeistig und dumm.

Der Bedenkenträger ist wichtig. Er ist wichtig für den Erfolg der Firma. Warum? Weil sein wesentlicher Job darin besteht, Fehlentscheidungen zu vermeiden. Der Bedenkenträger ist in einem Unternehmen derjenige, der die Courage hat, dem Chef Contra zu geben. Der die Entscheidungen des Chefs in Frage stellt. Der dazu mahnt, die Sache, um die es geht, auch von der anderen Seite zu betrachten, und dies dann auch tut. Der Bedenkenträger ist der, der schlicht und ergreifend "zu Bedenken gibt", der also Argumente ins Feld führt, die zu beachten sind, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Wichtig: Der Be-denkenträger ist nicht zu verwechseln mit dem Miesmacher und dem Pessimisten. Mit denen hat der Bedenkenträger nichts gemein, nur das schlechte Image.

Übrigens braucht man den Bedenkenträger auch in schlechten Zeiten. Ja man braucht ihn vor allem in schlechten Zeiten. Denn in guten Zeiten kann sich ein Unternehmen eine falsche Entscheidung viel eher leisten als in schlechten.

Stellt sich die Frage, wer in einem Unternehmen die Funktion des Bedenkenträgers übernehmen kann. Eine wichtige Voraussetzung ist zweifellos, dass er über die relevanten Informationen verfügt. Daher muss er nahe an den Personen sein, welche am Ende des Tages die Entscheidungen treffen. Der Bedenkenträger kann auch ein Mitglied des Vorstands oder der Geschäftsführung sein, das wäre sogar eine ideale Konstellation. Bedenkenträger kann aber auch der Aufsichtsrat, der Beirat oder ein Mitglied des Managements sein. Nur eine Person darf auf keinen Fall der Bedenkenträger sein: der Chef selbst! Der Chef muss ein Macher sein, ein Gestalter, mit Mut, Ideen und mit Tatkraft. Aber der Chef, zumindest der gute Chef, weiß auch, wie wichtig der Bedenkenträger für den Erfolg des Unternehmens ist. Deshalb duldet er den Bedenkenträger, deshalb hält er ihn aus, auch wenn er ihm immer wieder auf die Nerven geht, deshalb ist er sogar froh, dass er einen Bedenkenträger hat in seinem Unternehmen.

Apropos: Wer ist eigentlich die zweitwichtigste Person bei der Vobis AG?

Mit freundlichen Grüßen

Damian Sicking

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