Ein Nachruf auf die Vereinigten IT-Staaten von Amerika

Oh USA…

Peter Marwan lotet kontinuierlich aus, welche Chancen neue Technologien in den Bereichen IT-Security, Cloud, Netzwerk und Rechenzentren dem ITK-Channel bieten. Themen rund um Einhaltung von Richtlinien und Gesetzen bei der Nutzung der neuen Angebote durch Reseller oder Kunden greift er ebenfalls gerne auf. Da durch die Entwicklung der vergangenen Jahre lukrative Nischen für europäische Anbieter entstanden sind, die im IT-Channel noch wenig bekannt sind, gilt ihnen ein besonderes Augenmerk.
Faszination Silicon Valley, Ideenschmiede Boston, Vermarktungs-Genies, IT-Revolutionäre und IT-Demokratisierer – all das war die USA für die deutsche IT-Branche in den vergangenen Jahrzehnten. Vier Jahre und über 22.000 falsche oder irreführende Aussagen später ist davon kaum etwas übrig.
Die US-amerikanische IT-Branche hat jahrelang den Markt dominiert und vom weltweiten Austausch profitiert. Spätestens seit der Regierungszeit von Präsident Donald Trump zeigt sich, dass diese Position wankt.
Die US-amerikanische IT-Branche hat jahrelang den Markt dominiert und vom weltweiten Austausch profitiert. Spätestens seit der Regierungszeit von Präsident Donald Trump zeigt sich, dass diese Position wankt.
Foto: Leonard Zhukovsky - shutterstock.com

Als IT-Branche haben wir immer bewundernd und auch ein bisschen neidisch über den Großen Teich geblickt. Die USA war für uns wie der Spielzeugladen für den Grundschüler - ein Land voller Wunder, viele davon unverständlich, viele davon unerschwinglich, aber alle faszinierend und begehrenswert.

Gewiefte Geschäftemacher haben sich Ideen aus dem Silicon Valley geholt, hier mehr schlecht als recht kopiert und dann erfolgreich an das nach Europa expandierende Original verkauft. Technikbegeisterte ließen sich von der Euphorie und dem Ideenreichtum anstecken und warfen einwandfrei funktionierende ISDN-Telefone in den Elektroschrott, um von den Segnungen der VoIP-Telefonie zu profitieren - die erst einmal in Latenzen, Jitter sowie Nah- und Fernnebensprechen bestanden.

Eher biedere Verkäufer im grauen Anzug, die zwischen Kaffeepause, Autobahnraststätte und Einkaufsbummel auch einmal ein paar Kundenbesuche machten, um ihre Auftragsbücher zu füllen, wurden durch amerikanisch geprägte CRM-Systeme - die lustigerweise eigentlich das Management der Kundenbeziehungen versprachen, aber als Trommel und Peitsche auf der Galeere des Sales-Teams zum Einsatz kamen - zu KPI-getriebenen Verkaufsmaschinen, die minutiös auflisten, was sie mit welchem Kunden besprochen haben, wie viele Kunden sie angerufen haben, wie viele davon Neukunden sind und wem sie alles eine Folge-Mail schreiben dürfen.

Leider wurden sie dadurch völlig ersetzbar und aus der Kundenbeziehung wurde ein Datensatz in einer Datenbank, dem nur Wertschätzung entgegengebracht wird, wenn tatsächlicher und potenzieller Ertrag weit genug auseinander liegen, um ihn als Beutetier interessant zu machen. Dafür fuhren dann bei manchen Firmen die mit Aktienoptionen überschütteten Verkäufer der ersten Stunde nicht mehr im Passat Kombi, sondern im Ferrari beim Kunden vor.

Amerika, Deine IT-Helden!

Und erst die Persönlichkeiten! Zum Beispiel Bill Gates - der Klassenstreber par excellence. Wie freuten wir uns, wenn wir wieder mal einen Bluescreen hatten, weil der doch bewies, dass auch Gates nicht unfehlbar ist, Windows voller Fehler steckt und wir das eigentlich doch alles besser hinkriegen würden, als dieser nerdige Milchbubi. Linux haben sich dann aber doch die wenigsten auf ihren Rechner installiert: "Habe gerade keine Zeit dafür. Vielleicht zwischen Weihnachten und Neujahr. Aber da laufen ja auch die aktuellen Spiele nicht drauf und ab und zu zocke ich halt schon ganz gerne mal…"

