Morgen, morgen, nur nicht heute ...

14.12.2000
In rasender Geschwindigkeit verändert sich die Arbeits- und Berufswelt und als Folge davon die gesamten Lebensumstände. Permanentes Aufschieben wird zu einer existenziellen Gefahr. Hartmut Volk* ließ sich von dem Diplompsychologen und Psychoanalytiker Hans Werner Rückert Hintergründe und Auswege aus dieser Problematik erläutern.

Rückert leitet die Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität Berlin und ist nebenberuflich als Trainer und Supervisor sowie als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis tätig.

Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht etwas aufschiebt. Der eine drückt sich mit immer neuen Vorwänden um das längst überfällige heikle Mitarbeitergespräch herum, dem anderen sträuben sich schon beim Gedanken an die im Verzug befindliche Marketing-Konzeption die Haare. Die meisten Menschen schieben am Arbeitsplatz wie im privaten Bereich immer wieder etwas auf - so lange, bis der innere und/oder äußere Druck schließlich übermächtig wird und zur Tat zwingt.

Nicht als ernsthaftes Problem empfunden

Kaum jemand empfindet dieses alltägliche Auf- und Hinausschieben allerdings auch als wirklich ernsthaftes Problem. Irgendwie gehört es wohl zum Leben dazu, nicht selten gibt es ja auch tatsächlich gute Gründe dafür, und meistens lassen sich die Dinge dann ja auch in letzter Minute noch irgendwie regeln. In Ruhe und entsprechend überlegt gehandelt, kämen vermutlich bessere und kostengünstigere Lösungen zustande. Doch Leben, so trösten sich nicht wenige über diese Erkenntnis hinweg, ist nun einmal eine stets nur in Schritten zur optimalen Lösung voranschreitende Veranstaltung. So wird denn allenthalben nachgebessert, und niemand stört sich ernsthaft daran. Bis auf die Revision, den Rechnungshof oder den Steuerzahlerbund, aber die wollen ja schließlich ihre Existenzberechtigung behalten.

Ganz anders aber sieht es aus, wenn Menschen immer wieder qualvolle innere Widerstände gegen die Erledigung notwendiger Pflichten oder Projekte überwinden müssen, wenn durch das Aufschieben ihre berufliche Standfestigkeit oder private Beziehungen in Gefahr geraten und wenn chronisches Aufschieben intensives seelisches Leid erzeugt. Wo aber ist die Grenze zu ziehen? Ernsthaftes Aufschieben bedeutet, macht Rückert klar, "dass Sie unnötigerweise die Erledigung von Aufgaben und Vorhaben, die Sie selbst als wichtig, vorrangig beziehungsweise termingebunden einstufen, über Tage, Wochen, Monate oder Jahre verzögern. Sie fassen immer wieder Vorsätze, unternehmen Anläufe und machen Vorarbeiten, beschäftigen sich aber im entscheidenden Moment mit weniger wichtigen Dingen. Sie gehen aus dem Feld und weichen auf etwas anderes, nicht ganz so Unangenehmes aus. Schließlich hat sich vor Ihnen ein unüberwindlich erscheinender Berg an Unerledigtem aufgehäuft, vor dem Sie dann resignieren."

Träume von mehr Selbstdisziplin

Wer sich so verhält, wirft sich dieses Verhaltensmuster in der Regel als "Willensschwäche" vor und träumt von mehr Selbstdisziplin. Oft bleibt es bei diesen Wunschträumen, und das ausgeprägte Aufschieben wird wie ein Zwang als unkontrollierbar erlebt. Darüber redet dann auch niemand mehr gerne, es wird im Gegenteil schamhaft verschwiegen, "denn im eigenen Haus nicht Herr zu sein, gilt vielen als Schande", berichtet Rückert aus seiner Seminar- und Therapieerfahrung.

Es gibt Menschen, die nur in wenigen Bereichen Dinge vor sich her schieben, und andere, die in Beruf wie Privatleben nahezu alles aufschieben. Welche Mechanismen kennzeichnen das Aufschieben? Wer aufschiebt, erläutert Rückert, "liegt selten faul auf der Bärenhaut, sondern ähnelt häufig eher einem Workaholic, der immer dann von einer Tätigkeit zur anderen wechselt, wenn die Anspannung einen kritischen Wert erreicht. Dieser oft abrupte Wechsel zeugt von einer unzulänglichen Kontrolle ablenkender Impulse und von zu geringer Konzentration auf den Arbeitsprozess".

