Revolution im Wohnzimmmer - später als erwartet

02.09.2004
In den 50er-Jahren vermutete man, Massenmedien manipulieren ganze Gesellschaften. In den 60er-Jahren wurde der Fernseher zum Statusobjekt. In den 70er-Jahren mehrten sich kulturkritische Befürchtungen. In den 80ern erwartete man die Verblödung der Jugend nach den ersten Tutti-Frutti-Gehversuchen der "Privaten". "Und was geschah seitdem?", fragt Dr. Thomas Becker.

Vier Jahrzehnte beherrschte das Medium Fernsehen die öffentliche Meinung - von der WM 1954 über Durbridge und Dallas bis hin zur Schwarzwaldklinik. Aber seit gut 15 Jahren ist die medien- und kulturpolitische Bedeutung durch die Verbeitung von PCs und Internet neu definiert. MP3s, Open Source, Virenangriffe, E-Mail, SMS - das sind die Themen, die heute diskutiert werden.

Wenn man findigen Managern glaubt, hat das Fernsehen nur eine kleine Verschnaufpause eingelegt. Der Grund dafür ist die maßlos veraltete Technik, eine Technik, deren letzter größerer Innovationsschub vor etwa zwanzig Jahren durch die Umstellung von Funkübertragung auf Kabel- und Satellitenempfang markiert ist. Das Ergebnis: anstatt drei didaktisch wertvoller Programme mit Nachtabschaltung bis zu 200 sehr bunte Rund-um-die-Uhr-Sender.

Technik und Innovation

Also alles nur eine Frage von Technik und Innovation? Unbestritten ist, dass ein Großteil der Bevölkerung dem Fernsehen im Medienkonzert nach wie vor die meiste Zeit zur Verfügung stellt. Das ist nicht gleichbedeutend mit Aufmerksamkeit, wie der gesunde Fernsehschläfer weiß. Aber immerhin.

Doch hat das Fernsehen wirklich noch den Einfluss, den es im letzten Jahrhundert hatte? In der Studie "TV 2010" konnten wir nachweisen, das zumindest die oft bemühte Informationselite begründete Zweifel hat.

Der Anspruch des Mediums Fernsehen war über Jahre Information (Bildung) und Unterhaltung. Die Charakteristika des Mediums liegen in seiner Visualität (man glaubt sich anwesend und beteiligt), Aktualität (zumindest bei Live-Übertragungen) und Zentralität (ein Sender, beliebig viele Empfänger). Das Rezeptionsverhalten des Mediums ist geprägt durch seine niedrige Verständnishürden (man muss Fernsehen nicht lernen wie Schrift oder Sprache). Alles zusammen führte in der Konsequenz dazu, dass Fernsehen gesellschaftliche Realität vermittelt. Alle können es sehen, alle unterstellen, dass auch alle anderen es sehen, und dann kann man natürlich auch prima darüber sprechen, so als wären alle am Vorabend auf ein und derselben Veranstaltung gewesen.

Wie haben sich diese Parameter in den letzen Jahren geändert? Wer Information sucht, geht ins Internet. Wer aktuell sein will, geht ins Internet. Wer Objektivität schätzt, misstraut der zentralen Mediengewalt der Content Tycoons vom Schlage eines Berlusconi, Murdoch oder Saban. Wer schöne Bilder mag, setzt auf DVDs, Dolby Surround und Heimkino. Da bleibt für das Fernsehen eigentlich nur noch die Unterhaltung. Reicht das aus, um Leitmedium einer Gesellschaft zu sein?

Sicherlich nicht. Und deshalb gibt?s ja die cleveren Manager, die sich schon eine Lösung zurechtgelegt haben: Es braucht eine Innovation, die einer Revolution gleichkommt. Und diese Innovation liegt auch schon fertig in der Schublade: Alle warten auf die Digitalisierung des Fernsehens.

Großes Warten auf Digital?

