Vom Teamgeist und der Kommunikation ... oder welche

03.06.1998

MÜNCHEN: Kooperatives Zusammenwirken zwischen Chefs und ihren Mitarbeitern, wie das Abstimmen von Entscheidungen oder Delegieren von Verantwortung, sind die Basis für eine erfolgreiche Unternehmensführung. Doch eben dies wurde von einem Mr. Ben Lear, seines Zeichens Flugzeugingenieur, sträflich mißachtet und führte zu fatalen Folgen. Eine satirische Geschichte von Stefan Rohr*.Was fällt Ihnen zu dem Namen "Lear" ein? Sofern Sie zur Generation der Pop-Zeit gehören, tippen Sie sicherlich gleich auf "Amanda Lear". Mit einem eher kulturellen Hintergrund werden Sie wahrscheinlich auf "King Lear" gestoßen sein. Auch das wäre nicht schlecht - zeugt jedenfalls von gewisser Intellektualität. Die technisch orientierten Leser allerdings unter Ihnen werden sich an den berühmten Jet erinnern, den "Lear-Jet", einem Fortbewegungsmittel für Konzernvorstände, Waffenhändler, Politiker und ähnlichen Menschheitsgeißeln. Erfinder und Namensgeber dieses Traum-Flugzeuges war Mr. Ben Lear, ein genialer Ingenieur, der nicht nur viele Jahrzehnte Leiter seines Unternehmens war, sondern gleichsam thronender Entwicklungsboß und eitler Chef-Techniker.

Dieser Herr soll uns nun in einer kleinen Geschichte begleiten. Sie handelt von Egozentrie, Selbstüberschätzung und Verachtung der Fähigkeiten anderer Menschen. Es wird aber auch von den Auswirkungen erzählt, die entstehen, wenn in komplexen Unternehmenszielsetzungen die Kommunikation und Information abhanden kommen, wenn Mitarbeiter und Gehilfen ohne Kenntnis der Zusammenhänge, des Sinnes und der Inhalte ihres Wirkens "befehlsgetreu" zur blinden Ausführung herangezogen werden. Ein alltägliches Thema? Zugegeben. Doch lesen Sie selbst, daß auch die kleinen Dinge manchmal weitreichende Konsequenzen haben können.

Der Tag der Entscheidung

Der große Tag war gekommen. Nur wenige Stunden sollte er noch warten müssen, dann wird es geschafft sein. Hunderte Stunden der Vorbereitung, der Organisation und der Planung eines von ihm minutiös ersonnenen Ablaufes würden dann endlich den so wichtigen Erfolg für ihn und das Unternehmen bringen. Viel stand dabei auf dem Spiel, ja - vielleicht sogar die Existenz. Doch eigentlich konnte nichts mehr schiefgehen. Der Plan war gut, ausgereift und - das Wichtigste - fast schon brutal überzeugend.

Da stand sie nun. Weiß, glänzend, elegant und die Tragflächen auffordernd gespreizt. Die Maschine strotzte nur so vor technischer Perfektion und man konnte ihr förmlich ansehen, daß sie fürs Fliegen geschaffen war. Dagegen wirkte die direkt auf sie gerichtete olivfarbene Kanone beinahe plump, wie ein Relikt aus einer vergangenen Welt. Doch einmal wird sie noch funktionieren, dachte er sich. Ein letztes Mal.

Durch das halb geöffnete Tor des abgedunkelten Hangars fiel das Sonnenlicht direkt über die alte Feldhaubitze. Der weiße Jet im hinteren Teil des Hangars. Souverän und erhaben warf er das wenige Licht, das ihn erreichte, in die Halle zurück. Er wirkte in seiner Perfektion fast schon arrogant und überheblich, so, als ob er sich sehr sicher sein würde, daß ihm nichts mehr auf der Welt etwas anhaben könne.

Mit einem letzten Blick in den Hangar, der letzten abschließenden Kontrolle seiner Vorbereitungen, zog Ben Lear das Tor zu, verriegelte es und steckte den Schlüssel in seine Westentasche. Er schaute auf die Uhr. Es war noch viel zu früh und ein Kaffee würde ihm jetzt guttun. Schnellen Schrittes ging er über das Rollfeld zu seinem Büro. Noch einmal dachte er nach, wie seine Probleme entstanden waren und wie alles begann.

