Paradise lost: Entzauberung der IT-Industrie oder zurück zur Realität

22.05.2003
Unter dem Titel "Paradise lost" hat das amerikanische Wirtschaftsmagazin "The Economist" vor kurzem eine Analyse der IT-Industrie veröffentlicht. Demnach wird IT immer mehr zur Massenware. Und die Geschichte lehrt: Wenn IT eine Zukunft haben soll, wird diese im Service und in der Kundenorientierung liegen.

Trau, schau, wem: "Es herrscht der groteske Glaube, dass wir ewig jung sein werden." So wurde Oracle-CEO Larry Ellison - ob seiner äußeren Erscheinung mit 58 Jahren selbst den Verlockungen ewiger Jugend nicht ganz abgeneigt - Anfang April im "Wall Street Journal" zitiert. Damit kritisierte er die Unfähigkeit vieler Mitbewerber besonders aus Silicon Valley, sich in einer reifenden Industrie den Realitäten zu stellen und entsprechende Veränderungen vorzunehmen.

"Bisher hat sich die Informationstechnologie mit exponenziellem Wachstum prächtig entwickelt. Jetzt muss sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkommen", befindet auch Ludwig Siegele, Technologie-Korrespondent des Wirtschaftsmagazins "The Economist" in Silicon Valley und Autor des Artikels "Paradise lost".

Es handelt sich dabei um eine Analyse der IT-Industrie, angefangen vom Mooreschen Gesetz, wonach sich die Prozessor-Transis-tor-Dichte alle 18 Monate verdoppelt, bis hin zum Computer als Massenware. Als Grundstein für den Optimismus in der IT-Indus-trie stimmt das 1965 von Intel-Mitgründer Gordon Moore aufgestellte "Gesetz" dank Fortschritten in der Fertigung mit 1,96 Jahren Abstand noch heute.

Da die Bit- und Byte-Umsätze gleichzeitig immer mehr in den Keller gingen, war es nur eine Frage der Zeit, dass die Seifenblase des völlig ungezügelten Optimismus irgendwann platzen musste. So geschehen Mitte des 19. Jahrhunderts auch mit britischen Bahn-Aktien, die nach dem Crash um 85 Prozent an Wert verloren, obwohl der Zugverkehr in den zwei Jahrzehnten danach noch einmal um über 400 Prozent zunahm.

Folgt man dem Mooreschen Gesetz bis zum äußersten Machbaren, käme in 250 Jahren ein von MIT-Wissenschaftlern erdachter "ultimativer Computer" heraus, der 1051 Rechenschritte pro Sekunde mit 1031 Bits ausführen kann. Der Punkt ist aber, dass heutige Systeme für die meisten Anwendungen auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, ausreichen würden. Das wiederum bedeutet, dass teure Highend-Lösungen wie Unix-Systeme mehr und mehr obsolet werden. Die mächtige Suchmaschine Google zum Beispiel stützt sich seit jeher zum Großteil auf Massenhard- und -software. Als Amazon 2001 zu Linux überging, haben sich die Technologieausgaben um rund 20 Millionen Dollar reduziert.

"Economist"-Korrespondent Siegele zufolge wird Computing immer mehr zu einem "Versorgungsgut wie Strom und Wasser". Dank Internet wird die Industrie dabei mehr und mehr auf offene Standards setzen. Gleichzeitig nähere sich das Ende der "Killer-Applikationen", denn der Kunde verlange nun mal immer mehr Leistung für wenig Geld.

Von der amerikanischen Regierung hochgepäppelt, ohne die Silicon Valley wohl heute noch mit Obstplantagen übersät wäre, hat die IT-Industrie stets eine antiautoritäre Grundhaltung an den Tag gelegt, fällt aber doch immer wieder in die alten Abhängigkeiten zurück. Dies zeigt zum Beispiel auch, wie viel Soft Money - gemeint sind Spenden von Softwareherstellern - in die Taschen der Demokraten und Republikaner fließt, wobei Microsoft sich am wenigsten lumpen lässt. Denn nicht erst seit dem 11. September ist Washington immer noch der verlässlichste und spendabelste Kunde.

Auch hier findet der Autor des Artikels "Paradise Lost" wieder eine Parallele zum frühen 19. Jahrhundert, nämlich die Geschichte der Telegraphie. Oder auch die der amerikanischen Automobilindustrie: Bis 1909 war die Zahl der Anbieter auf 274 angewachsen, 1918 waren es 121 und 1955 nur noch sieben. Mindestens 1.000 Firmen aus Silicon Valley werden in den nächsten Jahren pleite gehen, tönte wieder ein halbes Jahrhundert später Mr. Oracle Ellison.

Philosophisches Déjà-vu: Weiches überlebt Hartes

Schweren Zeiten sehen vor allem Hardware- und Technologieanbieter entgegen. Die meisten von ihnen werden früher oder später bankrott gehen und damit das Schicksal der Eisenbahnbauer- oder Radiohersteller-Generationen zuvor teilen. Das dicke Geld werden schließlich die absahnen, die es verstehen, die vorhandenen Technologien zu nutzen und mit Services auszufüllen. Im Fall der Eisenbahn waren es die Grossisten, die das Land mit günstigen Waren aus der Stadt belieferten, im Rundfunkwesen schon sehr früh die Programmemacher wie CBS und Co. In der Welt der IT am besten für die Zukunft gerüs-tet sind Anbieter wie Microsoft.

So sieht "Economist"-Journalist Siegele "Déjà-vus" allerorten und zieht das Fazit: Wenn die Geschichte uns irgendetwas lehrt, dann das, dass die Zukunft der IT-Industrie im Service und in der Kundenorientierung liegt. Die bes-te Chance habe die Industrie, wenn sie sich mit dem Mainstream vereine. "Exponenziellem hinterherzujagen war sicherlich ganz spaßig. Aber sogar das Paradies kann irgendwann langweilig werden", schließt der Autor.

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So lehrreich wie die Geschichte sein mag, zeigt sie doch, dass die Menschen aus ihr meist nichts lernen. Am allerwenigsten, wenn das dicke Geld lockt. Das ist beziehungsweise war denn auch die Crux des übersteigerten Selbstbewusstseins in der IT-Industrie. Wenn diese Hybris aber nun in einem tiefen Jammertal mündet, dann ist der Branche damit auch nicht gedient. Denn, um es wieder mit einem Bild aus der Geschichte zu sagen: Wo wäre San Francisco heute, wenn die Menschen, die dort leben, weiter dem Goldrausch hinterherhängen würden? (kh)

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