Oder erst sein Widerpart Steve Jobs - dessen Firma Apple ohne das Geld von Gates längst auf dem Kompost der IT-Geschichte verrottet wäre. Welche Innovationskraft, welch uramerikanischer Mut, zu neuen Grenzen aufzubrechen - sie es mit dem lustig bunten Kugelcomputer iMac oder mit dem tastenlosen iPhone. Und erst seine unglaubliche Überzeugung von sich und den Leistungen seiner Ingenieure, mit der er - neben zugegebenermaßen wegweisenden Neuerungen - auch einfachste Banalitäten mit einer geheimnisumwobenen Aura anpreisen konnte, die denen eines Händlers auf einem Markt im Mittelalter, der feinste Spezereien von den Molukken oder der Malabarküste anpries, in nichts nachstand. Endlich nannte er dann den Preis - was die Gemeinde in ein Aufstöhnen verfallen ließ, das sich aus Entzücken, Faszination und Ohnmachtsanfall zusammensetzte, während das Gehirn ratterte: "Ich als Technologiepionier und Guru muss das unbedingt vor Andreas, Stefan und Michael haben - aber wie soll ich das bloß bezahlen?".

Ganz das Gegenteil Michael Dell. Vom Preis wollte der am liebsten gar nicht sprechen. Das kriegen wir schon hin. Wie einst der Gemischtwarenhändler mit seinem Planwagen in die Goldgräberstädte, zog Michael Dell mit seinem Bauchladen an Computerausrüstung über die Lande und sorgte dafür, dass jeder irgendwie zu einem passenden Computer kam. Als Henry Ford der PC-Branche setzte er die individuelle Massenfertigung von Notebooks und PCs durch. Während sich hierzulande Medion nach dem Modell des Volksempfängers zusammen mit dem Bundes-IT-Versorgungsministerium Aldi abmühte, Standardmodelle zu Ramschpreisen unters Volk zu bringen, eroberte Dell mit individuellen Rechnern zuerst das Web und dann sogar den indirekten Vertrieb.

Auch die Chefs der eher im Enterprise-Geschäft (Firmenkundengeschäft, wie man früher sagte) verwurzelten Firmen waren echte Persönlichkeiten und hatten vor der Machtübergabe an Tim Cook und andere Supply-Chain-Optimiererer immer einen Hauch von John Wayne, Clark Gable oder James Stewart.

Etwa John Chambers, der sich bei jeder Gelegenheit wie selbstverständlich mit den weltweit wichtigsten Politikern an einen Tisch gesetzt und gefragt hat, wie Cisco dem jeweiligen Land denn beim Ausbau seiner Telefon- und Netzwerkstruktur helfen könne. Helfen! Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Der Mann will Telekommunikationsfirmen Produkte im Wert von mehreren Milliarden Euro verkaufen und fragt dazu die Politiker des jeweiligen Landes, wie er ihnen helfen kann - während draußen vor der Türe die Chefingenieure der europäischen Wettbewerber mit Datenblatt, Konstruktionszeichnung und ausgefülltem Pflichtenheft warten, ob sie ihre 862-seitigen Angebotsunterlagen vorlegen dürfen.

Oder Larry Ellison mit seinem Segelfimmel, der Rivalität zu SAP und seinen Eskapaden beim Kauf immer neuer Firmen, die dann irgendwo im Oracle-Imperium verschwanden, ohne dass man genau wusste, weshalb und wozu. Irgendwie war er schon in den 2000er-Jahren der Donald Trump der IT-Branche - besser aussehend zwar, aber genauso großsprecherisch, anmaßend und rücksichtslos. Inzwischen hat aber wohl auch ihn die Altersweisheit ereilt - was man vom bisherigen US-Präsidenten nicht sagen kann.

Der Verfall der US-IT-Branche

Womit ich beim Thema bin. Der Verfall der US-IT hat schon lange vor der Amtszeit von Trump eingesetzt. Die Enthüllungen zu den Spionage- und Abhörtätigkeiten von NSA und anderen Geheimdiensten haben das Vertrauen in Netzwerk- und Security-Anbieter aus den USA erheblich erschüttert - auch wenn sie teilweise sogar unwissentlich darin verwickelt waren. Das Ende des Safe-Harbor-Abkommens, der Ärger um den Patriot Act und das in Sommer 2020 erwartbar gekippte Nachfolgeabkommen Privacy Shield haben den Datenaustausch mit den USA überhaupt infrage gestellt.

Schon das noch unter Barack Obama unterzeichnete, eilig zusammengezimmerte Privacy-Shield-Abkommen war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. "Man versucht hier mit einigen Aufhübschungen das illegale 'Safe Harbor' System wiederzubeleben, die grundsätzlichen Probleme der US-Massenüberwachung und der Nichtexistenz von US-Datenschutz sind aber nicht gelöst", legte damals Max Schrems, der maßgeblich daran beteiligt war, dass das Safe-Harbor-Abkommen ausgesetzt wurde, den Finger in die nach wie vor schwärende Wunde. Wie kann angesichts der aktuellen Situation ein stabiles, dauerhaftes und praktikables Abkommen aussehen? Nachdem ein ungezogener Präsident der Bundeskanzlerin schon den Handschlag verweigerte, kann ich mir einen bindenden Vertragsabschluss so bald nicht vorstellen.