Wirklich alle? Sicherlich nicht! Der Nutzen der Umstellung der analogen auf digitale Übertragung ist dafür nicht greifbar genug. Selbst Experten fällt es schwer, die Vorteile des digitalen Fernsehens klar zu formulieren. Man hört etwas von besserer Bildqualität (für die man allerdings bessere Ausgabegeräte braucht). Auch der Empfang von weiteren 200 Programmen wird genannt (wobei man sich heute schon bei den ersten 100 langweilt). Der bessere Zuschnitt auf kleinere Zielgruppen sei möglich (wobei solche Expertenzirkel schon heute mit Fachzeitschriften und Internetforen sehr gut zurechtkommen). Ja, und dann noch das Argument, mit digitalem Fernsehen hält MS Windows endlich auch im Wohnzimmer Einzug.

Nein, Digitalisierung im Sinne von Übertragung digital komprimierter Programme ist sicherlich kein Nutzen. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass die Digitalisierung keine Folgen haben wird.

Was wollen die Zuschauer, die heute bereits über Internet-Erfahrung verfügen? In der Studie "TV 2010" haben wir dazu ganz konkrete Antworten erhalten:

- Plumpe Unterbrechungswerbung wird genauso störend empfunden wie plumpe Pop-Ups im Internet und man möchte dieses Ärgernis (automatisiert) umgehen.

- Aktuelle und zielgruppenspezifische Nachrichten aus dem Internet sollen das Fernsehprogramm ergänzen. Man möchte trotz Lean-Back-Situation nicht auf individuelle Informationen verzichten.

- Man will lokale Informationen ins Fernsehprogramm einblenden, zum Beispiel Anzeige eines Anrufs mit Rufnummer, Aufschalten einer im Kinderzimmer installierten Kamera aufs Fernsehbild, Einblenden der Daten der Wetterstation am Wohnzimmerfenster und so weiter.

- Das Fernsehbild soll qualitativ besser werden. Jeder, der schon einmal eine DVD gesehen hat, kennt die Unterschiede in der Bildqualität. Noch mehr Potenzial bieten High-Definition Standards. Wenn schon digital, dann auch mehr Schärfe, Brillanz und Tiefe.

- Automatisches Aufzeichnen von Sendungen in DVD-Qualität ist ein Wunsch, denn wenn das Bild schon digital kommt, sollte man es auch direkt als Video-Scheibe archivieren können - nach Möglichkeit auch wieder ohne Werbung.

- Und ganz wichtig: besseres Programm! Internetnutzer sind anspruchsvoll und vor allem durch die teilweise beschämende Programmqualität enttäuscht. Die siebte Castingshow braucht niemand, auch nicht digital.

Werden diese Wünsche durch die Digitalisierung der Übertragung erreicht? Mit Sicherheit nicht! Ähnlich wie es die Büro-Revolution gezeigt hat, folgen offensichtlich einige Schritte aufeinander, bis aus einem "technisch möglichen" ein "von der Mehrheit genutztes" Phänomen wird.

Sehen wir uns die Schritte der Büro-Revolution kurz an. Es gab seit Jahrzehnten die Schreibmaschine zum Erstellen von Belegen, ein funktionierendes Datenablagesystem (Papier, Lochkarte oder Magnetstreifen) zum Ablegen selbiger und Post und Telefon zur Kommunikation über Distanz. Dann kommen Mitte der 80er Jahre die ersten Personal Computer zum Einsatz.

Sie werden zunächst zur persönlichen Effizienzsteigerung eingesetzt: Die Sekretärin verwaltet Adressen elektronisch, der Konstrukteur nutzt eine CAD-Software et cetera. Wir nennen diese Phase "Personal Productiviy".

Im zweiten Schritt, ab Anfang der 90er Jahre, werden die einzelnen Arbeitsplatzmaschinen miteinander vernetzt. Es folgt die Vernetzung über Distanz zwischen verschiedenen Rechnerverbünden durch ein standardisiertes Internet Protocol. Die "Connectivity" steht im Fokus.

Schließlich werden die Anwendungen bedienbar und administrierbar, ohne dass es gesonderte Schulungen und Ausbildung braucht. Die "Convenience" hält Einzug in Betriebssysteme und Anwendungen.

