Lieferantenmanagement

Unsichere Zeiten erfordern flexible Lieferketten

07.10.2020
Alex Saric ist Lead Evangelist bei Ivalua und verfügt 20 Jahre Erfahrung im Bereich Supply Chain Management. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge und aufgrund seiner beruflichen Laufbahn mit den Herausforderungen rund um die Digitalisierung und Automatisierung von Source-to-Pay- Prozessen bestens vertraut.
Es gibt zahlreiche Faktoren, die Unternehmen beim Management globaler Lieferketten berücksichtigen müssen. Der Einkauf kann sich nicht sich auf alle Risikoszenarien vorbereiten. Transparenz, Flexibilität und echte Partnerschaften helfen, die Herausforderungen deutlich besser zu bewältigen.

Ganz gleich ob Corona-Pandemie, Brexit oder veränderte Zolltarife: Die Welt ist stark in Bewegung geraten und erfordert neue Werkzeuge, um als Unternehmen schnell und überlegt auf unerwartete Ereignisse reagieren zu können. Doch gerade bei der Arbeit mit globalen Lieferketten sind nicht alle Risiken vorhersehbar. Die einzige Möglichkeit, sich auf solche Situationen vorzubereiten, ist die Schaffung von mehr Flexibilität: Kann ein Partner nicht liefern, müssen schnell alternative Anbieter ausgewählt und beauftragt werden. Idealerweise sollten bereits passende Alternativen zur Verfügung stehen.

Dies mag auf den ersten Blick banal klingen, doch selbst Großunternehmen haben Probleme, den Überblick über ihr komplexes Lieferantennetzwerk zu behalten und die Risiken der Lieferanten ihrer Partner in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Um flexibler zu werden, sollten Beschaffungsentscheider folgende Ansatzpunkte in Betracht ziehen - und endlich ihre Digitalisierungsprojekte aktiver vorantreiben.

Ausgewogene Beschaffungsziele definieren

Die Beschaffungsziele vieler Unternehmen bestanden bisher darin, gute Einkaufspreise zu erzielen, pünktliche Lieferungen und späte Zahlungsziele zu erhalten sowie durch Just-In-Time-Produktion und eine möglichst geringe Lagerhaltung Kosten der Supply Chain zu senken. Die jüngst veröffentlichte Forrester-Studie "Effective Procurement Performance Measurement" hat jedoch aufgezeigt, dass fortschrittliche Unternehmen ihre Leistungsfähigkeit mit Hilfe besser ausbalancierter Ziele erreichen. Beispielsweise binden 46 Prozent der fortschrittlichen Unternehmen ihre Boni an Key Performance Indikatoren (KPIs) wie Lieferantenrisikoperformance und Lieferkettenunterbrechungen. Bei weniger entwickelten Unternehmen ist dies nur bei rund einem Drittel der Fall.

Bei der Arbeit mit globalen Lieferketten sind nicht alle Risiken vorhersehbar. Die einzige Möglichkeit, sich auf Krisen vorzubereiten, ist es, mehr Flexibilität zu schaffen.
Bei der Arbeit mit globalen Lieferketten sind nicht alle Risiken vorhersehbar. Die einzige Möglichkeit, sich auf Krisen vorzubereiten, ist es, mehr Flexibilität zu schaffen.
Foto: AlexLMX - shutterstock.com

Die aktuelle Situation zeigt, dass strategisch fortschrittlich aufgestellte Organisationen besser durch die Corona-Pandemie kommen. Daher sollte der vorrangig preisorientierte Einkauf nicht mehr an erster Stelle stehen, wenn Organisationen die bestehenden Beschaffungsziele neu definieren und die bisherige Sourcing-Strategie auf den Prüfstand stellen. Sie festzulegen, ist jedoch keine leichte Aufgabe und erfordert Kompetenzen verschiedener Fachdisziplinen. Daher sollten sie von einem Team vorbereitet werden, das sich aus den Bereichen Procurement, Finance und Controlling zusammensetzt und gemeinsam mit dem Management beschlossen werden.