Der erste Flug

Merkwürdigerweise war es an einem Freitag. Zwar nicht der 13., aber eben Freitag. Auch dieser Tag sollte damals ein bedeutsamer Tag werden. Vor der Werkshalle der Firma "Lear" stand der neue Jet. Ein Prototyp, der von den Testpiloten auf Herz und Nieren geprüft werden sollte. Alles war für diesen ersten Flug vorbereitet. Testprogramm, Fluganweisungen und Crew waren aufgestellt und der große Moment war gekommen. Langsam rollte der Flieger in seine Startposition. Die Düsen brüllten los und atemberaubend beschleunigte der zigarrenförmige, weiße Jet. Majestätisch hob die Maschine von der Rollbahn ab, stieg steil in die Luft, drehte elegant nach links in den Himmel und verschwand kurz darauf in den Wolken. Alle waren zufrieden, alles hat nach Plan geklappt. Man konnte nun auf die Ergebnisse gespannt sein.

Die Panne

Der Flieger kehrte jedoch schnell wieder zurück. Schwankend flog er die Landebahn an, Unsicherheit machte sich beim Bodenpersonal breit und nur mit ersichtlicher Mühe schafften es die Piloten, die Maschine sicher zu landen. Als der Jet in den Hangar rollte, war allen klar, was passiert war. Die Frontscheibe des Fliegers war zerbrochen und jedermann konnte ermessen, was in den wenigen Flugminuten an Bord abgelaufen sein muß. Die Piloten erklärten, wie es zu diesem Malheur kam: Ein Vogel sei gegen das Frontvisier geknallt - ein Vorfall, der eigentlich nichts Unübliches darstellt. Ungewöhnlich war allerdings, daß die Scheibe diesem Aufprall nicht standhielt, zerbrach und somit Mannschaft sowie Gerät in große Gefahr brachte.

Ben Lear tobte vor Wut. Jahre der Entwicklung, Millionen von Dollar, Zeit und Einsatz standen auf dem Spiel. Und da gab es doch glatt ein paar Ingenieure in seinem Unternehmen, die es nicht einmal schafften, eine sichere Frontscheibe zu konzipieren. Ein lächerlicher Spatz genügte, um das gesamte Projekt zu kippen. Am ärgerlichsten war er allerdings darüber, daß die Presse davon Wind bekommen hatte und natürlich nichts Besseres zu tun haben würde, als lang und breit über diesen Fauxpas zu berichten. Es drohte eine eklatante Blamage, peinlich und sehr schlecht fürs Geschäft. Ben Lear hatte es also mit einer echten Krise zu tun. Und Krisen bedürfen besonderer Maßnahmen. Er feuerte deshalb zunächst alle verantwortlichen Ingenieure, was allerdings weder Presse noch Kunden großartig interessierte. Also mußte zudem eine imposante Gegenoffensive gestartet werden, die allen Skeptikern und Kritikern beweisen würde, daß dieser Vorfall einmalig, das Fluggerät bombensicher und ausgereift konzipiert war.

Ein Plan mußte her

Lear nahm diese gewichtige Sache persönlich in die Hand. Seine Mitarbeiter hatten ihm ja zur Genüge ihre Unfähigkeit, Verantwortungslosigkeit und ihr Desinteresse bewiesen. Er war nun allein mit diesem Problem und mußte so auch allein die Sache durchgehen. Tagelang ersann er einen brauchbaren Plan. Eine atemberaubende Demonstration der technischen Perfektion seiner neuen Maschine sollte alle Probleme fortspülen. ZEWA-Prinzip sozusagen: Mit einem Wisch - alles weg. Am dritten Tag - nach klösterlicher Isolation - verließ er sein abgedunkeltes Büro, verschmitzt lächelnd, siegesgewiß. Er hatte die Lösung.

Zunächst schuf er das nach seiner Planung topstabile Visier. Mit seiner ihm nachgesagten Genialität entstand in kürzester Zeit eine Frontscheibe, die für alle Eventualitäten gerüstet war und sogar dem Aufprall eines Flugsaurieres standhalten würde. Nach Vollendung besorgte er sich eine ausgediente Armeekanone und rüstete diese für seine Zwecke um. Sein Plan war es, hiermit auf das Flugzeug zu schießen, dieses im Beisein von Journalisten, Kundenvertretern und Mitarbeitern. Besonders stolz war er auf seinen Einfall, anstelle regulärer Munition ein Brathähnchen zu "laden", was den Aufprall eines Vogels exakt simulieren würde.

