Reduzieren von Fehlzeiten

06.04.1999

MÜNCHEN: Die meisten Programme zur Senkung der Arbeitsunfähigkeit greifen zu kurz, weil sie den Faktor Unternehmenskultur nicht berücksichtigen. Hartmut Volk* beschreibt, worauf es bei den Bemühungen ankommt.Je nach Berechnungsmodus entstehen dem Betrieb für die ersten sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit Kosten zwischen 400 bis 1.000 Mark pro Tag. Fehlzeiten infolge von Arbeitsunfähigkeit stellen mithin einen beträchtlichen Kostenfaktor in der betrieblichen Leistungsbilanz dar. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene summiert sich das derzeit für Deutschland auf Jahresbeträge von zirka 100 Milliarden Mark und mehr. Das geht aus dem von Professor Michael Kentner vom IAS Institut für Arbeits- und Sozialhygiene Stiftung, Karlsruhe, erstellten Papier "Fetisch Fehlzeitenquote? - Aussagekraft und Beeinflussung von Arbeitsunfähigkeitsdaten" hervor.

Definition von Arbeitsunfähigkeit

Kentner zufolge lehrt die Erfahrung, daß drei Kategorien von Arbeitsunfähigkeit definiert werden können: erstens pflegebedürftige und schwerkranke Patienten, zum Beispiel Zustand nach schwerer Operation, Herzinfarkt. Zweitens Patienten, die zwar Befindlichkeitsstörungen oder leichtere vorübergehende Krankheiten (zum Beispiel grippaler Infekt, Muskelzerrung) aufweisen, aber gleichwohl unter Umständen noch arbeiten könnten. Drittens Mitarbeiter, für die Arbeitsunfähigkeit einen Weg darstellt, nicht primär mit Krankheit zusammenhängende Probleme (zum Beispiel unversorgtes Kleinkind, Hausbau) zu lösen oder besonderen Vorlieben nachzugehen.

Erfahrungsgemäß sind bei AU-Quoten zwischen acht und zehn Prozent und mehr die AU-Fälle in etwa paritätisch auf diese Gruppen verteilt. Niedrigere AU-Quoten gehen mit einer Unterrepräsentation der Gruppen zwei und drei einher. In Zeiten mit starkem sozioökonomischem Druck kann sich auch eine paradoxe Gruppierung herausbilden: Patienten, die trotz schwerer Erkrankung zur Arbeit gehen.

Folgen von Gegenmassnahmen

Die Erkenntnis, daß Arbeitsunfähigkeit nicht unabwendbar ist, nicht nur etwas mit Gesundheit und Krankheit zu tun hat und vermeidbare Kosten verursacht, führte zu Gegenstrategien. Diese reichen von Einzelaktionen mit unterschiedlichen Ansatzpunkten bis hin zu unternehmensweiten Bekämpfungskampagnen - gerade in der jüngeren Vergangenheit.

In den allermeisten Fällen konnten Erfolge vermeldet werden. Die AU-Quoten sanken. Das geschah aber nicht nur lokal, sondern bundesweit. Seit Anfang der neunziger Jahre ist eine fast kontinuierliche Absenkung der AU-Quote festzustellen. Auf der Basis der Sollarbeitszeit ging sie von 5,17 (1991) auf 4,2 Prozent (1997) zurück und ist damit so niedrig wie nie zuvor. Wem gebührt nun der Erfolg dafür? Den Gegenstrategien? Oder den Faktoren, die diesem Trend zugrunde liegen, sprich der angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt?

Übliche Vorgehensweisen gegen Fehlzeiten

Den IAS-Erkenntnissen zufolge führt die unmittelbare Bekämpfung des Kostenfaktors Fehlzeitenquote in die falsche Richtung. Und zwar ganz einfach deshalb, weil dabei am Symptom und nicht an den wahren Ursachen kuriert wird. Wie Kentner darlegt, laufen die üblichen Strategien zur Senkung der Arbeitsunfähigkeitsquote meist nach folgendem Muster ab:

Phase 1: Durch außer- und innerbetriebliche Vergleiche von Fehlzeitquoten wird ein Blaumacherpotential ausgelotet. Weiter wird kalkuliert, was beispielsweise die Reduzierung von einem Prozent Arbeitsunfähigkeit im Betrieb an Kosteneinsparung bringt. In größeren Betrieben kommen dabei imposante Beträge heraus.

Phase 2: Die Geschäftsführung beschließt Maßnahmen zur Reduzierung des Krankenstandes. Meist wird dieses Ziel delegiert. Personalabteilung und mittleres Management werden aufgefordert, sich damit zu befassen.

Phase 3: Nach Literaturstudien, Befragungen anderer Firmen und der eventuellen Hinzuziehung externer Berater wird ein Programm aufgelegt, das von vertrauensbildenden Maßnahmen (Motivationsgespräch) über Kontrollmechanismen (Mitarbeiter-, Personal-, Fehlzeitengespräch) bis hin zur kollektiven Androhung (Gratifikation nur bei vorgegebener Senkung der AU-Quote, Standortverlagerung nur dann nicht, wenn entsprechende Betriebsvereinbarung zustande kommt) reichen kann. Flankiert wird der Maßnahmenkatalog durch Gesprächs- schulungen, Standardisierung der Gespräche und Dokumentation der Maßnahmen und Ergebnisse.

