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22.05.2003

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Ludwig-Maximilians-Universität München

Philosophie-Department

Herrn Prof. Dr. Dr. Lorenz B. Puntel

Geschwister-Scholl-Platz 1

80539 München

München, 16.05.2003

Was ist Wahrheit? Kommt aufs Datum an, sagt Microsoft

Sehr geehrter Herr Professor Puntel,

am 1. April darf man ungestraft die Unwahrheit sagen. Man nennt das dann Aprilscherz und findet dies lustig oder auch nicht. Die Firma Microsoft fiel jetzt auf, weil sie eine Information, die im Mai lanciert worden ist und die jeder als wahr geglaubt hat, nachträglich als verspäteten Aprilscherz und damit als falsch deklarierte. Ich meine, dass sich hinter diesem Vorgang mehr verbirgt als die interessante Frage, ob bei Microsoft nur Humoristen arbeiten. Ich glaube, dass dahinter eine Frage steht, mit der sich die Menschheit, und vor allem die Philosophie, schon seit Jahrtausenden herumschlägt, nämlich die Frage: Was ist Wahrheit?

In der Philosophiegeschichte gibt es ja die verschiedensten Wahrheitstheorien, und Sie selber haben sich unter anderem in Ihren Büchern "Wahrheitstheorien in der neuen Philosophie" und "Grundlagen einer Theorie der Wahrheit" intensivst mit diesem Thema befasst. Ich vermute nun, dass man zu den bekannten philosophischen Wahrheitstheorien (Korrespondenztheorie, Konsenstheorie, Kohärenztheorie, Evidenztheorie etc.) eine weitere hinzufügen muss: die "Datumstheorie". Die geht so: Ob ein Satz wahr oder falsch ist, hängt davon ob, an welchem Tag er gesagt wird.

Wenn Microsoft zum Beispiel am 1. April die Nachricht über die geplante Einführung eines neuen Produktes - in diesem Fall eines mobilen Toilettenhäuschens mit Internetanschluss - verbreitet, schlägt sich jedermann vor Vergnügen auf die Schenkel, weil ihm klar ist, dass es sich um einen Aprilscherz handelt, die Nachricht also unwahr ist. Wenn Microsoft dagegen diese Meldung nicht am 1. April, sondern, wie geschehen, gut einen Monat später veröffentlicht, hält sie jedermann für wahr. Es drängt sich also die Erkenntnis auf: Ob eine Aussage wahr ist oder nicht beziehungsweise ob sie als wahr beurteilt wird oder nicht, hängt ganz wesentlich vom Datum ab, an dem sie gemacht wird.

Leider hört sich dies einfacher an, als es in der Praxis ist. Bleiben wir beim Beispiel Microsoft. Die am 2. Mai angekündigte und am 13. Mai als Aprilscherz enttarnte Information wurde am 15. Mai dann doch wieder als wahr und zutreffend bestätigt. Das Problem ist, dass diese letzte Aussage vielleicht ebenfalls ein (verspäteter) Aprilscherz ist, wir es momentan nur noch nicht wissen. Was soll man also mit dieser Information anfangen, soll man sie glauben oder nicht? Ich denke, um mit dieser Problematik professionell umgehen zu können, muss man viele Jahre in der Computerbranche tätig sein. Denn es ist eine Tatsache - also wahr -, dass in der Computerbranche an jedem beliebigen Tag jeder Satz sowohl wahr als auch falsch sein kann. Hier bei uns ist sozusagen jeder Tag der 1. April. Wenn zum Beispiel ein Unternehmen behauptet, es gehe ihm glänzend, kann dies durchaus der Wahrheit entsprechen, es ist aber ebenso möglich, dass es bankrott ist. Das Komplizierte an der Sache ist also, dass zwar grundsätzlich die Wahrheit eines Satzes vom Datum abhängig zu sein scheint, in der Praxis sich aber niemand um das Datum kümmert. Wenn jemand begründeten Zweifel an dem Wahrheitsgehalt einer Aussage äußert, sagt man einfach, es sei ein Aprilscherz gewesen. Oder Marketing. Wer in der IT-Branche überleben will, muss dies aushalten, ansonsten sollte er die Branche wechseln oder in die Politik gehen.

Ich muss gestehen, sehr geehrter Herr Professor Puntel, dass ich noch ziemlich am Anfang meiner Überlegungen stehe, aber ich denke, dass ich hier auf etwas ganz Entscheidendes gestoßen bin, was die philosophische Diskussion nachhaltig befruchtet. Für die Verleihung der Ehrendoktorwürde stehe ich daher gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Damian Sicking

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