Transparenz in Lieferketten schaffen

Viele Unternehmen sehen sich gut auf Risiken vorbereitet, da sie sehr genau wissen, was bei ihren Tier-1-Lieferanten geschieht. Tier-2- und Tier 3-Lieferanten wird jedoch bisher verhältnismäßig wenig Beachtung geschenkt. Gerade in Krisenzeiten rächt sich das: Der Wegfall von mehreren Partnern aus derselben Region sorgt schnell für Lieferengpässe und bringt selbst finanzstarke Unternehmen früher oder später in wirtschaftliche Schwierigkeiten.

Organisationen können ihre Risiken nicht sinnvoll beurteilen, ohne die Schwachstellen auf allen Ebenen ihrer Lieferkette zu kennen und im Zusammenhang zu betrachten. Fällt beispielsweise ein Tier-2-Zulieferer aus oder beschäftigt Zwangsarbeiter, können Lieferfähigkeit und Markenimage ebenso beeinträchtigt werden wie bei einem Tier-1-Zulieferer. Unternehmen sollten deshalb sicherstellen, dass ihre Einkäufer jederzeit wissen, mit welchen Partnern sie für welches Projekt zusammenarbeiten - und sämtliche Kundenbeziehungen möglichst visualisieren können.

Sie werden so in die Lage versetzt, Abhängigkeiten zu erkennen und Risiken individuell zu bewerten. Gerade in Unternehmen mit komplexen Lieferketten lässt sich diese Aufgabe jedoch nur durch eine vollständige Digitalisierung des Beschaffungsprozesses meistern.

Sourcing-Strategie überdenken und Lieferanten diversifizieren

Aus Kostengründen lassen viele Unternehmen Einzelteile oder ganze Bauteilgruppen von wenigen Lieferanten fertigen. Kosten spielten natürlich auch in Corona-Zeiten eine große Rolle. Doch was nützen günstige Einkaufskonditionen und hohe Margen, wenn die benötigten Teile verspätet oder gar nicht geliefert werden, weil ein strategisch wichtiger Lieferant seine Werke schließen muss? Für Unternehmen ist es deshalb ratsam, ihre Lieferantenbasis zu verbreitern und sich rechtzeitig Produktionskapazitäten für erfolgskritische Produkte zu sichern.

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Die Beauftragung von einheimischen Lieferanten (Local Sourcing) kann dieses Problem nur bedingt lösen. Tritt zum Beispiel aktuell nur ein Corona-Fall auf, muss der Hersteller mit hoher Wahrscheinlichkeit den Betrieb vorübergehend einstellen. Das bedeutet im Klartext: Für den Notfall sollte bei wichtigen Bauteilen mindestens ein weiterer Lieferant bereitstehen, der in einer anderen Region produziert. Diese Abkehr vom klassischen Single Sourcing ist zwar in der Regel mit Abstrichen bei Einkaufspreisen verbunden, doch können Unternehmen mit dieser Strategie ihre Ausfallrisiken erheblich senken.

Auch Multiple Sourcing lohnt sich: Einkäufer vereinbaren mit mehreren Unternehmen bestimmte Mindestabnahmemengen und sichern sich gleichzeitig die Option auf weitere Lieferungen. Sie können sich so die für den Notfall notwendigen Produktionskapazitäten reservieren und gleichzeitig den Großteil beim günstigsten Anbieter bestellen.

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Die Kombinationsmöglichkeiten sind vielfältig und sehr individuell. Bei Auswahl der Partner sollten Einkäufer stets mit derselben Einstellung vorgehen, wie ein erfahrener Investor, der stabile Erträge sicherstellen will: Besser auf kurzfristige Gewinne verzichten und das Ausfallrisiko möglichst breit streuen. Dies ist im Grunde nichts Neues, doch in der aktuellen Corona-Krise wird dies Beschaffungsentscheidern deutlich vor Augen geführt. Damit sich Einkäufer für die passende Sourcing-Strategie entscheiden können, müssen sie Transparenz innerhalb ihrer Lieferkette herstellen. In vielen Unternehmen herrscht diesbezüglich jedoch noch starker Nachholbedarf.