Wer aufschiebt, neige dazu, Arbeitsergebnisse überzubewerten, habe ein schlechtes Zeitmanagement und unterschätze die Notwendigkeit, sich in Übereinstimmung mit wichtigen eigenen Zielen und der eigenen Motivation zu befinden.

"Lust auf Arbeit" - ein Mythos

Aufschieber "glauben, dass Widerstände durch eine Art Selbstzwang überwunden werden müssen, und halten die Lust auf Arbeit für einen Mythos. Auf diese Weise befinden sich solche Menschen häufig in bewusster oder unbewusster Opposition gegen die Ziele und Vorhaben, die sie verbal bejahen oder als notwendig einstufen".

Was weiß man über Menschen, die chronisch aufschieben? Sie kommen häufig zu spät, sind unvorbereitet, schlecht organisiert und haben schlechte Beziehungen zu Arbeitskollegen. Sie verbringen zu viel Zeit mit Projekten, die ohnehin scheitern. Sie vermeiden es, sich Rechenschaft über ihren Arbeitsstil zu geben, und versuchen stattdessen, ihr Image zu pflegen.

Unternehmer und Führungskräfte üben ihre Tätigkeiten in relativer Einsamkeit und mit hoher Selbstverantwortlichkeit aus. Schwächen bei Plaunung und Selbst-Management begünstigen bei ihnen das impulsivvermeidende Aufschieben: Sie setzen dann als "Macher" viele Projekte in Gang, haben aber Schwierigkeiten mit dem langfristigen Controlling der Umsetzung und Verwirklichung dieser Projekte.

Die Ursachen für hartnäckiges Aufschieben sind wie eine Zwiebel geschichtet. Von außen nach innen, so Rückert, ist Folgendes zu erkennen:

- fehlende oder ungeeignete Planungs-, Organisations- und Arbeitstechniken

- fehlende oder ungeeignete Selbststeuerungsfähigkeiten

- hohe Impulsivität, hohe Unachtsamkeit für den Prozess der Aufgabenerledigung, Misserfolgserwartungen

- geringe Toleranz für Frustrationen und negative Emotionen

- uneindeutige Motivationslagen hinsichtlich der Aufgaben oder ihrer Erledigung

- spannungsgeladene innere Konflikte

- unrealistische Ansprüche an sich selbst

- irrationale Einstellungen

Dabei hat Aufschieben stets mehrere Gesichter. Es ist gleichzeitig

- Vermeidungsverhalten zur Abwehr anders nicht mehr kontrollierbarer negativer Gefühle;

- ein Symptom für tiefer liegende Konflikte, die mit der Aufgabe oder ihrer Erledigung in Verbindung stehen;

- ein (neurotischer) Versuch, die eigene Selbstachtung vor Gefährdungen zu schützen, der auf mittlere Sicht die Selbstachtung völlig ruiniert.

Rückert erläutert das Vermeidungsverhalten: Aufgaben zu erledigen, bedeutet Triebverzicht, Konzentration auf das Wesentliche und Anstrengung. Wer eine geringe Toleranz gegenüber Entbehrungen und Frustrationen hat, wird anstrengende Aktivitäten schnell als zu anstrengend umdeuten. Zu anstrengend ist gleichbedeutend mit: Es ist nicht zu schaffen, man braucht gar nicht erst anzufangen, oder man hört ab einer bestimmten Intensität von unangenehmer Spannung auf und macht etwas anderes.

Zum Aufschieben als Symptom und Selbstschutz sagt Rückert: Aufschieben kann auch Symptom eines Konflikts sein. Beispielsweise möchte jemand vielleicht Karriere machen, hat aber Ängste davor, sich in der Konkurrenz mit anderen durchsetzen zu müssen. Schiebt er es auf, sich in der Arbeit zu profilieren, bleibt dieser Konflikt in der Schwebe.

