Stärken ausbauen oder Schwächen abbauen?

20.06.2006
Viele Menschen arbeiten ihr Leben lang daran, ihre "Schwächen" auszumerzen, statt an ihren Talenten zu feilen. Dabei erleiden sie oft Schiffbruch - auch weil sich hinter den meisten unserer so genannten Schwächen Stärken verbergen, meint Unternehmensberater Georg Kraus.
Wer Erfolg haben will, sollte sich nicht ständig mit seinen Schwächen beschäftigen. Foto: Deutscher Anwaltverein.
Wer Erfolg haben will, sollte sich nicht ständig mit seinen Schwächen beschäftigen. Foto: Deutscher Anwaltverein.
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"Ich bin pedantisch." "Ich bin häufig ungeduldig." Solche Aussagen hören Coaches oft, wenn sie Klienten fragen, warum sie mit bestimmten Aufgaben und Situationen häufig Probleme haben. So detailliert listen sie dann ihre "Schwächen" auf, dass man den Eindruck gewinnt: Diese Person hat mehr "Schwächen" als "Stärken". Dabei zeigt ein kurzer Blick in ihren Lebenslauf meist: Sie hat ihren bisherigen (beruflichen) Lebensweg durchaus mit Erfolg gemeistert.

Ähnliche Empfindungen drängen sich oft auf, wenn sich Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern zu Förder- und Entwicklungsgesprächen zusammensetzen. Auch dann spielen die "Schwächen" des Mitarbeiters oft eine so große Rolle, dass man sich fragt: Warum hat das Unternehmen dem Mitarbeiter noch nicht gekündigt? Eine Ursache hierfür: Viele Führungskräfte thematisieren in den Förder- und Entwicklungsgesprächen vor allem, was in der Vergangenheit nicht optimal verlief. Nur wenig Zeit verwenden sie hingegen darauf, mit dem Mitarbeiter zu erkunden: Was lief gut? Warum lief es gut? Welche besonderen Fähigkeiten zeigte der Mitarbeiter dabei? Und, unter welchen Voraussetzungen könnte er seine "Stärken" künftig noch besser entfalten? Was gut war, wird im Handumdrehen abgehakt, um anschließend die Aufmerksamkeit ganz auf die Schwächen und Versäumnisse zu richten.

Diese Schieflage spüren auch die Mitarbeiter. Deshalb erfahren sie die Förder- und Entwicklungsgespräche vor allem als Kritikgespräche. Folglich blicken sie ihnen eher mit Unbehagen entgegen, als sich auf sie zu freuen, weil sie wissen: In dem Gespräch suchen mein Chef und ich einen Weg, wie ich meine Fähigkeiten noch besser entfalten kann. Eine Ursache hierfür ist: Vieles, was wir selbst - und Menschen, mit denen wir Kontakt haben - gut machen, erachten wir als selbstverständlich. So erfüllt es zum Beispiel manch guten Organisator nicht mit Stolz, dass er gut organisieren kann. Und viele exzellente Zuhörer sind nicht stolz darauf, dass sie gut zuhören können. Entweder, weil ihnen diese Fähigkeit nicht bewusst ist, oder, weil sie dieses Können als selbstverständlich erachten.

Anders ist es mit den Denk- und Verhaltensmustern, an denen wir uns regelmäßig stoßen. Sei es, weil wir ein anderes Wunschbild von uns haben oder weil sie uns im Alltag tatsächlich häufig Probleme bereiten. Mit diesen unerwünschten Denk- und Verhaltensmustern beschäftigen sich viele Menschen tagaus, tagein. Diese "Schwächen" versuchen sie abzubauen, statt ihre Stärken auszubauen.

Stärken sind nicht der Rede wert

Ähnlich verhalten sich viele Führungskräfte. Auch sie erachten das, was ihre Mitarbeiter gut können und tun, oft als selbstverständlich. Sei es, dass sie alle Termine einhalten oder viel Eigeninitiative zeigen. Also verlieren sie hierüber keine großen Worte. Stattdessen wenden sie ihre Aufmerksamkeit den Verhaltensmustern zu, bei denen ihre "Untergebenen" ihrem Wunschbild des "idealen" Mitarbeiters nicht entsprechen - selbst wenn diese für den Arbeitserfolg nur eine geringe Bedeutung haben.

Ein Umdenken findet oft erst statt, wenn der Mitarbeiter das Unternehmen verlässt und ein Neuer seinen Platz einnimmt. Dann wird der Alte häufig glorifiziert. "Der Mayer war ein toller Mitarbeiter. Der ließ sich zwar schwer führen, aber verkauft hat er wie ein Weltmeister." Dann ist das, was zuvor selbstverständlich war, plötzlich nicht mehr selbstverständlich. Plötzlich werden die Stärken des Ex-Mitarbeiters gewürdigt und seine Schwächen sind nur noch ein Anlass für Anekdoten. Und alle beklagen, dass dieser "wertvolle Mitarbeiter" das Unternehmen verließ - nur weil er meinte, er könne in ihm seine Fähigkeiten nicht voll entfalten.

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