Steigerung der Wertschöpfung statt Umsatzwachstum

27.06.2002
Die IT-Branche ist im Umbruch. Die Jahre der großen zweistelligen Umsatzsteigerungen sind vorbei. Unternehmen, die profitabel bleiben wollen, müssen an anderer Stelle ansetzen. Im folgenden Beitrag erläutert Michael Dressen, warum es zu einer Steigerung der Wertschöpfung keine Alternative gibt.

Die IT-Branche kann auf ein gigantisches Wachstum zurückblicken. Vor neun Jahren, also 1993, schrieb ich in der italienischen PC-Fachzeitschrift "Top Trade": "Heute steht die IT-Industrie, vor allem die PC-Industrie, erst am Anfang einer großartigen Entwicklung. Der weltweite Absatz von PCs wird dieses Jahr die Grenze von 35 Millionen Stück überschreiten. Das ist das erste Mal, dass genauso viele PCs wie Pkw verkauft werden. Es gibt keine vergleichbare Entwicklung in einer Industrie, die in nur 20 Jahren ein Wachstum hinlegt, wofür zum Beispiel die Automobilindustrie 70 Jahre gebraucht hat."

Heute werden jährlich zirka 130 Millionen PCs verkauft und zirka 40 Millionen Pkw. Die Produktion von Autos wurde also um 14 Prozent gesteigert, die von PCs um 272 Prozent.

Allerdings ist das Wachstum der IT-Industrie bereits seit einigen Jahren abgeflacht. Schon vor einem Jahr stellten die Marktforscher in den USA fest, dass der Anteil der Haushalte mit PCs nicht mehr wächst. Die IT-Industrie ist erwachsen geworden, und das ungebremste Wachstum geht - wie in jeder anderen Industrie auch - in ein zyklisches Wachstum über. Das ist allgemein wenig umstritten. Es ist aber nur die halbe Wahrheit.

Kostenreduktion und Verringerung der Wertschöpfung

Die IT-Industrie gehört zu den am schnellsten gewachsenen Industrien seit der industriellen Revolution vor 250 Jahren (nur die mobile Telekommunikation und das Internet haben die Wachstumsgeschwindigkeit noch übertroffen). Die IT-Industrie gehört aber auch zu den am stärksten von Kostenreduzierungen getriebenen Industrien.

Sehr gut nachvollziehen lässt sich diese Entwicklung am Beispiel der Computer-Distribution. Mitte der 80er-Jahre arbeitete die Computer-Distribution mit einer Handelsspanne (Wertschöpfung) von 25 Prozent und einem Kostenanteil von 21 Prozent. Die Computer-Distribution war immer um zwei Dinge bemüht: erstens, den Kostenanteil zu drücken; zweitens, den Wertschöpfungsanteil zu stabilisieren, also die Gewinnmarge zu erhöhen. Wie wir wissen, gelang die Reduktion der Kosten in einer beispielhaften Weise. Heute arbeiten die großen Distributoren wie Ingram Micro oder Tech Data mit weniger als vier Prozent Kosten (in Relation zum Umsatz).

Leider konnte der Wertschöpfungsanteil (Handelsspanne) nicht wie erhofft stabilisiert werden, sondern fiel von 25 Prozent auf etwa fünf Prozent. Bei den Herstellern verlief diese Entwicklung ebenso. Dell beispielsweise erzielte 1993 noch einen Wertschöpfungsanteil von 22,3 Prozent. Bis 2001 fiel dieser auf 17,7 Prozent. Die Kosten hingegen konnten nur von 15,4 Prozent auf 12,1 Prozent reduziert werden. Das ist allerdings meilenweit von der Wertschöpfung und den Kosten von HP entfernt. HP erzielte im Jahre 2001 eine Wertschöpfung von 26 Prozent bei 22,8 Prozent Kosten. Die Fusion zwischen HP und Compaq dient dem Ziel, die so genannten Synergien zu erzielen, was nichts anderes heißt, als der Kostenstruktur von Dell näher zu kommen. Dabei wird mit Sicherheit auch wieder die Wertschöpfung bei HP verringert.

