Warum der Stress des Mitarbeiters auch immer das Versagen des Chefs ist

22.05.2003
Mehr als 40 Millionen Menschen in der EU leiden bereits an stressbedingten Krankheiten. Allein in Deutschland wird die Zahl der Herzinfarkte, die auf übermäßigen Druck am Arbeitsplatz zurückzuführen sind, auf 10.000 pro Jahr geschätzt. Der Schweizer Arbeitspsychologe Ivars Udris weiß, was Mitarbeiter krank macht: "Ignoranz und Unwissenheit der Vorgesetzten sind die schlimmsten Stressfaktoren."

Dass vor allem Manager unter Stress leiden, ist ein Mythos: In der schnelllebigen und leistungsorientierten Gesellschaft, in der alles ständig besser werden muss, gehört Stress inzwischen zum Alltag der meisten Angestellten. Und es sind keinesfalls die Chefetagen, die der Druck am härtesten trifft, sagt Udris. Denn krank macht, was man selbst nicht mehr beeinflussen kann: "Die verheerendste Kombination ist die aus quantitativer Überforderung und qualita-tiver Unterforderung", so Udris. Wer kein Mitspracherecht bei der Arbeit hat, monotone Tätigkeiten unter großem Zeitdruck verrichten muss und sich Sorgen um den eigenen Arbeitsplatz macht, ist äußerst gefährdet, bald Schaden zu nehmen.

Warum der Stress uns auf den Magen schlägt

Dabei ist Stress gar keine Krankheit, sondern eher ein Reflex: Denn schnell "unter Strom" zu stehen war für uns vor einigen Millionen Jahren lebensnotwendig. Als der Mensch noch Mammuts jagte, sorgten Muskelanspannung, erhöhter Herzschlag und beschleunigte Atmung in Sekundenschnelle für einen Energieschub, der für Verfolgung oder Flucht benötigt wurde. Alles, was man in diesem Moment braucht, wird "runtergefahren": Beispielsweise die Verdauung, womit sich erklärt, warum der Stress bei so vielen Menschen auf den Magen schlägt.

Hat man seinerzeit den Gegner besiegt oder sicheren Abstand zu ihm gewonnen, gingen die roten Lämpchen des Körper aus, und der Mensch entspannte sich. Der Reflex funktioniert heute noch genauso gut wie damals, nur findet der Job heute nicht mehr in der Wildnis statt: Das Mammut wurde durch einen schnaubenden Chef und der Säbelzahntiger durch keifende Kunden ersetzt. Für eine angemessene Stressreaktion haben beide kein Verständnis: Tätliche Angriffe und panikartige Flucht sind in der modernen Bürowelt aus der Mode gekommen.

Die Reaktion auf eine potenzielle "Gefahr" ist geblieben, doch die mobilisierten Energiereserven werden nicht mehr freigesetzt, und die Entspannung bleibt aus. Und weil Stresshormone auch ein Protein aktivieren, das Entzündungen und Abbauprozesse auslöst, kann der Daueralarm im Körper zu schweren Erkrankungen führen: Nervosität, Schlaf-störungen, Rückenbeschwerden, Drogenmissbrauch, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Verdauungsprobleme, Angstzustände, Depressionen und sogar Krebs können die Folge sein. Allein in Deutschland erleiden etwa 10.000 Menschen pro Jahr einen Herzinfarkt, weil sie mit dem Druck im Büro nicht mehr fertig werden. Das sind etwa zehn Prozent der gesamten Fälle.

Stress macht aber nicht nur krank, sondern kommt die Gesellschaft auch noch teuer zu stehen: Die entsprechenden Folgekosten werden von Experten auf bis zu 80 Milliarden Euro (EU) pro Jahr geschätzt. Und die belasten keinesfalls nur die Gesundheitssysteme: Etwa ein Drittel der Kosten schlägt sich in Fehltagen nieder, der Rest geht beim Arbeitgeber direkt durch die sinkende Produktivität und Kreativität der überforderten Mitarbeiter verloren. Die neuesten Untersuchungen bestätigen: Es sind gerade die jungen und als besonders leistungsfähig geltenden Mitarbeiter zwischen 20 und 35, bei denen die Über-forderung auch gesundheitliche Konsequenzen hat.

