Softwarevertrieb via Internet: Der Fachhandel wird zum Umdenken gezwungen

10.04.1996
HAMBURG: Wie in der gesamten Computerbranche macht sich nun beim Vertrieb von Branchensoftware ein starker Preisverfall bemerkbar. Eine bisher lukrative Einnahmequelle für die mittelständischen Entwicklungshäuser droht damit zu versiegen.

HAMBURG: Wie in der gesamten Computerbranche macht sich nun beim Vertrieb von Branchensoftware ein starker Preisverfall bemerkbar. Eine bisher lukrative Einnahmequelle für die mittelständischen Entwicklungshäuser droht damit zu versiegen.

War zum Beispiel die Entwicklung von Spezialsoftware für praktizierende Ärzte anfänglich ein großes Geschäft, so ist mittlerweile mit dem Verkauf von Neulizenzen nicht mehr viel zu verdienen. Die meisten medizinischen Fachprogramme sind zu Niedrigpreisen erhältlich, so daß der Entwicklungsaufwand auf anderem Wege gedeckt werden muß. Die Medistar Praxis Computer GmbH, mit 9.000 Anwendungen einer der führenden Anbieter von medizinischer Spezialsoftware, verzeichnet bereits seit einigen Jahren eine deutliche Verlagerung der Einnahmequellen. "Die Erlöse aus zusätzlichen Dienstleistungen haben die Rolle der Einnahmen aus dem Softwareverkauf übernommen".

Preisverfall macht Umorientierung erforderlich

Über Wartungsverträge und den Serviceleistungen decken wir 80 Prozent des Gesamtetats ab, obwohl wir in den vergangenen Jahren steigende Zahlen bei den Lizenzverkäufen verbuchen konnten", bilanziert Christel Mellenthin, Vertriebsleiterin bei Medistar.

Die gleiche Tendenz ist auch bei anderen Branchenlösungen zu erkennen. Speziell bei der juristischen Spezialsoftware zeichnet sich seit Beginn des Jahres ein ähnlicher Trend ab. "Die Preise für unsere Anwaltssoftware sind im Vergleich zum letzten Jahr um bis zu 70 Prozent gefallen. Dadurch sind unsere Erlöse aus Dienstleistungen und Lizenzverkäufen erstmalig gleichermaßen am Umsatz beteiligt", bestätigt Ulrike Braun, Marketingleiterin der Annotext GmbH, die Entwicklung.

Doch ein derartiger Prozeß drückt sich nicht nur in veränderten Zahlen und Bilanzen aus, sondern erfordert eine Neuorientierung der Unternehmen. Die Dumpingpreise setzen einen eingespielten Mechanismus außer Kraft, denn bisher deckten die hohen Lizenzkosten der Softwarepakete fast den gesamten Entwicklungsaufwand der Unternehmen. So enthielt früher die erste Lizenzierung meist auch einen anfänglichen Full-Service. Vorführungen, Installation, Schulung und Support waren ohne gesonderte Vergütung zu bekommen, Diese Dienstleistungen werden meist von den Distributoren (Händler, Fachhandel) erbracht. Doch gerade hier kommt es durch den enormen Preisverfall zu starken Engpässen, denn die Händler leben von der Provision. Viele Händler müssen aufgeben oder ihren Service stark reduzieren. Der Kunde möchte und kann auf diese Zusatzleistungen jedoch nicht verzichten. Neue Konzepte und Strukturen sollen hier weiterhelfen, um einerseits den Bedarf der Kunden zu decken und andererseits weiterhin ein profitables Arbeiten der Systemhäuser zu gewährleisten.

Volker Andreae, der Geschäftsführer des Hamburger Systemhauses MCT micro computer team GmbH, einem Anbieter von juristischer Spezialsoftware unter Windows, denkt hierbei an die Möglichkeiten des digitalen Mediums: "Das Internet ermöglicht ein neuartiges Konzept beim Softwarevertrieb. Der Direktvertrieb der Hersteller rückt in den Hintergrund."

Ein beispielhaftes Konzept könnte wie folgt aussehen: Die Programme werden über das Internet als Share-Ware zu extrem günstigen Konditionen angeboten. Die ersten Arbeitsplätze sind umsonst und alle weiteren kosten einen Bruchteil vom ursprünglichen Preis. Der gesamte Vertrieb und Service läuft über das Internet, wobei in Einzelfällen nicht auf eine Vor-Ort-Betreuung verzichtet werden kann. Beim Laden der Share-Version wird gleichzeitig eine Registriernummer vergeben. Über diese Nummer können später weitere Arbeitsplätze freigeschaltet werden. Support, Updates und Fehlerbehebung bei der Installation werden auf dem digitalen Weg über das Internet gewährleistet.

Wird ein Vor-Ort-Service benötigt, können die Zusatzleistungen wie Systemaufbau, Einrichten der Arbeitsplatzumgebung, Software-Installation oder Schulungen gegen entsprechendes Entgelt angefordert werden. Das neue Konzept nimmt Abschied vom obligatorischen Full-Service und beginnt mit einer Art Komponententechnik beim Vertrieb und Service.

Branchensoftware wird zur Share-Ware

Hat sich die Hinwendung zu einer sogenannten Komponententechnik in der modernen Computertechnologie schon länger durchgesetzt - hier geht der Trend vom individuellen Großrechner (Mainframe-Anwendungen) hin zu einer flexiblen Netzwerkumgebung (Client-Server-Anwendungen) - so ist diese Vorgehensweise im Vertrieb und Service gänzlich neu. Der Komplettpreis für Softwarelizenzen wird in Lizenzkosten, die gegen Null sinken, und Servicekosten aufgesplittet. Die Entwicklungskosten sollen durch die zusätzlichen Leistungen oder separate Wartungsverträge gedeckt werden, wobei jeder Anwender individuell entscheiden kann, welche Dienstleistungen er in Anspruch nehmen möchte.