Ein Hauptmotiv dafür ist es, vermeintliche Bedrohungen des Selbstwertgefühls zu vermeiden, erklärt Rückert: "Nehmen wir an, Sie stecken harte und gut geplante Arbeit in einen schwierigen Bericht. In der entscheidenden Sitzung wird die Qualität Ihres Reports kritisiert. Möglicherweise werden Sie sich diese Niederlage als persönliches Versagen ankreiden. Hätten Sie den zurückgewiesenen Bericht nach langem Aufschieben schließlich unter Hochdruck in ein paar Nachtschichten zusammengeschustert, dann könnten Sie die Pleite darauf schieben, Ihr Image als eigentlich hochkompetent bewahren und Ihre Selbstachtung schützen."

Dieses Motiv, negative Selbstbewertungen zu vermeiden, findet sich beispielsweise auch beim Perfektionismus, einer Hauptquelle fürs Aufschieben. "Sind Sie perfektionistisch, dann wird es Sie kränken, wenn Sie nicht auf Anhieb vollkommene Sätze zu Papier bringen. Schieben Sie die Abfassung schriftlicher Unterlagen auf, so ersparen Sie sich diese kleine Demütigung. Als Perfektionist haben Sie häufig nicht das Gefühl aufzuschieben, sondern suchen endlos nach den ’richtigen’ Formulierungen oder Problemlösungen, ohne sie jemals zu finden. Unperfektes ist für Sie gleichbedeutend mit einem beschämenden Offenbarwerden von Schwächen und Defekten."

Andere bekannte Aufschiebemotive resultieren aus der Angst zu versagen, der Angst vor Erfolg und aus passiv-aggressiver Widersetzlichkeit. Bei Letzterer ist das Aufschieben der sich anbietende Kompromiss zwischen Gefügigkeit und innerer Auflehnung: "Die Aufgabe, die Ihr Chef Ihnen gegeben hat, empfinden Sie als Schikane, aber Sie trauen sich nicht, ihm das zu sagen. Also schieben Sie die Arbeit an der Sache auf." Rache ist süß, nur dummerweise ist sie auch ein Bumerang.

Auch das Aufschieben aus diesen Motiven hat letztlich den Hintergrund, eine antizipierte Beschämung abzuwenden. Die meisten Menschen fürchten die Erkenntnis, dass sie ihren eigenen, oft überhöhten Idealen an Leistungsfähigkeit und Qualität nicht entsprechen. Diskrepanzen zwischen Soll und Ist werden mit Beschämung und Selbstabwertung erlebt. Je stärker Leistungen, Erfolge und äußere Anerkennung mit dem Selbstwertgefühl gleichgesetzt werden, desto größer erscheinen die Risiken von Pleiten, Pech und Pannen. Sie lassen sich durch das Aufschieben kurzfristig vermeiden.

Rückert: "Ironischerweise zerstört diese Art des Selbstschutzes mittelfristig jedoch das, was gerettet werden sollte: Wenn Sie Ihre Vorhaben nie durchziehen, haben Sie keine Erfolge, untergraben Ihre Glaubwürdigkeit und ruinieren so auf Raten Ihr Selbstwertgefühl."

Und der Ausweg aus diesem Dilemma? Für Rückert, der sich mit dieser Frage auch in seinem lesenswerten Buch "Schluss mit dem ewigen Aufschieben - Wie Sie umsetzen, was Sie sich vornehmen" (Campus Verlag, Frankfurt/Main, 3. Auflage 2000, 274, Seiten, 29,80 Mark) auseinandersetzt, gibt es drei Lösungen:

- Sie tun das, von dem Sie sagen, dass Sie es wollen, oder von dem Sie akzeptieren, dass Sie es müssen, wenn Sie bestimmte Effekte erzielen wollen.

- Sie geben Ihre Vorhaben auf und tyrannisieren sich nicht länger mit der Vorstellung, dass Sie jene Dinge machen müssten, die Sie all die Jahre nicht gemacht haben. Sie wechseln den Job und suchen sich etwas, das Ihnen weniger Stress bereitet.

