Netzwerkversprechungen oder vom Völlegefühl nach der Weihnachtsgans

22.11.1996
MÜNCHEN: Das Thema Netzwerke ist in. Dafür sorgen innovative Hersteller, eine Heerschar eifriger Trendforscher, aber auch die Hoffnung der Netzwerk-Kunden, das schnelle Netz zu ergattern, das Wettbewerbsvorteile und Unternehmensgewinne garantiert. Beredter Ausdruck der Versprechen ist die in Netzwerkkreisen gepflegte Marketing- und Techniksprache. Ein Dutzend neuer Abkürzungen jede Woche, ein Dutzend immer gleicher Versprechungen dazu. Dem Anwender raucht der Kopf, doch klar wird ihm dadurch nichts. In seinem Beitrag macht sich der Autor N. N.* für eine radikale Lösung stark: Statt Netz-Versprechungen Glaubwürdigkeit bei der Darstellung und dem Nutzen der Netze.Wer kennt es nicht - das Völlegefühl nach einem üppigen Weihnachtsessen. Nicht einmal durch einen herzhaften Schnaps läßt sich der Druck in der Magengegend vertreiben. Ähnliche Gefühle stellen sich bei mir ein, wenn ich die Entwicklungen im Netzwerkbereich betrachte. Die "neuen" Geschichten in und um den Computer wiederholen sich in immer schnellerer Folge.

MÜNCHEN: Das Thema Netzwerke ist in. Dafür sorgen innovative Hersteller, eine Heerschar eifriger Trendforscher, aber auch die Hoffnung der Netzwerk-Kunden, das schnelle Netz zu ergattern, das Wettbewerbsvorteile und Unternehmensgewinne garantiert. Beredter Ausdruck der Versprechen ist die in Netzwerkkreisen gepflegte Marketing- und Techniksprache. Ein Dutzend neuer Abkürzungen jede Woche, ein Dutzend immer gleicher Versprechungen dazu. Dem Anwender raucht der Kopf, doch klar wird ihm dadurch nichts. In seinem Beitrag macht sich der Autor N. N.* für eine radikale Lösung stark: Statt Netz-Versprechungen Glaubwürdigkeit bei der Darstellung und dem Nutzen der Netze.Wer kennt es nicht - das Völlegefühl nach einem üppigen Weihnachtsessen. Nicht einmal durch einen herzhaften Schnaps läßt sich der Druck in der Magengegend vertreiben. Ähnliche Gefühle stellen sich bei mir ein, wenn ich die Entwicklungen im Netzwerkbereich betrachte. Die "neuen" Geschichten in und um den Computer wiederholen sich in immer schnellerer Folge.

Beim Thema Netzwerken ist dieser Trend noch um ein Vielfaches ausgeprägter. Hier wird der Markt von rein technisch orientierten Personen dominiert. Da wird vom SNMP, von MIBs, von RMON, von Switches, Routern, HTML, Internet und Browsern geredet und hinter aller Technik der eigentliche Sinn und Zweck eines Netzwerkes versteckt.

Auffällig ist, daß die technischen Botschaften in einem Einheitsbrei dargestellt werden und meist nicht über ein Einheitsvokabular wie "anwenderfreundlich", "benutzerorientiert", "zukunftsweisend" und "kostensparend" hinausgehen. Die Hersteller folgen diesem Trend blind wie die Lemminge am Abgrund, und die Marketing- und Werbebotschaften der Hersteller ermöglichen dem Anwender beziehungsweise Käufer keinerlei Differenzierungsmöglichkeiten mehr. Diesem fällt es daher immer schwerer, den nichtssagenden Akronymen und Abkürzungen zu folgen, denn alle Hersteller bieten inzwischen das technisch perfekteste Produkt und haben sich in jeder Sparte als Marktführer etabliert. Es werden nicht nur Systeme, sondern Komplettlösungen geboten.

Als Merkmal einer Systemlösung wird immer das leistungsfähigste Netzmanagement-System als Alibi-Funktion hervorgezaubert, denn jeder Hersteller integriert alle wesentlichen Techniken, eröffnet Migrationswege und sichert die Investitionen. Wie diese Investitionssicherung aussehen könnte, darüber schweigt sich der Markt aus. Da auch die Experten über keine zuverlässigen Zahlen verfügen, läßt sich sehr gut mit großen Worten und Zielen spielen. Jeder Anwender wird von den Herstellern bei der Realisierung des IT-Projektes von Anfang an kompetent unterstützt und mit dem optimalen Service und Support versorgt.