Nun lief eine stabsmäßige Routine ab. Er lud persönlich fast einhundert Fachjournalisten ein. Er schrieb selbst seine Kunden an und versprach eine überzeugende Demonstration der Sicherheit. Auch seine Mitarbeiter sollten dabei sein. Allerdings durfte niemand wissen, was er vorhatte und wie er diesen "Beweis" gestalten wollte. Deshalb bereitete er alle notwendigen Einzelheiten höchstpersönlich und allein vor, niemand sollte ihm zur Seite stehen, niemand wurde eingeweiht. Diese Show sollte die seine sein.

Letzte Vorbereitungen

Fast drei Monate waren nun seit dem Unglück vergangen. Jetzt war es endlich soweit. Ben Lear schaute auf die Uhr. Er war ruhig und gefaßt, trank mit einem Zug seine noch halbvolle Kaffeetasse aus, rückte seine Krawatte zurecht, zog den Knoten noch einmal fest, rieb seine Anzugärmel vom Staub frei und machte sich auf den Weg zum Hangar, dort, wo ihn die Kanone und sein Jet erwarteten.

08:10 Uhr: Mrs. Lear hatte aus dem Supermarkt ein fettes und pralles Hähnchen besorgt, auf strikte Anweisung ihres Mannes mit sämtlichen Eingeweiden, praktisch vernäht. Wie ihr aufgetragen, deponierte sie dieses in dem angrenzenden Werkzeugschuppen, direkt neben dem Hangar, dort in dem Kühlschrank, in dem die Handwerker sonst ihre Getränke aufbewahrten. Ihr Auftrag war so erfüllt. Sie kannte zwar nicht den Sinn ihrer ungewöhnlichen, gleichsam aber auch unbedeutend erscheinenden Aufgabe, ihren Ben hierüber zu befragen, hatte sie sich natürlich nicht getraut. Und so hielt sie es dann auch für besser, gleich wieder nach Hause zu fahren.

09:30 Uhr: Ben Lear schloß den Hangar auf, ging hinein und verriegelte sogleich wieder von innen das Tor. Er blickte auf seine Maschine, vor allem auf die von ihm selbst entwickelte neue Frontscheibe. Er hatte den Jet an das äußerste Hallenende positioniert, mittig, mit der Schnauze zum Hangartor, wo die Kanone stand. Er hatte penibel den Schußwinkel berechnet und das Schießwerkzeug exakt so positioniert, daß die "Ladung" direkt mitten auf die Frontscheibe des Fliegers treffen mußte. Ihn amüsierte dieser Gedanke sehr, insbesondere, wenn er sich die Gesichter der Zuschauer und seiner Leute vorstellte, wenn das Hähnchen auf der Scheibe zerplatzen würde. Die Schweinerei konnten dann ja seine neuen Ingenieure wegmachen. Aus seiner Sicht eine durchaus adäquate Wiedergutmachung und sicher ein unvergeßliches Warnsignal für die Zukunft. Und die Presse? Die wird nicht anders können, als höchste Lobgesänge zu verbreiten, sich förmlich für die vorangegangenen Diffamierungen zu entschuldigen und künftig äußerst vorsichtig mit ihm umzugehen. Die Kunden werden es als klipp und klaren Qualitätsbeweis ansehen und sicher noch am gleichen Tage entsprechende Stückzahlen ordern. Alles wird also gut. Die Krise wird damit gemeistert. Er trat nach draußen und zog bedächtig das Hangartor hinter sich zu. Jetzt konnten sie kommen. Er war vorbereitet.

Die Aktion "Brathähnchen"

1 1:15 Uhr: Der Platz vor dem Hangar füllte sich mit Menschen. Es waren weit mehr Zuschauer, Journalisten und Kunden erschienen, als er erhofft hatte. Und alle seine Mitarbeiter waren anwesend. Techniker, Buchhalter, Sekretärinnen, Ingenieure, Praktikanten, Werkstudenten, Testpiloten und das Marketing.

11:30 Uhr: Ben Lear hielt eine kurze Rede. Er sprach von Qualität, technischer Innovation, Zuverlässigkeit und Preis-Leistung. Er bekundete, daß die bevorstehende Demonstration von ihm persönlich ersonnen wurde und nun auch ebenso durchgeführt wird.

11:45 Uhr: Lear öffnete den Hangar. Den nähertretenden Zuschauern erläuterte er nun sein Testprogramm. Unruhe machte sich breit, Geraune und Gemurmel schwoll an, einige schüttelten den Kopf, andere nickten anerkennend. Ganz klar: ein Test, der es in sich hatte und der vor allem von niemandem je zuvor durchgeführt wurde. Als Lear dann noch erklärte, daß er diesen Test de facto des erste Mal durchführen werde, eine vorangegangene Probe sich von allein ausschließen würde, ertönten einige Stimmen, die ihn von diesem Wagnis abhalten wollten.

