Transformieren und überleben

Top 3 To-dos für Einzelhändler

Olivier Goethals ist Head of Technology beim Beratungshaus Publicis Sapient und leitet das Technologieteam in den EMEA- und APAC-Ländern für Kunden der Retail-Industrie. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in der erfolgreichen Umsetzung von hochkomplexen internationalen und multidisziplinären digitalen Transformationsprojekten. Zuletzt führte er das französische Digital IT-Department des Handelskonzerns Carrefour und verantwortete die globale Technologiestrategie der Gruppe.
Einzelhändler kämpfen mit den Folgen der Corona-Krise. Digitale Transformation ist der Schlüssel für ihr künftiges Übereben. Lesen Sie hier, was zu tun ist.
Einkauf mit Maske? Nicht immer ein Vergügen.
Einkauf mit Maske? Nicht immer ein Vergügen.
Foto: Drazen Zigic - shutterstock.com

2020 war ein extremes Jahr mit nachhaltigen Auswirkungen darauf, wie Verbraucher mit dem Einzelhandel in Kontakt treten. Covid-19 führte zu einer massiven Verlagerung der Kundennachfrage von Offline- zu Online-Kanälen. Der Online-Umsatz wuchs um mehr als 25 Prozent. Dies entspricht dem doppelten Wachstum des Jahres 2019. Der Lebensmittel-E-Commerce florierte noch stärker und verzeichnete im letzten Quartal 2020 ein Wachstum von 80 Prozent.

Einzelhändler, die ihren Kunden kein Online-Angebot vorhalten konnten, hatten massiv zu kämpfen. Sie bleiben auf Massen unverkaufter Waren sitzen. Einige mussten ihre Geschäfte schließen und gingen in Konkurs. Andere wiederum hatten mit Lieferkettenproblemen zu kämpfen. Da sie Waren nicht rechtzeitig erhielten oder nicht in der Lage waren, ihre Läden zu beliefern, brachen wichtige Umsätze weg.

Die digitalen Kanäle sind für den Handel erfolgsentscheidend, nicht zuletzt weil die Lockdowns weiter anhalten werden und der Impfprozess sich über den Sommer hinziehen wird. Die Verbraucher gewöhnen sich immer mehr an den Komfort, Waren online zu bestellen. Dies hat nachhaltigen Einfluss auf ihr Verhalten in der neuen Normalität und wird die Rolle des stationären Handels grundlegend verändern.

Physische Geschäfte werden sich von auf Verkaufstransaktionen fokussierten Orten hin zu Plattformen wandeln, wo Verbraucher Marken, Produkte und Dienstleistungen „erleben“ wollen. Nur diejenigen Händler, welche die Digitalisierung in den Mittelpunkt ihrer Geschäftsstrategie stellen, werden in dieser neuen Welt überleben. Um langfristig zu bestehen, gilt es folgende Schlüsselbereiche in Angriff nehmen:

Modernisierung digitaler Plattformen und Technologiehoheit

Um ihr Geschäft am Laufen zu halten, ist es für Einzelhändler in der Krise unabdingbar, schnell zu reagieren und ihre digitalen Plattformen anzupassen. Viele Unternehmen stellt dies vor großen Herausforderungen. Sie müssen erkennen, dass ihre Plattformen extrem unflexibel, komplex und teuer in der Weiterentwicklung sind. Außerdem wird ihnen bewusst, dass man unternehmensintern nur über begrenztes technologisches Know-how verfügt, dafür aber eine starke Abhängigkeit von externen Anbietern besteht, die sich um den Betrieb der Plattformen kümmern.

Oftmals sind die digitalen Plattformen der Handelsunternehmen über viele Jahre hinweg gewachsen. Sie sind heute zu monolithischen Mammuts avanciert, mit diversen Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Modulen, was eine Weiterentwicklung extrem komplex und kostspielig macht. Viele Plattformen wurden außerdem absichtlich so aufgebaut, dass sie nur den E-Commerce-Kanal bedienen, was eine konsistente Kundenansprache auf anderen Kanälen erschwert. Da die Plattformen häufig auf physischer Hardware gehostet werden, wird die Skalierung bei steigendem Traffic teuer und langsam.

Einzelhändler haben traditionell große Teile ihrer digitalen Technologielandschaft an externe Beratungsunternehmen ausgelagert. Da der Online-Handel als isolierter Kanal betrachtet wurde und der Anteil des Online-Umsatzes relativ gering war, schien dies in der Vergangenheit die richtige Entscheidung gewesen zu sein. Die problematische Folge ist, dass Handelsunternehmen heute intern nur begrenzte Kenntnisse über ihre eigene digitale Plattform haben. Die Plattform ist für sie wie eine Blackbox, die von externen Anbietern verwaltet wird. Dadurch entsteht eine Lock-in-Situation, die oft mit hohen Kosten für die Wartung und Weiterentwicklung einhergeht.

Um sich langfristig zu rüsten, müssen Einzelhändler die Technologielandschaft vollumfänglich auf den Prüfstand zu stellen. Zunächst gilt es, ihre digitale Plattform auf eine moderne, cloudbasierte Architektur mit Microservices umzustellen. Dies ermöglicht es ihnen, die Customer Experience auf allen Kanälen von der Geschäftsfunktionalität zu trennen und konsistente Angebote und Services über alle Kanäle hinweg sicherzustellen.

