Seelische Stabilität als Grundlage für Leistung und Erfolg

20.05.1999

MÜNCHEN: Die Anforderungen des täglichen Lebens im allgemeinen und des Berufs im speziellen werden zunehmend komplexer. Aus dieser Vielschichtigkeit erwächst eine neue Beanspruchungskategorie: entscheiden und handeln unter hoher Prognose- und damit Zukunftsunsicherheit.Kaum etwas anderes beeinträchtigt das Lebensgefühl der Mehrzahl der Menschen so stark und wirkt sich so destabilisierend und leistungsbeeinträchtigend aus wie unklare Verhältnisse. Nur wenige Menschen laufen unter existentieller Unsicherheit zu Hochform auf. Die Mehrzahl reagiert mit Angst. Und wie Angst sich beispielsweise in einer Organisation auswirkt, das haben Professor Panse und sein Assistent Stegmann von der Fachhochschule Köln vor gar nicht so langer Zeit in beeindruckender und sehr nachdenklich stimmender Weise aufgezeigt (Kostenfaktor Angst, Verlag Moderne Industrie, Landsberg, 3. Auflage 1997).

Leben und Arbeiten unter den gegebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unsicherheitsbedingungen stellt mithin für Arbeitnehmer und -geber gleichermaßen eine Gefahr dar. Denn: Bleiben diese Gefühle der Verunsicherung und der Ohnmacht sich selbst überlassen, schlagen sie einen Menschen zunehmend in ihren Bann - bis sie ihn schließlich gänzlich gefangen nehmen und seine Energie und seine Aktivität nahezu vollständig lähmen.

Um in den sozio-ökonomischen Instabilitäten und Turbulenzen nicht die Orientierung und den Boden unter den Füßen zu verlieren, ist es daher im Berufs- wie im Privatleben für jeden einzelnen wichtig, dieses wuchernde Gefühlskonglomerat unter Kontrolle zu bringen. Eine informationsbetonte, integrierende, sozialen Rückhalt gebende Organisationskultur ist dabei auf gesamtbetrieblicher Ebene die entscheidende Maßnahme.

"Richtiges" und "Falsches" Denken

Schlüsselmaßnahme auf einzelpersönlicher Ebene ist das Bemühen, die sich verflüchtigende äußere Sicherheit durch eine stabilere innere zu kompensieren. Ansatzpunkt für dieses Bemühen ist das Denken. In seiner Gedichtsammlung "Lieder und Sprüche" gibt Theodor Fontane in einem kleinen Vierzeiler eine erste einleuchtende Begründung dafür:

Du wirst es nie zu Tücht'gem bringen.

Bei Deines Grames Träumereien,

Die Tränen lassen nichts gelingen:

Wer schaffen will, muß fröhlich sein. Wie das eigene Denken diesen neuen Umständen in ganz grundsätzlicher Form angepaßt werden sollte, umreißt Michael Kastner, Professor für Organisationspsychologie an der Universität Dortmund: "Auf der emotionalen Ebene, also im Bauch-Bereich, müssen wir lernen, mit Unsicherheiten, Intransparenz und Ängsten zu leben. Auf der kognitiven Ebene, also im Kopf-Bereich, müssen wir lernen, mit Komplexität, Vernetzungen und Dynamiken umzugehen."

Dabei steht für Kastner noch etwas ganz Grundsätzliches fest: Mit den tradierten Denkmethoden haben wir immer weniger Erfolg. Das Denken in jeweils gradlinigen Zweierbeziehungen nach dem Muster "wenn - dann" (lineares, binäres und kausales Denken) stammt noch aus unserer Zeit als Jäger und Sammler. Noch heute, so Kastner, sind wir solche monokausalen Denkmaschinen, die in unserer zukünftigen Welt kaum Chancen haben.