- Sie entscheiden sich dafür, weiter aufzuschieben, lernen aber, Leid und Selbstverachtung einzugrenzen und eventuell sogar Spaß am Aufschieben und am Spiel mit dem Feuer zu empfinden. Sie entwickeln die Bereitschaft, etwaige negative Folgen Ihres Aufschiebens in Kauf zu nehmen.

Der Motor des Aufschiebens lässt sich mit Hilfe des von Rückert so genannten BAR-Programms abstellen:

- Bewusstheit: Wissen über die wichtigsten Konflikte hinter dem Aufschieben, über Einstellungen, die es begünstigen, und solche, die ihm entgegenwirken.

- Aktionen: Handlungen wie die, sich überprüfbare Ziele zu setzen, vernünftige Schritte zu planen und durchzuführen, angemessenes Zeit-Management zu betreiben, Selbststeuerungstechniken anzuwenden und sich selbst zu belohnen.

- Rechenschaft: Monitoring der erreichten Veränderungen durch das Führen eines Veränderungslogbuchs.

Der erste Schritt besteht in Selbsterkenntnis: Haben Ihre Konflikte mit einer uneindeutigen Motivation zu tun, mit überhöhten Ansprüchen an sich selbst oder mit Ängsten?

- Überprüfen Sie Ihre Befürchtungen auf realistischen Gehalt.

Erste Schritt zur-Besserung

Selbsterkenntnis können Sie in mehr Selbstakzeptanz umsetzen:

- Verlangen Sie nichts Unmögliches von sich, sondern lernen Sie, sich realistische Ziele zu setzen. Verbessern Sie Ihre Fähigkeiten zum Selbst-Management, erlernen Sie Planungs- und Selbstorganisationstechniken und wenden Sie diese konsequent an. Dabei nützt Ihnen ein Veränderungslogbuch, in dem Sie Ihre Fortschritte, aber eben auch Fehlschläge bilanzieren und auswerten.

- Machen Sie eine Liste von all den Dingen, die Sie zu erledigen haben. Vergessen Sie dabei Ihre Vergnügungen und Ihre Freizeit nicht.

- Streichen Sie alles von der Liste, was Sie ohnehin nie ernsthaft machen wollten.

- Legen Sie Ihre eigenen Ziele, Werte und Prioritäten fest. Setzen Sie sich realistische Ziele. Schreiben Sie das alles auf.

- Identifizieren Sie Ihre zugrunde liegenden Konflikte wie beispielsweise Angst, Ärger, Perfektionismus sowie Ihre irrationalen Einstellungen wie unter anderen die, dass Ihre Aufgaben zu hart seien, dass ein Scheitern eine Katastrophe wäre und so weiter.

- Bekämpfen Sie Ihre irrationalen Einstellungen, denken Sie vernünftiger und legen Sie sich realitätsgerechtere Auffassungen zu.

- Prüfen Sie, ob Sie trotz Ihrer gegenwärtigen Konflikte und Einstellungen eine Chance haben, Ihre Vorhaben erfolgreich zu bewältigen.

- Prüfen Sie, ob Ihre aufgeschobenen Vorhaben ausreichend mit Ihren Zielen und Werten übereinstimmen. Wenn nicht: Konzentrieren Sie sich nur auf die Ziele, die für Sie bedeutungsvoll sind, und geben Sie die anderen auf.

- Planen Sie, wie Sie Ihre Ziele in kleinen Schritten und Etappen erreichen können.

- Schätzen Sie den Zeitaufwand, bis Sie Ihr Projekt erledigt haben werden, und setzen Sie dann das Doppelte an.

- Legen Sie Belohnungen für Erfolg fest und belohnen Sie sich für jeden Schritt.

- Beobachten Sie sich genau und halten Sie Ihre Aufzeichnungen im Veränderungslogbuch fest.

"Wenn jemand trotz des Leidens unter dem Aufschieben keinen dieser Vorschläge umsetzt oder aber feststellt, das Problem auch damit nicht genügend bewältigen zu können", fasst Rückert seine Erfahrungen zusammen, "dann ist professionelle Hilfe erforderlich."

*Hartmut Volk ist Diplom-Betriebswirt und freier Wirtschaftspublizist in Bad Harzburg.

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