Personalbewertung, Teil 1

Was taugen Beurteilungssysteme?



Renate Oettinger war Diplom-Kauffrau Dr. rer. pol. und arbeitete als freiberufliche Autorin, Lektorin und Textchefin in München. Ihre Fachbereiche waren Wirtschaft, Recht und IT. Zu ihren Kunden zählten neben den IDG-Redaktionen CIO, Computerwoche, TecChannel und ChannelPartner auch Siemens, Daimler und HypoVereinsbank sowie die Verlage Campus, Springer und Wolters Kluwer. Am 29. Januar 2021 ist Renate Oettinger verstorben.
In vielen Unternehmen werden die Leistungen der Mitarbeiter regelmäßig bewertet, um über ihre künftige Entlohnung und ihr berufliches Fortkommen zu entscheiden. Ist das noch zeitgemäß oder sind das Relikte von früher? Klaus Kissel und Martin Rugart gehen dieser Frage auf den Grund.

Sie sind ungeliebt. Trotzdem gibt es sie in den meisten größeren und mittleren Unternehmen: Mitarbeitergespräche und Beurteilungssysteme. Denn viele Personalverantwortliche sehen in ihnen ein wichtiges Tool, um

  • "High- und Low-Performer", also Leistungsträger und Minderleister, zu identifizieren,

  • die Leistung der Mitarbeiter transparent und vergleichbar zu machen,

  • über Gehälter, Zulagen sowie Beförderungen zu entscheiden und

  • die Mitarbeiter motivieren.

Außerdem haben fast alle Wettbewerber ein Beurteilungssystem. Warum sollte also das eigene Unternehmen hierauf verzichten?

Häufig richtet sich die Bezahlung der Mitarbeiter danach, welchen Platz sie in einem Arbeitsteam einnehmen.
Häufig richtet sich die Bezahlung der Mitarbeiter danach, welchen Platz sie in einem Arbeitsteam einnehmen.
Foto: Stefan Rajewski - Fotolia.com

Doch erfüllen Beurteilungssysteme noch die genannten Funktionen oder sind sie Relikte aus einer Zeit,

  • in der die Betriebe noch weitgehend tayloristisch organisiert waren,

  • Führung ausschließlich hierarchisch verstanden wurde und

  • (fast) jeder Arbeitnehmer eine Stellenbeschreibung hatte, in der seine Aufgaben exakt definiert waren?

Spricht man mit Personalexperten hierüber, dann äußern sie zumindest Bedenken, inwieweit traditionelle Beurteilungssysteme noch den Arbeitsinhalten und -beziehungen modern geführter und strukturierter Unternehmen sowie den Erwartungen autonomer Mitarbeiter gerecht werden. Und viele befürchten sogar: In einer Zeit, in der

  • die (oft bereichs- und hierarchieübergreifende) Team- und Projektarbeit weitgehend die Zusammenarbeit in den Betrieben prägt und

  • sich die Herausforderungen an die Unternehmen und ihre Mitarbeiter schnell wandeln,

  • mindern Beurteilungssysteme eher die Motivation der Mitarbeiter und somit auch deren Leistung.

Wunsch: fair und gerecht entlohnen

Trotzdem halten viele Unternehmen an ihren Beurteilungssystemen fest, obwohl diese im Betriebsalltag zuweilen bizarre Ausprägungen haben – speziell dann, wenn von der Beurteilung auch die Höhe des künftigen Gehalts, der gezahlten Prämie oder gar eine eventuelle Beförderung abhängt. Dann geben nicht wenige Unternehmen ihren Führungskräften vor, wie viel Prozent ihrer Mitarbeiter sie als "High-Performer" einstufen dürfen und wie viel Prozent sie als "Low-Performer" einstufen müssen – auch um zu verhindern, dass Führungskräfte, um Konflikte zu vermeiden, die Leistung (fast) aller Mitbewerber als "gut" oder "sehr gut" einstufen. Nicht selten werden die Beurteilungen bei den Einzelkriterien auch gemittelt, sodass aus einem Mitarbeiter mit einer geringen Kundenorientierung, aber einem hohen Arbeitstempo unter dem Strich ein "guter" Mitarbeiter wird.

Warum halten trotzdem so viele Unternehmen an ihren Beurteilungssystemen fest, obwohl mit ihnen auch ein hoher administrativer Aufwand verbunden ist? Eine zentrale Ursache ist: In der sogenannten "freien" Wirtschaft erfolgt die Bezahlung der Mitarbeiter individuell - selbst wenn die Leistung im Arbeitsalltag weitgehend im Team erbracht wird. Gleichzeitig soll die individuell ausgehandelte Vergütung gerecht sein. Also muss, so das Credo, die Leistung individuell gemessen werden, damit sie bewertbar und vergleichbar wird. Diese auf dem Leistungsprinzip basierende Logik haben auch die Mitarbeiter verinnerlicht. Deshalb akzeptieren sie die Beurteilungssysteme und die damit verbundene Leistungsmessung und -bewertung als notwendiges Übel.

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