Das war ganz nach seinem Geschmack. Lear war in seinem Element. Pah! Sie alle hatten Bammel und befürchteten das Schlimmste. Und genau so sollte es sein. Er erhob die Stimme, bat um Ruhe und verkündete, daß er zum eindeutigen Beweis seines Vertrauens in seine Produktion sich selbst in das Cockpit setzen werden. Das sei zwar nicht geplant gewesen, doch die Reaktion des Publikums erfordere nun diesen zusätzlichen Grad.

Hierzu hatte er seinen Testverlauf jedoch leicht zu verändern: Er selbst konnte jetzt weder das Hähnchen "laden", noch den Auslöser der Kanone drücken. Er griff sich deshalb den nächststehenden Zuschauer heraus, einen Handwerker aus seiner Umformtechnik, und erklärte ihm in aller Kürze, wo seine Ehefrau das Hähnchen verwahrt hat, daß er dieses holen, einfach in das Kanonenrohr stecken und auf sein Zeichen (den gehobenen Daumen) "abdrücken" sollte.

Der Kanonentest

Es war genau 12:00 Uhr, als Ben Lear in das Cockpit stieg. Er sah, wie sein "Assistent" das Hähnchen lud und sich an die Kanone stellte. Lear wartete noch ein wenig ab. Im Hangar herrschte Totenstille. Niemand wagte zu atmen. Alles schaute gebannt zwischen der Kanone und dem Cockpit hin und her. Die Kameras waren in Wartestellung, die Finger an den Auslösern. Jeden Moment konnte es passieren.

Und dann hob Ben Lear den Daumen. Beflissentlich und ohne zu zögern tat der assistierende Handwerker, was ihm aufgetragen war. Die präparierte Treibladung detonierte mit einem ohrenbetäubenden Knall, das Hähnchen trat seinen letzten Flug an und schoß mit Karacho auf das Cockpit zu.

Mit einem Donnerschlag durchschlug es die Frontscheibe des Jets, zischte knapp an Lears Kopf vorbei, durchbrach die Cockpittüre, sauste durch das Jetinnere nach hinten, trat am Leitwerk wieder aus und zerplatzte an der dahinterliegenden Hangarwand. Viele hundert Stunden der Vorbereitung hatte Ben Lear investiert. Für diese Schweinerei benötigte er gerade noch 0,8 Sekunden. Als der Pulverdampf sich allmählich verzog, kam Lear die Erkenntnis. Und diese verschlug ihm fast den Atem. Der Hahn war noch gefroren. Seine Frau wird diesen in ihrer hausmütterlichen Fürsorge, natürlich nur in bester Absicht, brav in das Gefrierfach des von ihm vorbestimmten Kühlschrankes gelegt haben. Und der "Schütze" bemerkte zwar diesen eisigen Zustand, glaubte jedoch, daß der Chef dieses so gewollt habe und tat im übrigen alles getreu seinen strikten Anweisungen. Was konnte er denn schon wissen ...

Und die Moral von der Geschicht?

Das kommt davon, wenn ein perfektionistischer Chef überzeugt davon ist, nur er allein sei befähigt, seine eigenen, hohen Zielvorgaben zu realisieren, wenn er dabei alle grundlegenden Bausteine des kooperativen Zusammenwirkens, wie Information, Kommunikation, Abstimmung und Delegierung von Verantwortungen mißachtet. Wenn an einem elementaren Grundsatz vorbei gehandelt wird, dem Grundsatz, daß alle beteiligten Mitarbeiter, seien sie auch noch so "unwichtig", einen Beitrag zum Erfolg liefern; sie müssen nur ihre Ziele, den Sinn ihrer Tätigkeiten sowie die angrenzenden Aufgabeninhalte kennen. Die Moral dieser Geschichte zeigt aber auch ein Beispiel dafür auf, daß jedes "Rädchen im Getriebe" eine Aufgabe erfüllt, auch der unscheinbarste Mensch, als Teil eines großen Ganzen, nicht in der Lage sein wird, in seinem Aufgabenfeld eigenverantwortlich mitzudenken, wenn dieses "von oben" verhindert wird. Dann schaltet er den Verstand aus. Das Denken überläßt er dem Chef. Es gerät so zum Spiel mit dem Glück, mit dem Zufall oder der göttlichen Eingebung. Und wer wird sich denn ernsthaft hierauf verlassen wollen?

*Stefan Rohr ist geschäftsführender Gesellschafter der r&p management consulting Hamburg/Düsseldorf/Speyer.

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