Orientierungs- und Veränderungskompetenz

Die Konsequenz für Betrieb und Mensch ist unübersehbar: Fachliche, methodische und soziale Kompetenzen sind und bleiben entscheidende Erfolgsbausteine des Lebens. In den Rang der eigentlich kritischen Faktoren für die betriebliche wie die persönliche Zukunft steigen aber zwei weitere Kompetenzen auf: Die Orientierungs- und die Veränderungskompetenz.

Eine der Gretchenfragen der modernen Lebens(um)welt lautet damit: Wie werden Menschen ( und - was bei der zunehmenden Verschärfung des Kostendrucks und des Wettbewerbs ungemein wichtig ist - mit ihnen die Organisationen, in denen sie tätig sind) orientierungs- und veränderungskompetent(er)? Oder anders gefragt: Wie stellt man seine Handlungskompetenz auf diese zeitgerechte breitere und damit auch in geistig-seelischer Hinsicht entsprechend tragfähigere Grundlage?

Vor allem durch eines: Indem man sich um seine mentale Fitneß kümmert. Was aber verbirgt sich hinter diesem inflationär gebrauchten, schillernden Begriff?

Hans Eberspächer, auch in der Wirtschaft als Fachmann für mentale Fragen nicht unbekannter Sportpsychologe und Professor an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, vermittelt eine erste Vorstellung: "Die Kernidee zur Entwicklung mentaler Kompetenz ergibt sich aus der Einsicht, daß wir immer als erlebende Personen in erlebten Situationen handeln. Das jeweilige subjektive Situationsmodell reguliert also unser Handeln. Der griechische Philosoph Epiktet - er lebte im Übergang vom ersten auf das zweite nachchristliche Jahrhundert - verdeutlicht mit dem Satz 'Es sind nicht die Dinge, sondern unsere Ansichten von den Dingen, die unser Handeln steuern' die strategische Bedeutung der mentalen, der subjektiven Widerspiegelung der Situationen, in denen wir handeln."

Die Wirklichkeit in unseren Köpfen

Paul Watzlawick, amerikanischer Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeut österreichischer Herkunft, einer breiten Öffentlichkeit vor allem durch seine zu Kulttiteln avancierten Bücher "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" und "Anleitung zum Unglücklichsein" (beide als Taschenbücher im Piper Verlag) bekannt, drückt diese Tatsache unter einem ganz spezifischen Blickpunkt so aus: Wer seelisch leidet, leidet nicht an der wirklichen Wirklichkeit, sondern an seinem Bild von der Wirklichkeit.

Womit Watzlawick selbstverständlich nicht sagen will, es gebe keine leidvolle Wirklichkeit. Ziel seiner Äußerung ist es vielmehr, darauf aufmerksam zu machen, wie stark der subjektive Blick in die Welt, das eigene Denken, das "Aussehen" und die emotionale (Anmutungs-) Qualität dieser Welt bestimmt. Oder anders ausgedrückt: Wie wir uns in einer gegebenen Umwelt, beispielsweise als Ehepartner oder als Arbeitnehmer in einem Betrieb, fühlen, bestimmen nicht allein die äußeren Umstände. Unser Denken über diese Umstände, unser von vielfältigen Ab- und Zuneigungen, Erfahrungen, Wünschen et cetera vorgeformter subjektiver Blick auf die Umstände, redet da ein ganz gewichtiges Wörtchen mit.

Das erklärt unter anderem auch die gelegentlich etwas verwirrende Tatsache, daß das, was den einen stört, den anderen völlig kalt läßt. Und das wirft gleichzeitig ein erhellendes Licht auf ein Problem, das privat wie beruflich mit schöner Regelmäßigkeit Menschen immer wieder an den Rand der Verzweiflung bringt: die Unmöglichkeit, es allen recht zu machen und alle und alles unter einen Hut zu bringen.

Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit in unserem Kopf und die - wie Watzlawick sagt - wirkliche Wirklichkeit sind zwei Paar Schuhe. Diese Wirklichkeiten stimmen selten überein. Im Positiven wie im Negativen. Als Tatsache an sich ist das nicht problematisch. Die damit verbundene Problematik erwächst aus dem Umstand, daß diese Tatsache im Alltag kaum berücksichtigt wird.

"Mentale Kompetenz"

Mentale Fitneß ist mithin der Ausdruck des Wissens um diese Zusammenhänge. Und des Vermögens, das eigene Bewußtsein entsprechend zu steuern. Eberspächer bevorzugt deshalb auch den Begriff "mentale Kompetenz", um diesen Ausdruck einer persönlichen Fähigkeit klar zu betonen. Etwas plakativ und holzschnittartig ausgedrückt, steht mentale Fitneß oder Kompetenz also für ein Denken, das sich dieses Doppelcharakters der Wirklichkeit stets bewußt ist. Mithin für ein unbefangeneres, ein Denken aus einer gewissen Selbstdistanz heraus. Für ein Denken, das über den Dingen steht, das sich nicht in den vermeintlich festgefügten Koordinaten einer Situation verrennt, das sich die Weite des Blicks bewahrt. Kurz, für einen klaren, zielorientierten Kopf und die Tendenz zu einer gewissen Gelassenheit in jeder Situation. Und für ein Denken, das sich, wie Eberspächer sagt, "durch die Synchronisation von dem, was im Kopf abläuft, und dem, was man tut; also die Übereinstimmung von inneren und äußeren Prozessen, auszeichnet."

Ein Musterbeispiel für Menschen, die sich dadurch nicht auszeichnen, sind in der Arbeitswelt diejenigen, die ihrem Betrieb innerlich gekündigt haben; im Privatleben diejenigen, die sich vor einer längst fälligen Entscheidung, beispielsweise einer Trennung, drücken.

Peter Zürn, geistiger und praktischer Mitbeweger der renommierten Baden-Badener Unternehmergespräche, faßt die Bedeutung dieser Übereinstimmung von Denken und Handeln in seinem über den Alltag und das Alltägliche hinausweisenden Buch "Führung und Vorbild" (FAZ Edition Blickbuch Wirtschaft, Frankfurt 1997) aus dem Gedankengut des Zen heraus in die handlungsauffordernden Worte: "Tue, was du tust, in der gelösten Konzentration ungeteilter Aufmerksamkeit, ganz wach und lebendig, demütig und selbstlos. Werde eins, mit dem, was du tust."

"Um diese Eigenschaft zu entwickeln, muß man Wege finden, sein Bewußtsein so zu ordnen, daß man Kontrolle über seine Gefühle und Gedanken ausübt", schreibt Mihaly Csikszentmihalyi in "Flow - Das Geheimnis des Glücks" (Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 6. Auflage 1998). Und der international anerkannte Motivationsforscher, er lehrt als Psychologieprofessor an der Universität Chicago, belegt durch seine Forschungsarbeiten:

- "Alles, was wir erleben, wird im Bewußtsein als Information dargestellt. Wenn wir in der Lage sind, diese Informationen zu kontrollieren, können wir bestimmen, wie unser Leben aussieht. Wie wir uns fühlen, die Freude, die wir dem Leben abgewinnen, hängt letztlich davon ab, wie der Verstand die tagtäglichen Erfahrungen filtert und deutet."

- "Ein Mensch kann sich glücklich oder unglücklich machen, unabhängig davon, was tatsächlich 'draußen' geschieht, indem er einfach den Inhalt seines Bewußtseins verändert. Jeder kennt Menschen, die eine hoffnungslose Situation in eine Herausforderung verwandeln und bewältigen können, und zwar einfach durch die Kraft ihrer Persönlichkeit."

- "Diese Fähigkeit, trotz Hindernissen und Rückschlägen weiterzumachen, ist eine Eigenschaft, die man bei anderen zu Recht am meisten bewundert; es ist vermutlich der wichtigste Charakterzug nicht nur für den Erfolg im Leben, sondern auch für die Freude daran."