Zunehmend glanzlose Giganten

Trotz zuletzt hervorragender Zahlen verlieren auch die ganz großen Web-Konzerne an Glanz. Google hat nicht nur den sehr sympathischen, mahnenden Satz "Don´t be evil" aus seinem Kodex gestrichen, sondern auch einige Kämpfe mit den EU-Behörden ausgefochten - und wird inzwischen sogar von den Kartellbehörden in den USA selbst unter die Lupe genommen.

Auch Facebook weht der Wind schärfer ins Gesicht - nicht nur seit dem Datenskandal um Cambridge Analytica und weiteren massiven Datenschlampereien, sondern auch, weil sich die Nutzer für das Hauptprodukt Facebook immer weniger begeistern. Also versucht man sich an einer Digitalwährung, als Ebay-Konkurrent oder begibt sich auf dünnes Eis, indem man eine Dating-Funktion anbietet. Der Elan, mit dem Zuckerberg neue Geschäftsfelder auftut, hätte früher begeistert. Heute erweckt er eher den Eindruck von hilf- und ziellosem Aktivismus.

Das Reich der Mitte lässt sich nicht an den Rand drängen

Wenig souverän wirken auch die anhaltenden US-amerikanischen Blutgrätschen in Richtung China. Mal geht es gegen Huawei bei Smartphones, mal gegen chinesische Firmen als Ausrüster für Telekommunikationsnetze oder gegen staatlich unterstützte, chinesische Hacker. Dabei wird völlig vergessen, dass die USA für China nicht nur Bedrohung, sondern auch ein wichtiger Lieferant und ein wichtiger Absatzmarkt sind. Merkwürdig muten die Attacken nicht zuletzt deshalb an, weil ihnen oft ein "Tue nicht, was ich gern tue" anhaftet - etwa bei weltweiter Cyberspionage (von Stuxnet bis zu Backdoors in aktueller Hardware für 5G-Netze von US-Firmen).

Für Europa geht es dabei gar nicht darum, mögliche von China ausgehende Gefahren zu leugnen. Es geht darum, sie einzuordnen und die Risiken zu kalkulieren. Aus Sicht der USA ist China gerade in der IT ein unangenehmer und immer stärker werdender Rivale. Aus Sicht von Europa sind aber beide Rivalen, Lieferanten und Absatzmärkte. Und beide Länder sind in allen drei Kategorien ernstzunehmen. Vorlieben für die eine oder andere Seite mögen historisch und kulturell bedingt sein, vernünftig begründen lassen sie sich kaum.

Nicht zuletzt hat die erratische, unvorhersehbare und eigennützige Außenhandelspolitik von Präsident Trump in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass China seine Bemühungen um Autonomie in der IT noch einmal verstärkt hat. Ähnliches gilt für Europa - auch wenn hier alles etwas länger dauert und mit weniger Nachdruck umgesetzt wird. Aber die Stimmen mehren sich, die Europa auffordern, den großen US-Konzernen Einhalt zu gebieten und auf eigene Lösungen zu setzen.

Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Aber es zeigt, dass das Vertrauen in das Funktionieren des weltweiten Austauschs von Produkten und Dienstleistungen in der IT gestört ist. Auf die Frage, was sie dagegen tun wollen, bleiben die meisten US-Hersteller noch stumm. Die Cloud-Anbieter ziehen ein Testat nach dem C5-Anforderungskatalog des BSI aus der Tasche und verweisen auf Rechenzentren in der EU. Aber auch das ist kein Persilschein, sondern nur ein Baustein in einer Strategie, mit der sich Vertrauen und Verlässlichkeit aufbauen oder wieder herstellen lässt.

Der Lack ist ab

Unterm Strich lässt sich festhalten: Bei den USA ist der Lack - als Garten Eden und Eldorado der IT - ab. Als Geldvermehrungsmaschine für Investoren funktioniert das Silicon Valley immer noch. Als Traumfabrik verliert es jedoch wie das ganze Land an Strahlkraft.

Vier Jahre Präsident Trump sind dafür nicht ursächlich verantwortlich. Aber sie haben dafür gesorgt, dass aus dunklen Ahnungen bittere Gewissheiten wurden. Und sie haben das Vertrauen in die USA als Technologiepartner erschüttert. Für europäische Anbieter ist das gut. Sie werden nun vielfach erstmals ernsthaft in Erwägung gezogen. Für den IT-Channel wird das viele Veränderungen mit sich bringen. Aber Veränderungen sind wir ja gewohnt, oder?

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