Ruiniert vom Kunden: Insolvenz bei vollen Auftragsbüchern

15.11.2001
Mancher Umsatz trägt den Todeskeim fürs Unternehmen in sich - und viele Firmen merken es nicht, weil ihnen ein kundenorientiertes Controlling fehlt.

Die Insolvenz bei vollen Auftragsbüchern ist eine in-teressante Variante der Selbstsabotage von Unternehmen. Man kann, falls man genügend Abstand zum betreffenden Konkursverfahren hat, manch amüsanten Aspekt dieser besonders häufigen Form des Manager-Harakiri beobachten. Zum Beispiel, dass es entgegen allen Meldungen vom Aussterben dieser Spezies immer noch Manager gibt, die allen Ernstes glauben, Umsatz sei was Gutes.

Der aufgeklärte Manager weiß: Nichts ist gefährlicher als Umsatz. Da wird zum Beispiel in der Bremer Niederlassung eines internationalen Softwarekonzerns der Verkäufer des Monats gekürt. Natürlich ist das, wie kann es anders sein, der Mann mit der dicksten Umsatzsteigerung.

Kunden mit mehr als drei offenen Rechnungen

Als der zufällig im Hause weilen-de Risikomanagement-Consultant sich die Zahlen des Champions etwas genauer ansieht, entdeckt er Erstaunliches. Der Deckungsbeitrag (DB) des Verkäufers ist keineswegs Spitze, sondern kommt lediglich auf Platz vier (von sechs Verkäufern). Seinen Umsatzrekord hat er größtenteils fetten Aufträgen von Kunden zu verdanken, welche die Finanzabteilung unter "C" kategorisiert: mehr als drei Rechnungen ausstehend. Unter seinen Umsatzbringern ist darüber hinaus kein einziger Neukunde. Und so weiter. Fazit: Der gekrönte Bremer Umsatz-Champion ruiniert das Unternehmen!

Wie kann das die Unternehmensleitung nicht nur durchgehen lassen, sondern auch noch - Gipfel der Selbstverhöhnung - belohnen? Ganz einfach: Dieses Unternehmen kann offensichtlich nicht zwischen guten und schlechten Kunden unterscheiden. Wohlgemerkt: Die Verkäufer können es. Denn die sehen den Kunden ja. Aber weil sie merken, dass es ihr Brötchengeber nicht kann, verkaufen sie ihm weiter schlechte Kunden.

Der Amerikaner sagt: Es ist schwer, gute Kunden zu finden - Good Customers are hard to find. Das Bremer Unternehmen macht sich nicht einmal die Mühe, sie zu finden. Es verkauft, salopp gesagt, an jeden Dahergelaufenen, der seine Rechnungen nicht bezahlen kann. Viele Unternehmen machen das so. Das geht lange Jahre gut. Bis das Kundenportfolio kippt. Bis man zu viele schlechte Kunden akkumuliert hat: Kunden mit schlechter, das heißt liquiditätsvernichtender oder rentabilitätsschädigender Zahlungsmoral, Alters-, Produkt-, Anwendungs- oder Branchenstruktur, zu viele Alt-, zu wenige Neukunden oder Kunden mit schlechtem Deckungsbeitrag - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Zugegeben, ein guter Verkäufer hat diese Kundenkennzahlen für alle seine A- und B-Kunden im Kopf, nein, im Blut. Leider machen gute Verkäufer im Branchenschnitt nur 20 Prozent des Verkaufsteams aus. Die restlichen 80 Prozent brauchen ein zuverlässiges, kundenorientiertes Controlling (Customer-oriented Controlling, COC), das ihnen hilft, gute von schlechten Kunden zu unterscheiden. Aber würden sich die Verkäufer auch danach richten? Die Vertriebs-Puristen behaupten ja immer, dass ein Verkäufer nach Umsatz verkauft, wenn er nach Umsatz bezahlt wird. Ohne Veränderung der Anreizstruktur verändere sich somit nichts an der vertrieblichen Unternehmenssabotage. Doch die Praxis beweist täglich das Gegenteil.

Sobald der COC-Rechner im Innendienst-Büro steht und seine ersten Kennzahlen-Ranglisten (pro Verkäufer und Kunden) am schwarzen Brett hängen, lassen drei Viertel aller Verkäufer mit einer Geschwindigkeit die Finger von schlechten Kunden, dass man meinen könnte, sie hätten sich verbrannt.

Der Grund ist ein psychologischer: Neurotisch erfolgsorientierte Menschen wie Verkäufer hassen nichts mehr, als in Verbindung mit Verlierern gebracht zu werden. Vor allem, wenn das COC zeigt, wo sie stattdessen die Gewinnerkunden finden und anzapfen können.

Viele Unternehmen haben seit Jahren ein rudimentäres COC, auf das sie bei Gelegenheit gerne und stolz hinweisen: "Wir stellen regelmäßig Kundenportfolios nach 27 Kennzahlen auf!" Hut ab! Und wann machen Sie das? "Immer zum Jahres-abschluss, natürlich!"

Da merkt man wieder mal, dass Manager kein Ausbildungsberuf ist. Was nützt denn einem Verkäufer, der eben einen Riesenauftrag an Land ziehen will, das Portfolio von vor einem Jahr? Der Mann muss sofort nach, besser noch vor jedem Auftrag, jeder Neuakquise, jeder Sonderaktion, jedem Rabatt, jeder Konditionsverhandlung und jedem Zielgespräch wissen, was er denn da an Land zieht und welche Auswirkungen das auf sein eigenes und das Kundenportfolio seines Betriebs hat. Eben diese zeitnahen und zielführenden Informationen liefert ein gutes COC.

Viele Geschäftsführungen würden gerne ein solches System einführen, wenden jedoch ein: "Damit wäre unser Controlling hoffnungslos überfordert." Ein tragischer Irrtum. Denn ein korrekt etabliertes COC ist kein Zusatzaufwand. Es nutzt lediglich Zahlen, die sowieso schon im Unternehmen vorhanden sind, und bündelt sie auf einem Rechner. Dazu braucht man weder große Investitionen noch eigenes Personal. Das macht selbst für einen Betrieb mit Millionenumsatz ein einziger Controller neben seiner normalen Arbeit. Ein Unternehmen ohne COC ist ein Problem auf Abruf. Das einzig Gute: Als Kunde kann man ein solches Unternehmen ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Und die meisten tun das auch.

www.memconsult.de

Die Autorin Johanna Joppe ist Senior Consultant bei Memconsult in Kutzenhausen bei Augsburg.

Dieser Beitrag erschien zuerst im "Handelsblatt" vom 2.11.2001.

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