Warum ist diese Entwicklung so wichtig? Offensichtlich sind der Reduktion von Kosten und der Wertschöpfung in einem Unternehmen Grenzen gesetzt und die sind natürlich nicht erst bei Null. Bei der Distribution sind diese Grenzen wahrscheinlich erreicht. Zu Beginn der Entwicklung konnte die Distribution aus 25 Prozent Wertschöpfung vier Prozent Gewinn erzielen, was bei fünf Prozent Wertschöpfung unmöglich ist. Mit Erreichung des absoluten Optimums an Kostenstruktur bei gleichzeitigem Verfall der Wertschöpfung ist eine Steigerung des Unternehmenswertes nur noch bei Wachstum möglich. Während die Distribution diesen Zustand bereits erreicht hat, strebt die Masse der IT-Industrie (ausgenommen sind Nischenmärkte, die noch wenig entwickelt sind) in diese Richtung.

Nicht nur von der Konjunktur abhängig

Das Wachstum in der IT-Industrie wurde durch zwei Faktoren in den letzten 40 Jahren getrieben: Ausdehnung auf neue Anwender und technologische Innovation, die zu sehr kurzen Ersatzbeschaffungsinvestitionen führten.

Wie bereits bemerkt, haben Marktforscher in den USA eine gewisse Sättigung im Gebrauch von PCs bei privaten Haushalten festgestellt. Es ist anzunehmen, dass dieses Phänomen auch bald in Europa zu beobachten sein wird. Was den zweiten Faktor, die technologische Innovation, betrifft, so gilt zwar immer noch das Mooresche Gesetz, wonach sich die Komplexität von Chips - die Zahl der Transistoren - etwa alle 18 Monate verdoppelt, aber der Nutzen für den Anwender scheint nicht im gleichen Maße zu wachsen. Damit verringert sich die Notwendigkeit, PCs (und damit alles, was damit zusammenhängt) zu ersetzen, weil die Nutzung des alten PC keine gravierenden Nachteile gegenüber der Nutzung eines neuen bringt.

Beide Wachstumsfaktoren sind natürlich nicht tot. Sie sind aber von einem exponentiellen Wachstum in ein zyklisches übergegangen, was heißt, dass sie sich mehr oder weniger parallel zum Konjunkturverlauf bewegen.

Wertschöpfung geht vor Umsatzwachstum

Hier kommen wir jetzt zu der anderen Hälfte der Wahrheit. Der Konsolidierungsprozess in der IT-Branche ist schon seit langem in Gang. Schauen wir noch einmal auf die Entwicklung der Distribution. Der Prozess der Reduktion der Kosten wurde begleitet durch eine Vielzahl von Pleiten. Wer seine Kosten schneller reduzieren und seine Prozesse besser umstellen konnte, gewann das Rennen. Ähnliches spielt sich jetzt bei den PC-Herstellern ab. Compaq ist der erste große, weltweit agierende Hersteller, der vom Markt verschwindet. Alle orientieren sich am Kostenmodell von Dell. Solange der Markt wuchs, konnte Gewinnsteigerung über Umsatzwachstum viele Prob-leme überdecken. Jetzt, wo die entscheidenden Triebfedern des Wachstums Ausdehnung auf neue Anwender und technologische Innovation ausfallen und dazu eine konjunkturelle Abschwächung kommt, muss der Prozess der Konsolidierung beschleunigt werden. Und diese Tendenz wird längere Zeit anhalten und kompliziert durch die Tatsache, dass in einigen Bereichen der Industrie, wie bei der Distribution, relative Kostenreduzierungen nicht mehr möglich sind und die Wertschöpfung auf ein Minimum reduziert worden ist. Der alte Ausweg, auf die Verringerung der Wertschöpfung durch schnelleres Kosteneinsparen zu reagieren, wird zunehmend versperrt.