Wir stehen im Stau, aber wur sind auch der Stau

Aus diesen Überlegungen heraus erkärt der amerikanische Sportpsychologe James Loehr mentale Fitneß oder Kompetenz denn auch als eine wohlausgewogene Mischung aus emotionaler Flexibilität, emotionalem Engagement, emotionaler Stärke und emotionaler Spannkraft. Im Blick auf die Anforderungen des gegenwärtigen und noch deutlich mehr des zukünftigen Berufslebens verkörpert

- emotionale Flexibilität die Fähigkeit, sich auf Belastungen und Veränderungen einzustellen und in angespannten Situationen unverkrampft und ausgeglichen zu bleiben; nicht aufzubrausen und in bezug auf die anstehenden Aufgaben und Herausforderungen eine positive Einstellung zu entwickeln und durchzuhalten.

- emotionales Engagement die Fähigkeit, sich unter Druck und Unsicherheit eine geschmeidige, konzentrierte, langfristige Aspekte stets miteinbeziehende zielbezogene Handlungsfähigkeit zu bewahren und nicht in Schein- oder kurzfristig Erfolge versprechende Aktivitäten auszuweichen oder sogar gänzlich zu blockieren.

- emotionale Stärke die Fähigkeit, der Außenwelt (Vorgesetzten, Kollegen, Mitarbeitern, Kunden, Geschäftspartnern, Lieferanten, Wettbewerbern Vertretern der Öffentlichkeit et cetera) unter arbeitsmäßiger, situativer und/-oder zeitlicher Belastung den Eindruck innerer Ruhe und souveräner Aufgabenbezogenheit und Handlungsfähigkeit zu vermitteln anstatt eine Atmosphäre von Hektik, Frustration oder gar Resignation zu verbreiten.

- emotionale Spannkraft die Fähigkeit, vergebene Chancen, Enttäuschungen, Fehlschläge und Mißerfolgserlebnisse als Lernsituationen zu begreifen und zu verarbeiten, definitive Fehler als solche zu erkennen, zu ihnen zu stehen und sie beherzt zu korrigieren und sich so unbefangen anstehenden Aufgaben, im Wege stehenden Problemen und/oder ins Auge gefaßten Zielen zu widmen.

Im Zusammenhang gesehen, ist mentale Fitneß oder Kompetenz der Ausdruck des Vermögens eines Menschen,

- sich nicht impulsiv vom Moment mit seinen noch unverarbeiteten Eindrücken durch ein ständiges Wechselbad der Gefühle ziehen, verunsichern und zu unausgereiften Äußerungen, Entscheidungen und Handlungen verleiten zu lassen, sondern

- sich sowohl von fixierten persönlichen als auch in der Organisationskultur verankerten oder zeitgeistig fixierten Denk- und Verhaltensmustern befreien und von bewährten Erfolgspfaden lösen zu können.

- sich einer Aufgabenstellung auf alternativen Lösungskorridoren nähern; ein Ziel auf ungewohnten beziehungsweise einer Kombination von Wegen erreichen zu können.

- in der Situation über der Situation zu stehen und sich so ungeachtet der Rahmenbedingungen innerlich frei,

(welt-)offen und konzentriert an seiner oberen Leistungsgrenze bewegen zu können.

Psychologieprofessor Kastner resümiert: "Wir sind Opfer unserer sich dramatisch verändernden Arbeitswelt, aber wir sind auch Täter zugleich. Wir stehen im Stau und ärgern uns über ihn, aber wir sind auch der Stau." So gesehen, hat mentale Kompetenz auch etwas mit der Fähigkeit zu tun, sich nicht selbst und einem erfüllten Leben im Wege zu stehen.

Der Autor Hartmut Volk ist freier Journalist in Bad Harzburg.

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