Partnerschaften vertiefen

In Krisenzeiten leidet in den meisten Fällen die gesamte Lieferkette. Ein kooperativer Ansatz hilft, die Auswirkungen für alle Beteiligten signifikant zu mildern. Kunden und ihre Lieferanten müssen dazu jedoch ihre Gegenüber als Partner und nicht als reine Sourcing-Quelle oder Absatzmarkt verstehen. Der Vorteil: Die Partner können Bestellungen, Zahlungen und Risikoabschätzungen besser managen und gewonnene Erkenntnisse miteinander teilen. Alle Beteiligten wissen über mögliche Probleme frühzeitig Bescheid und können entsprechend handeln.

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Lieferanten werden so in die Lage versetzt, Kundennachfragen effizienter zu planen und Informationen über mögliche Lieferprobleme früher an ihre Auftraggeber zu übermitteln. Zudem können Einkäufer ihren Partnern bei der Lösung von temporären Cashflow-Problemen helfen - beispielsweise durch die frühe Zahlung von Rechnungen. Möglich wird dies durch Finanzierungslösungen wie Dynamic Discounting oder Supply Chain Financing, die die Liquidität der Lieferanten verbessern und auch dem Auftraggeber nützen, da er günstigere Einkaufspreise erreichen kann.

Digitalisierung ist ein Muss

Unternehmen haben sich bisher vor allem mit der Optimierung ihrer Lieferketten beschäftigt. Aktuell müssen sie erkennen, dass sie auf eine so umfassende globale Krise wie Covid-19 schlicht nicht vorbereitet sind. Um die nötige Flexibilität zu erreichen, ist die Digitalisierung sämtlicher Source-to-Pay-Prozesse ein absolutes Muss.

Doch die Realität sieht noch immer anders aus: Die oben erwähnte Forrester-Studie von 2019 hat ergeben, dass 76 Prozent der Führungskräfte weniger als 50 Prozent ihrer Source-to-Pay-Prozesse digitalisiert haben, bei 43 Prozent der jeweiligen Unternehmen sind es sogar weniger als 25 Prozent. Doch erst die Digitalisierung ermöglicht die in Krisenzeiten benötigte Agilität. Sie setzt Kapazitäten frei, indem sie bestimmte Aktivitäten automatisiert und Einkäufer bei der Entscheidungsfindung unterstützt.

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Damit Unternehmen mit dem erforderlichen Detaillierungsgrad planen können, müssen sie einen vollständigen Überblick über ihre Lieferanten und Ausgaben haben. Nur so können sie komplexe Szenarien in globalen Lieferketten überblicken, mögliche Folgen abschätzen und passende Gegenmaßnahmen einleiten. Digitalisierung des Einkaufs allein reicht natürlich nicht aus. Unternehmen müssen vor allem über die richtigen Fähigkeiten, Tools und Prozesse verfügen, um schnell passende Lieferanten zu finden, zu validieren und in ihre Lieferketten zu integrieren.

Auch hier herrscht in vielen Unternehmen noch starker Nachholbedarf. Anbieter entsprechender Softwarelösungen gibt es viele, doch sollten Beschaffungsentscheider vor einer Beauftragung klare und ausgewogene Beschaffungsziele definieren und künftige Partner gründlich evaluieren. Dies dauert seine Zeit, so dass sich vorhandene Digitalisierungslücken nicht innerhalb weniger Wochen schließen lassen. Unternehmen sollten die Corona-Krise dennoch als Anlass und Chance sehen, um die notwendige Neustrukturierung ihrer Lieferketten voranzutreiben.

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