Die Konturen der Hersteller und ihrer Produkte gehen dabei in den Augen der Anwender nahezu vollständig verloren. Dennoch wird mit immer neuen Systemen und Features, die in vielen Fällen auch die Konkurrenz bietet, weiter kräftig im technologischen Einheitsbrei herumgerührt und damit die Chancen für eine Hersteller- und Produktdifferenzierung verspielt. Noch schlimmer: Die neuen Systeme und Funktionen werden als Alleinstellungsmerkmale in einem Markt propagiert, der für viele Produkte längst noch nicht reif ist. Die folgenden Werbebotschaften sollen beispielhaft einen Querschnitt dieser Trends darstellen:

Setzt auf LAN-Switch-Technik!

Ethernet und Token Ring erfreuen sich als Shared-Media-Techniken weiterhin großen Zuspruchs. Gemäß Studien des Marktforschungsinstituts International Data Corporation (IDC) wurden 1995 37,2 Millionen Hub-Anschlüsse weltweit abgesetzt - 44 Prozent mehr als 1994 (25,7 Millionen). Dagegen wurden nur 2,1 Millionen LAN-Switch-Anschlüsse (Ethernet und Token Ring) in den Unternehmen implementiert. Oder anders gesagt: Nur jeder achtzehnte ausgelieferte Hub-Anschluß war 1995 ein Switch-Anschluß.

Setzt Client-Server-Applikationen ein!

Das US-Magazin "Datamation" ist gemeinsam mit der Broker-Firma Cowen & Company zu folgendem Ergebnis gekommen (befragt wurden 2.400 Mainframe-Anwender in den USA und Kanada): 38 Prozent gehen den Problemen und Kosten einer Client-Server-Umstellung lieber aus dem Weg. 27 Prozent haben Mühe, zwingende Vorteile der Client-Server-Technik zu sehen. Die Konsequenz: Es wird, wenn überhaupt, nur sehr verhalten in Richtung Client-Server migriert und dabei werden die Host-Umgebung für die wichtigsten Anwendungen beibehalten.

Setzt generell auf ATM!

Das Marktforschungsinstitut Miers Communication hat in einer Untersuchung herausgefunden, daß 1995 weltweit lediglich 160 Millionen US-Dollar mit ATM-Produkten umgesetzt wurden. Dieses Umsatzvolumen entspricht in etwa dem Jahresumsatz eines mittleren deutschen Systemintegrators.

Setzt im Backbone-Bereich auf ATM!

Nach einer IDC-Studie wurden 1995 mehr als zwanzigmal soviel Fast-Ethernet- wie ATM-Komponenten verkauft. Nimmt man die beiden anderen 100-Mbit/s-Techniken FDDI und 100VG-Anylan hinzu, vergrößert sich das Mißverhältnis sogar auf 30 : 1.

Kauft unsere komplette Switch-Architektur!

Die Heterogenität und Komplexität in den Netzwerken nimmt zu. Das ist letztlich Ausdruck eines mehr oder weniger freizügigen Systemkaufs im Markt und einer permanenten Entwicklung im Netzwerk. Jetzt versuchen die Unternehmen durch Orientierung an einem Standardprotokoll, TCP/IP, der Heterogenität und Komplexität mit traditionellen Mitteln erst einmal Herr zu werden. In diese Ausgangssituation platzt die proprietäre und innovationsüberladene Offerte "Switch-Architektur", so als träfe sie bei den Unternehmen auf offene Ohren und eine "grüne Systemwiese".

Setzt auf virtuelle LANs als Kostenkiller!

Die Kosten für ein vollständig vermitteltes VLAN auf Basis der Ethernet-Technik wird mit 900 Dollar je Knoten angesetzt - die Kosten für die teure Backbone-Technik nicht miteingerechnet (Datacommunications, Stand Januar 1996). Die Einsparung durch eine flexible Endgerätezuordnung wird dagegen von Dataquest Ledge auf 270 Dollar beziffert. Dabei gehen die Marktforscher davon aus, daß jedes Benutzerinterface im Durchschnitt nur einmal in zwei Jahren neu zugeordnet werden muß.