Die Zielgruppe geht daher vom technisch versierten Anwender bis hin zum Einsteiger ohne spezielle Vorkenntnisse. Im günstigsten Fall kann die Software fast zum Nulltarif genutzt werden, aber auch Anwender, die einen individuellen Full-Service wünschen, können bedient werden. In allen Fällen steht die Kommunikation per E-Mail und der Service über das Internet im Vordergrund.

Der Direktvertrieb nimmt konkrete Formen an

Innerhalb eines solchen Konzepts sind die Schulungen gänzlich von der Lizenzierung des Programms abgekoppelt. Es besteht die Möglichkeit bei einer kompletten Installation über das Internet, völlig auf Schulungen zu verzichten und das gesamte System selber zu betreuen.

Ansonsten stehen unabhängige Service-Center für die allgemeinen Schulungen zur Verfügung. Für fachspezifische Schulungen steht jederzeit ein Trainerteam des Herstellers bereit. Langfristiges Ziel des Konzeptes ist, möglichst die gesamten Dienstleistungen über das Internet abwickeln zu können.

Seit einigen Wochen führt MCT ein derartiges Konzept in der Praxis durch. MCT richtet sich mit seiner juristischen Spezialsoftware "Phantasy" an Endkunden (Rechtsanwälte, Rechtsabteilungen, Inkassobüros) und bietet damit eine Standardlösung unter Windows an. Phantasy basiert auf MS-Office und stellt eine branchenspezifische Erweiterung des MS-Angebots dar, wodurch MCT den Status eines Microsoft Solution Providers erlangt hat.

Bisher vertrieb MCT seine Anwaltssoftware ausschließlich auf dem konventionellen Weg, das heißt über bundesweite Fachhändler oder über den hauseigenen Direktvertrieb (Vollversion 2.990 Mark). Doch seit Anfang Juni, dem Start einer eigenen Homepage im Internet (http:// www.phantasy.de), nimmt der Direktvertrieb über das Internet immer konkretere Formen an. Die Internet-Site bietet neben Hintergrundinformationen wie MCT-Intern, MCT-News, MCT-Pressemitteilungen, Online-Support, juristische Links zur Informationssuche und eine abgespeckte Share-Ware-Version zum Downloaden an.

Diese Version steht gegen eine geringe Registrierungsgebühr (49 Mark/ bis Ende Oktober noch unentgeltlich) für zwei Arbeitsplätze zur vollen Verfügung und ermöglicht die wesentlichen Funktionen der Vollversion. Das Freischalten von weiteren Arbeitsplätzen und die Aufstockung mit weiteren Funktionsmodulen schlagen dann wieder voll zu Buche. Insbesondere der technisch aufgeschlossene Anwalt mit EDV-Know-how gehört zur primären Zielgruppe der neuen Vertriebsform.

Fehlermeldungen gehen per E-Mail an den Support

Mittlerweile findet ein Großteil der Kommunikation über die elektronische Post des Internet statt. Fehlermeldungen bei der Installation gehen per E-Mail direkt zu MCT und werden ebenso beantwortet oder direkt online behoben. "Wir wollen langfristig versuchen, den Großteil des Supports und der Wartung über das Internet zu erledigen", betont Volker Andreae den Einsatz der digitalen Technik. Auf ein internes Trainerteam, das durch ganz Deutschland reist und vor Ort Vorführungen, Schulungen, Installationen und Wartungsarbeiten durchführt, kann aber auch bei MCT nicht völlig verzichtet werden. Auch externe autorisierte Phantasy-Händler spielen bei der Erbringung dieser Dienstleistungen eine wichtige Rolle.

Der Großteil des Umsatzes soll in Zukunft nicht über Neulizenzverkäufe, sondern über den Vertrieb von Programmerweiterungen, Wartungsverträgen, Schulungen und ähnlichen Zusatzleistungen erzielt werden. Je größer die Verbreitung der Spezialsoftware wird, desto höher wird der Bedarf an den sogenannten Zusatzleistungen sein. Und damit werden sich die Kassen bei MCT füllen, so jedenfalls die Hoffnung des Geschäftsführers.

Die ersten Monate geben ihm recht. Seitdem MCT auf seiner Internet-Site diese neuartigen Dienstleistungen anbietet, ist das Interesse an der juristischen Spezialsoftware erheblich gestiegen. "Wir bekommen jeden Tag fünf bis zehn Anfragen zu unserem Internet-Angebot", bestätigt Michael Böhme, Vertriebsleiter bei MCT, den positiven Trend.

Ein derartiges Konzept ist erst möglich und sinnvoll geworden, seitdem die superschnellen Internetverbindungen existieren. Um früher drei Megabyte downzuloaden, brauchte man mehrere Stunden, doch heute ermöglichen die ISDN-Leitungen und entsprechende Browser (Online-Server) das Downloaden derselben Datenmenge in sechs Minuten.

Auch Annotext plant eine eigene Homepage im Internet. Ulrike Braun: "In absehbarer Zeit wollen wir für interessierte Kunden einige Serviceleistungen über das Internet anbieten. Ein Support per Online wäre denkbar." Und auch Mediastar denkt an eine Fernwartung per Modem oder Internet, doch "diesem Vorhaben stehen momentan noch datenschutzrechtliche Gründe im Wege." Neue Techniken und neue Konzepte werden die Zukunft der mittelständischen Systemhäuser bestimmen. Und wer nicht stets auf der Suche nach neuen innovativen Lösungen ist, wird irgendwann den Anschluß verlieren. So sind die Spielregeln in der schnellebigen Branche der neuen Medien. Thomas Lemenkühler

Zur Startseite