Viele schweigen aus Angst um ihren Job

"Tempo und Druck haben deutlich zugenommen", sagt Udris. Stress sei inzwischen zwar die Volkskrankheit Nummer eins, aber nach wie vor ein Tabuthema: "Nach unseren Erfahrungen wagen es die meisten Mitarbeiter nicht, offen auf ihre Probleme hinzuweisen. Im Gegenteil: Sie wollen die Fassade aufrechterhalten, um weiterhin als leistungsfähig zu gelten." Udris, der als wissenschaftlicher Experte derzeit das Schweizer Projekt "Stressprävention - Psychisch fit am Arbeitsplatz" begleitet und als Prä-sident der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeits- und Organisationspsychologie tätig ist, fordert deshalb einen offeneren Umgang mit dem Phänomen: "Kommunikationsstile, Wirkung von Stress auf die Gesundheit, Umgang mit den eigenen Ressourcen - all das sollte in den Betrieben viel mehr thematisiert werden."

Die Praxis sehe leider anders aus: Die Mitarbeiter wollen das Problem nicht zur Sprache bringen, die Chefs können nicht: "Bei Schulungen zur Personalführung geht es meist nur um Strategisches. Weiche Faktoren wie Kommunikation, Information oder Fairness kommen hier leider nur selten vor", weiß Udris.

Davon profitiert die Ratgeberszene: Die Auswahl an Literatur ist inzwischen riesig. Die meisten dieser Bücher sind nach Meinung von Psychologen harmlos. Einige enthalten durchaus sinnvolle Tipps, beispielsweise wenn sie den Gestressten zu mehr Bewegung und zu Entspannungsübungen raten. Udris: "Der gestresste Mitarbeiter traut sich nicht mehr zu entspannen, hämmert den ganzen Tag in die Tastatur. Abends zeigen sich die typischen Symptome: Verspannungen, Augenkneifen, Kopfschmerzen." Und dem kann man durch Sport durchaus entgegenwirken.

Gefährlich wird es, wenn die so genannten Ratgeber dem Angestellten vorgaukeln, Stressabbau habe etwas mit Durchsetzungsvermögen zu tun: "Es gibt zahlreiche Bücher, die den Leuten die Botschaft vermitteln wollen, sie müssten nur einfach mal laut ,nein‘ sagen. Ich halte wenig davon", sagt Udris. Wer versuche zu rebellieren, setze sich selber meist nur noch unter zusätzlichen Druck. Von Entspannung könne da keine Rede sein, und wer es mit der künstlichen Verweigerungshaltung übertreibe, riskiere schlimmstenfalls sogar seinen Job.

Udris: "Die wirtschaftliche Situation ist derzeit nun mal so, wie sie ist. In den meisten Betrieben müssen deswegen weniger Mitarbeiter als früher die gleiche Arbeit verrichten. Das ist aber sicherlich keine Böswilligkeit der Vorgesetzten." Als Arbeitnehmer müsse man der Tatsache ins Auge sehen, dass man kaum eine Chance habe, sich gegen die Umstände zu wehren, sagt Udris: "Ich setze lieber auf die Einsicht, dass zur Stressvermeidung strukturelle Ver- änderungen im Betrieb notwendig sind. Hier ist vor allem das höhere Management gefragt."

Chefs verwechseln Stress mit Herausforderung

Doch die meisten Vorgesetzten seien schlicht überfordert und setzten ihre Mitarbeiter durch ein falsches Verständnis von Motivation sogar noch mehr unter Druck: "Es gibt einen Unterschied zwischen Stress und Herausforderung, leider wird das von den Vorgesetzten oft verwechselt", so Udris. "Bei einer Herausforderung geht man mit Freude an die Aufgabe, geht darin auf. Bei Stress ist die ,Herausforderung‘ eine Bedrohung, weil man keine Ressourcen hat."

Wer als Arbeitgeber seine psychologischen Antennen ausfahre, könne auch und gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten viele stressbedingte Ausfälle - und damit Verluste - vermeiden: "Die Regeln sind sehr einfach, doch die meisten Vorgesetzten kennen sie nicht", sagt Udris. "Ignoranz und Unwissenheit der Vorgesetzten sind die schlimmsten Stressfaktoren."