Ich möchte hier ein Beispiel aus einer Industrie anführen, die eindeutig zur Old Economy gehört und daher schon lange mit sehr geringem Wachstum auskommen muss. Ich habe vor kurzem die Sanierung eines Großhandelsunternehmens für Rasenmäher und Rasenmäherersatzteile begleitet, das im vergangenen Jahr vor einer Überschuldung stand. Die Branche hat seit Jahren Wachstumsprobleme. An eine Sanierung nach dem Motto "Kosten runter, Umsatz rauf" war also nicht zu denken. Kosteneinsparungen waren nur sehr bedingt möglich. Also blieb nur die Erhöhung der Handelsspanne, was nicht einfach ist, denn die Lieferanten legen hier auch noch den Rabatt, den der Großhändler an den Zwischenhändler gibt, fest.

Wir haben die Handelsspanne wie folgt um zwei Punkte erhöht: Für jede Reklamationsbearbeitung erhielt der Großhändler entweder vom Hersteller oder vom Kunden 15 Euro - Ergebnis: Von 60 Prozent Kostendeckungsgrad im Bereich Reklamation erreicht das Unternehmen heute 110 Prozent. Der Kostendeckungsgrad bei Versandkosten wurde von 65 Prozent auf 120 Prozent erhöht. Die Anzahl der Sendungen und damit die Versandkosten wurden um 40 Prozent verringert, durch die Beschränkung des Nachversandes bei Backlog auf einen Minimumwert. Insgesamt wurde ein Ergebnisswing von vier Prozent in nur zwölf Monaten erreicht, bei leicht rückläufigen Umsätzen. Von dieser Veränderung gehen zwei Punkte auf Kosteneinsparungen und zwei Punkte auf Steigerung der relativen Handelsspanne.

Im Übrigen ist eine der IT-Indus-trie mehr verwandte Branche, die Fernseh- und Rundfunkindustrie, seit 15 Jahren in der Stagnation, und ein Ende ist nicht absehbar. Das wäre dann wirklich ein Tal der Tränen, das vor uns läge. Aber, wie ein Wachstum niemals endlos exponentiell sein kann (hier möchte ich an mein eingangs erwähntes Zitat von 1993 erinnern), kann eine Kontraktion nicht endlos sein. Sie kann von einiger Dauer sein. Und darauf werden wir uns im Rahmen von konjunkturellen Zyklen für die nächsten Jahre einrichten müssen.

Für die Unternehmen in der ITIndustrie bedeutet das Folgendes: Der Steigerung des Gewinnes und daher notwendigerweise der Steigerung der Wertschöpfung (Steigerung der relativen Handelsspanne) muss absolute Priorität gegenüber dem Wachstum des Umsatzes eingeräumt werden. Das wird vielen wachstumsverwöhnten Unternehmern schwer fallen. Aber es kann zum Überleben notwendig sein.

Who is Who?

Michael Dressen

Michael Dressen begann seine berufliche Laufbahn bei der Preußen Elektra AG, bei der er eine Ausbildung zum EDV-Kaufmann absolvierte. Nach verschiedenen Stationen bei Triumph Adler, Sony und Com-puter 2000 wurde er 1991 zum Geschäftsführer der italienischen Computer-2000-Niederlassung berufen. Danach wechselte er zur Tübinger Trans-tec AG. 1996 ging er nach Los Angeles, um dort den Vorsitz von Ameriquest Technologies zu übernehmen. Der amerikanische Distributor war damals von Computer 2000 gekauft worden. 1997 schließlich gründete Dressen die DHI International Unternehmensberatung GmbH, die in Europa, Amerika und Asien vor allem Handelsunternehmen berät. (sic)

www.dhiconsulting.de

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