Setzt auf virtuelle LANs als Umstrukturierungshilfe!

Nur jeder 18. ausgelieferte Hub-Anschluß (Ethernet und Token Ring) war 1995 ein Switch-Anschluß (IDC). Damit stellen LAN-Switch-Systeme immer noch die absolute Minderheit in den Unternehmen dar. Und hier wird auch weiterhin nur langsam zur Switch-Technik migriert werden. Das Problem: Virtuelle LANs kommen letztlich nur dann voll zum Zuge, wenn netzweit LAN-Switch-Systeme eingesetzt werden.

Stellt euch auf den schnellen ATM-Anschluß im WAN ein!

Carrier jeglicher Couleur - sowohl City- als auch Überland-Carrier - sehen derzeit bei ihren Kunden keinen Bedarf, auf die Hochgeschwindigkeits-Trasse ATM aufzuspringen. So werden derzeit allein von der Deutschen Telekom im Rahmen eines Pilotprojektes 20 ATM-Knoten deutschlandweit angeboten. Dabei bewegen sich die Gebühren für den ATM-Anschluß für die meisten Unternehmen zur Zeit noch in unerschwinglicher Höhe.

Stellt euch auf Multimedia ein!

Eher ernüchternd ist das Ergebnis einer Studie von Forrester Research, zu der 50 der Fortune-1000-Unternehmen in den USA befragt wurden. Demnach sieht die Mehrheit innerhalb der nächsten fünf Jahre keinen Durchbruch für Videoconferencing in ihrem Unternehmen. Und das ist hinsichtlich der Unternehmensgröße die Crème de la Crème. Wie wird dann die Entwicklung in kleiner dimensionierten Unternehmen aussehen?

Fazit

Diese Beispiele zeigen kaum mehr als die Innovationsfreudigkeit der Hersteller und bieten einen Querschnitt der gängigen Marketing- und Werbebotschaften. Die aber gehen am echten Marktbedarf vorbei. Die logische Folge dieser Endlosschraube besteht darin, daß die Hersteller ihre Ziele und Geschäftsergebnisse nicht mehr erreichen. In der Konsequenz brechen die Preise für die neuen Techniken weg und werden in einem immer härteren Marktwettbewerb nach unten korrigiert. Für den Anwender hat dies zur Folge, daß die vom Markt nicht benötigten Produkte immer preiswerter werden. Dadurch besteht jedoch die Gefahr, daß viele Hersteller ihre hohen Entwicklungskosten nicht mehr erwirtschaften und mittelfristig vom Markt verschwinden.

Wäre es nicht sinnvoll, wenn die Hersteller ihre bisherigen Marketing- und Werbebotschaften weitgehend über Bord werfen würden? Denn sie stellen nichts anderes als Gemeinplätze dar und bergen keinerlei Unterscheidungsmerkmale. Außerdem ist das Fehlen von praxisnahen Zielen offensichtlich, und die Botschaft geht am tatsächlichen Bedarf vorbei. Wäre es nicht an der Zeit, daß sich die Hersteller wieder auf nachvollziehbare Botschaften besinnen, um ihre Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen? Wahre, nutzenorientierte Aussagen, die es leider noch nicht gibt, beweisen Praxisnähe und adressieren den tatsächlichen Bedarf. Erst wenn die Unsicherheiten beseitigt sind, ist der Kunde gewonnen! Mit einer neuen Glaubwürdigkeit würde eine solide Geschäftsbasis geschaffen werden. Die Technik erfüllt keinen Selbstzweck. Sie ist als Werkzeug nur das letzte Glied in einer Entscheidungskette. Zumal sich die Entscheidungskompetenz immer stärker in die Unternehmensführung hinein verlagert und damit auch im Bereich der Systemtechnik zunehmend betriebswirtschaftliche, das heißt kosten/nutzenorientierte, Überlegungen einkehren. Der erste Hersteller, der den Mut hat, neue Wege zu gehen (und damit den Zug der Lemminge verläßt), wird sich markant von seinen Mitbewerbern abheben und schnell an Glaubwürdigkeit gewinnen. Damit wären bessere Voraussetzungen für ein florierendes Geschäft geschaffen. Dann könnte auch in naher Zukunft der große Wurf, vielleicht sogar der Verkauf kompletter Systemarchitekturen gelingen.

* Der Autor ist Manager im Kommunikationsbereich

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