Tatsächlich bezeichnen die meisten Mitarbeiter den Verlust von Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung ihrer Arbeit als größten Stressfaktor: Etwa 35 Prozent der Europäer leiden darunter, dass sie die Reihenfolge ihrer Arbeiten nicht selbst bestimmen können, 55 Prozent beklagen, dass sie keinerlei Einfluss darauf haben, wie lange sie arbeiten müssen. Fast ein Drittel ist unzufrieden, weil es die eigenen Fähigkeiten nicht einbringen kann. Schlecht gelaunte Chefs, ein Haufen Arbeit und großer Zeitdruck sind natürlich auch Stressfaktoren.

Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, schlägt offenbar am stärks-ten aufs Gemüt. So wurde in Langzeitstudien bereits nachgewiesen, dass beispielsweise die Kombination aus Zeitdruck und wenig Entscheidungsfreiheit deutlich mehr Stress bei Mitarbeitern verursacht als der gleiche Zeitdruck mit mehr beruflichem Spielraum.

Die erste goldene Regel gegen Stress im Betrieb sei deshalb, dem Mitarbeiter Verantwortung zu übertragen - auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als ob der Druck damit eigentlich erhöht wird: "Man muss einfach dafür sorgen, dass die Mitarbeiter bei einem Teil der Aufgaben mitentscheiden und mitreden können: Sie sollen spüren, dass sie teilhaben und nicht nur ausführen", erklärt Udris.

Die zweite goldene Regel: Chefs sollten öfter mal nett zu ihren Mitarbeitern sein. Hier klopft mal wieder die Steinzeit an die Tür: Nur wenn der Mensch eine Herausforderung positiv bewältigt, eine Aufgabe zur Zufriedenheit des Vorgesetzten löst und dafür auch Anerkennung bekommt, hat er quasi auch "das Mammut erlegt". Als körperliche Reaktion auf das Erfolgserlebnis folgt die Entspannung.

Doch auch hier hapert es mal wieder in der Chefetage: "Die meisten Vorgesetzten sind zwar schnell dabei, den Mitarbeiter zu kritisieren, doch Lob kommt ihnen nur schwer über die Lippen", weiß Udris. "Dabei ist der Mitarbeiter auf ,Streicheleinheiten‘ angewiesen, aber in der Praxis bekommt er zu wenig davon." Stattdessen gibt es meist nur An- weisungen und Kritik, motivieren und belohnen soll sich der Mitarbeiter gefälligst selber. Das kann nicht gut gehen, meint der Professor: "Ein Betrieb funktioniert wie eine Familie: Und Kinder werden nicht nur gerügt, sondern auch gelobt." Und genau wie ein Kind spürt auch der Mitarbeiter, ob der Vorgesetzte heuchelt: "Das Lob muss natürlich ernst gemeint sein", so Udris.

Wichtig sei auch, dass der Chef gestresste Mitarbeiter erkenne und entlaste. "Viele Vorgesetzte lassen sich aber selten blicken und nehmen nicht wahr, wie es den Leuten geht", sagt Udris. Es seien selten große negative Ereignisse, die den Mitarbeiter unter Stress setzen, sondern eher die kleinen und sich häufenden Widrigkeiten des Arbeitsalltags. Gerade für das Management sei es recht einfach zu erkennen, wann die Grenze erreicht ist: Wenn sich die Fehler häufen, sollte man sich oder eben den Mitarbeiter auch mal fragen, was dahintersteckt. "Vorgesetzte müssen lernen, Veränderungen zu erkennen", meint Udris. "Es ist schwer, aber nicht unmöglich, darauf zu achten: Gereiztheit beispielsweise kann man sehen." (mf)

www.stress-info.de

Stress und Burnout im Internet

www.ilo.org: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat Studien über besonders stark von Stress betroffene Berufsgruppen und Sektoren auf ihren Internetseiten veröffentlicht (englisch).

www.inqa.de: Das Thema "Psychische Fehlbelastungen und Stress am Arbeitsplatz" ist auch für die Arbeit der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) zentral.

www.aerztezeitung.de: Das Fachblatt bietet im Internet zahlreiche Artikel, Studien und medizinische Erkenntnisse zum Thema Stress.

www.stress-info.ch: Schweizer Internetprojekt zu Stressabbau und -prävention am Arbeitsplatz.

www.uni-frankfurt.de: Diverse Studien zum Thema Stress am Arbeitsplatz. Erforscht werden unter anderem Zusammenhänge mit Konflikten mit Kunden.

www.novo-magazin.de: Interessanter Artikel zum Thema: "Der Arbeitsplatz als Ort der Erfüllung" beziehungsweise warum es genau das in der Praxis nicht geben kann.

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