Des Weiteren muss sich das Modell der Zusammenarbeit mit externen Partnern wandeln. Nur wenn Einzelhändler interne Engineering-Teams aufbauen, werden sie die Technologielandschaft langfristig selbst beherrschen können. Dafür gilt es Architekten und Technologiestrategen einzustellen. Für bestimmte Bereiche kann weiterhin auf externe Spezialisten zurückgegriffen werden. Zudem ist es unabdingbar, eine agile und wertschöpfungsorientierte Arbeitsweise zu forcieren und die Silos, die häufig zwischen Business- und IT-Teams vorherrschen, aufzubrechen.

Umstieg auf Unified Commerce

Einzelhändler sehen sich mit einer zunehmenden Abhängigkeit von digitalen Kanälen konfrontiert, während die Besucherzahlen und Umsätze in ihren physischen Geschäften zurückgehen. Die Rolle des stationären Ladens verändert sich massiv. Digitale und physische Aspekte verschwimmen. Einzelhändler sind daher gefragt, ihre Strategie grundlegend zu überdenken. Verbraucher erwarten ein nahtloses Kundenerlebnis, egal über welchen Kanal sie mit einem Einzelhändler interagieren.

Im physischen Store muss die Experience in den Mittelpunkt rücken, denn Verbraucher wollen die Produkte und Dienstleistungen des Einzelhändlers "erleben". Die reine Abwicklung einer Kauftransaktion ist nicht genug. Auch Click-and-Collect- oder Endles Aisle ("Langes Regal"-Angebote, wie man sie bereits von einigen Händlern kennt, werden den Erwartungen künftig nicht genügen. Konsumenten werden Termine buchen wollen, um vorgewählte Produkte zu probieren, zu schmecken oder zu riechen. Sie erwarten personalisierte Interaktionen mit den Verkäufern, die ihre Vorlieben und ihre Einkaufhistorie kennen. Verbraucher wollen personalisierte Produkte, die perfekt auf ihren Geschmack und ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.

Um dies zu erreichen, müssen Einzelhändler sicherstellen, dass alle Kundenberührungspunkte über alle Kanäle hinweg aus funktionaler Sicht und im Hinblick auf den Kundenservice konsistent sind. Dies gelingt, wenn alle Touchpoints in einem einzigen Set von Enterprise Services miteinander verbunden sind. Erst so wird ein echtes Unified Commerce-Setup möglich, das auf allen Kanälen mit einer Stimme spricht. Dazu ist es auch erforderlich, die "In-Store" eingesetzten Technologien anzupassen, um sie mit den Unified-Commerce-Diensten verbinden zu können. Oft bedeutet dies, sich teilweise von traditionellen POS-Lösungen zu verabschieden und mehr auf Standardhardware und mobile Devices zu setzen.

Schaffen einer 360°-Sicht auf das Unternehmen

Einzelhändler speichern ihre Daten häufig an vielen verschiedenen Orten ab, oft auch doppelt. Dies macht es extrem schwierig, einen klaren Überblick über die Vorgänge im Unternehmen zu bekommen. Viele Retailer haben daher Probleme damit, ihre Customer Experience zu optimieren, und stehen systembedingt vor Herausforderungen in der Lieferkette, die durch die Covid-Krise noch verstärkt wurden.

Als Teil ihrer digitalen Plattform-Modernisierung sollten Einzelhändler eine Cloud-basierte Datenplattform forcieren, die alle Kunden-, Produkt-, Bestands- und Lieferdaten an einem Ort vereint. Eine solche Datenplattform ist die erforderliche Grundlage, um eine 360°-Sicht auf das gesamte Unternehmen zu erhalten. Sie ermöglicht es, den Kunden und all dessen Interaktionen über alle Kanäle hinweg tiefgreifend zu verstehen. Sie bietet außerdem einen umfassenden Überblick über den Warenbestand und Lieferkettenflüsse.

Ist die Datenplattform erst einmal etabliert, kann sie zum Aufbau eines Supply Control Towers verwendet werden. Dieser ermöglicht einen vollständigen und detaillierten Überblick über die Vorgänge in der Lieferkette und befähigt Einzelhändler, schnell auf Anomalien zu reagieren.

Die Datenplattform kann auch dazu beitragen, den Kunden personalisierte Experiences bereitzustellen, die auf deren Vorlieben und bisherigen Verhaltensweisen basieren. Sie kann außerdem als Basis für eine Customer Data Platform (CDP) dienen, um für eine Welt ohne Cookies gerüstet zu sein.

Transformation jetzt!

Die aktuelle Krise hat den Shift der Verbraucher zum Online-Handel massiv beschleunigt. Diese Verlagerung wird sich in rasantem Tempo fortsetzen. Auch die letzten Zweifler dürften nun die Relevanz der digitalen Business Transformation für die Zukunftsfähigkeit ihres Geschäfts erkannt haben. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Nur die Einzelhändler, die jetzt handeln, werden überleben.

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