Phase 4: Der Krankenstand sinkt. Phase 5: Nach einer Konsolidierungsphase steigt die AU-Quote wieder. Es haben sich Routinen und Umgehungsstrategien im AU-Senkungs- Regime eingespielt.

Fehleranalyse

Innerhalb dieser klassischen Abfolge werden meist folgende Fehler begangen: In Phase 1 erfolgt eine einseitige Schuldzuweisung an die Personen, die eine AU-Bescheinigung vorlegen. Phase 2 schließt das Topmanagement aus dem Veränderungsprozeß aus. In Phase 3 wird meist zu schematisch agiert. Die Zielgruppe, bei der die getroffenen Maßnahmen einen Anwesenheits-Verbesserungs-Prozeß einleiten könnten, wird nur ungenügend definiert. In den Phasen 4 und 5 folgt dem Jubel über den anfänglichen Erfolg schnell die Ernüchterung. Die Nachhaltigkeit der Krankenstandssenkung fehlt, innerbe- triebliche Vertrauensverhältnisse sind durch Verletzung von Persönlichkeitsrechten angeknackst, das Betriebsklima hat sich durch Polarisierung und Entsolidarisierung verschlechtert, und es gab - wenn man Pech hat - auch noch negative Schlagzeilen in der lokalen Presse.

Trifft man gezielte Maßnahmen zur Krankenstandssenkung, ist es natürlich von großem Vorteil, insbesondere Gruppe drei und die unmotivierte Teilmenge aus Gruppe zwei vom definitiv kranken Rest gesondert zu betrachten. Dies gelingt auf Betriebsseite wegen der grundsätzlich eingeschränkt verfügbaren Informationen über den Gesundheitszustand nur unzureichend. (Das Original der ärztlichen AU-Bescheinigung wird der Krankenkasse vorgelegt. Der erste Durchschlag ohne Befund und Diagnose geht zum Arbeitgeber.) Es bleibt also scheinbar nichts anderes übrig, als rasenmähergleich das Kontroll- und Repressalienkonzept auch im falschen Sektor durchzuziehen.

Alternativen

Welche Alternativen gibt es zu diesem unbefriedigenden Verfahren? Die AU-Quote ist nach Kentners Darstellung in der modernen Arbeitswelt im wesentlichen der kombinierte Ausfluß aus Krankheit, individueller Einstellung zur Arbeit und psychosozialen Rahmenbedingungen. Letztere werden maßgeblich durch die innerbetriebliche Verhaltens- und Beziehungsqualität und die organisatorischen Gepflogenheiten geprägt. Wenn AU-Quoten wirklich nachhaltig positiv beeinflußt werden sollen, dann bedarf es nach IAS-Erkenntnissen teilweise beträchtlicher kultureller und organisatorischer Veränderungsprozesse in den Unternehmen unter Einbeziehung der Leitungsebene. Dies bedeutet insbesondere Förderung von Motivation, Arbeitszufriedenheit und Gesundheit sowie Identifikation mit der Arbeit und dem Unternehmen durch eine hohe Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die demnach wichtigste Schnittstelle im Arbeitsleben, die Schnittstelle Mensch/Arbeit, wird in der modernen Industriegesellschaft durch die Schnittstelle Mensch/Mensch zunehmend ergänzt.

Unterstützend wirken hier gute Kommunikation, partnerschaftliches Führungsverhalten, teilautonome Handlungsspielräume, Eigenverantwortlichkeit, Vermeidung von Monotonie, Teamarbeit, Zeitsouveränität. Bei guter Organisation und bei ausgewogenem Führungsverhalten weiß der Vorgesetzte, ob ein Mitarbeiter wirklich krank ist und deswegen fehlt oder ob er sich vor der Arbeit drückt.

Daueraufgabe: Pflege der Human Resources

Für Kentner wäre es allerdings sozialromantisch anzunehmen, daß jeder Mitarbeiter durch soziale intelligente Praktiken und organisations-psychologische Veränderungen vermehrt motivierbar sei. Auf Vertrauen und weniger auf Kontrolle basierender Umgang miteinander kann auch zum Mißbrauch anstiften.

Der Weg zur Corporate Fitness oder zur Healthy Company - wie immer man das auch bezeichnen mag -, also letztlich zu verbesserter Produktivität, führt deshalb seiner Erfahrung nach einzig und allein über die intensive Pflege der Human Resources, verbunden mit ein wenig Kontrolle, um die schwarzen Schafe ebenfalls in die Herde einzugemeinden. Kentner: "Dieser Ansatz stellt eine nicht leichte, aber lohnende Daueraufgabe dar und kann nicht durch rigide AU-Senkungsmaßnahmen ersetzt werden."

Fazit

Die Arbeitsunfähigkeitsquote stellt ein Produkt aus Krankheit, Befindlichkeit, individueller Einstellung zur Arbeit und dem sozialen Umfeld dar. Letzteres wird entscheidend geprägt durch Führungs- und Organisationsstrukturen im Betrieb. Deswegen greifen die meisten Programme zur Senkung der Arbeitsunfähigkeit zu kurz. Sie kurieren am Symptom und nicht an den wahren Ursachen. Niedrige Arbeitsunfähigkeitsquoten und gleichzeitig verbesserte Produktivität der Gesamtbelegschaft werden nachhaltig nur durch eine Unternehmenskultur erreicht, die auf der Förderung von Motivation, Befindlichkeit und Gesundheit basiert.

*Hartmut Volk ist freier Journalist in Bad Harzburg.

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