Und schließlich - gezollt der Standardisierung - entstehen Sicherheitslücken, und die miteinander vernetzten Systeme müssen geschützt werden. Diese Reihenfolge - Personal Productivity, Connectivity, Convenience, Security - sehen wir ähnlich im Bereich Wohnzimmertechnologien, wenn auch mit anderen Ausprägungen.

Wir stehen heute da, wo die Büros Mitte der 80er Jahre standen: Wir haben eingeführte Systeme und Nutzungsschemata für das Fernsehen. Es gibt pro Haushalt mehrere Geräte, jeder kann sie bedienen, jeder nutzt sie individuell nach seinen Vorstellungen, um Fernsehprogramme zu konsumieren. Jetzt kommt neue Technologie.

Was wird passieren?

Der erste Schub muss einfach und klar verständlich sein. Er kann daher nur lauten "Personal Experience". Diese kann im Wesentlichen nur dadurch gesteigert werden, dass die Bilder eindrücklicher werden, dass die visuelle Qualität gesteigert wird. Wer schon einmal die Präsentation einer BluRay-Disc auf einem HD-tauglichen Monitor gesehen hat, wird verstehen, was gemeint ist.

Der zweite Schritt wird in der sinnvollen Vernetzung des Fernsehens mit anderen Geräten liegen. Dabei wird die Anbindung an das Internet nur eine Facette sein, da zum Surfen auch Eingabegeräte wie Tastatur und Maus gebraucht werden, die man "lean back" üblicherweise nicht bedienen möchte. Es geht also um die Vernetzung des Fernsehens mit Geräten und Diensten, die zum jeweils individuell bestimmten Lebensmittelpunkt zählen. Wir haben dafür den Begriff Central Area Network geprägt.

Geräte und Dienste im Central Area Network können etwa Telefon, Heizung, Sicherheitssysteme, E-Mail, Message-Services, Media-Server, Stereoanlage sein. Diese sollten individuell am Fernsehen darstellbar beziehungsweise über das Fernsehgerät steuerbar sein.

Dann - und erst ab diesem Punkt können wir von Mainstream reden - werden die vernetzten Systeme mit erhöhter "Personal Experience" einfach gemacht. Geräte müssen sich quasi automatisch ins Central Area Network einklinken können. Die Vernetzung muss kabellos funktionieren. Die Dienste müssen "dienen", und dürfen nicht "nerven".

Und schließlich, auch das darf man nicht verschweigen, führt Standardisierung und Vernetzung aufgrund offener digitaler Gerätekommunikation automatisch dazu, dass solche Systeme von außen angreifbar werden, und wir werden auch im Wohnzimmer zu einer neuen Sicherheitsdebatte kommen.

In welchen zeitlichen Dimensionen wird sich dies abspielen? Führen wir die Analogie weiter, heißt das: Wir haben heute im Wohnzimmer bezogen auf die Büro-Revolution den Zeitpunkt 1985: etablierte analoge Technologie ist flächendeckend vorhanden. Der erste Schritt - Einführung von Geräten zur Steigerung der "Personal Experience" - fängt mit dem Angebot digitaler Videorekorder und Multimedia-Server gerade an und wird wahrscheinlich noch mindestens fünf Jahre dauern, bis eine kritische Masse erreicht ist. Diese wird sich dann etwa ab 2010 auf das Thema "Vernetzung" stürzen, bis vielleicht ab 2015 die Technologie so weit ist, dass sich eine "echte" Revolution à la Internet abspielen können wird. Und ab 2020 werden wir dann ein ernsthaftes Sicherheitsproblem im Wohnzimmer haben.

Schöne neue Welt?

Halten wir's mit Luhmann: "Man weiß mithin, dass die künftigen Gegenwarten anderes bringen werden, als die gegenwärtige Zukunft zum Ausdruck bringt." Oder kurz: Vielleicht kommt ja doch alles ganz anders...

Steckbrief

Dr. Thomas Becker

Dr. Thomas Becker, Dipl.-Medienwirt, ist Geschäftsbereichsleiter TV-Software und Marketingleiter bei Buhl Data Service. Nach einem Studium der Medien-Planung, -Entwicklung und -Beratung an der Universität Siegen arbeitete er als Journalist und Kommunikationsberater.

Kontakt:

tom@sceneo.com

Zur Startseite