Wenn der Chef Fehler macht

14.03.2002
Auch ein Chef macht Fehler. Das Problem ist: Es sollten nicht zu viele sein. Johanna Joppe* gibt Tipps zur Minimierung und zum Umgang mit den selbstverschuldeten Pannen.

Der Geschäftsführer eines Handelsunternehmens verriet uns vor einigen Jahren: "Ich habe keine Angst vor Zufallsfehlern. Was mir aber immer mehr Kopfzerbrechen macht, ist die Frage: Sind unsere Entscheidungsstrukturen bereits so eingefahren, dass sie systematisch falsche Entscheidungen produzieren? Ohne dass wir es merken? Oder so, dass wir es zu spät bemerken?" Die Fragen faszinierten uns.

Wir begannen, die Entscheidungsprozesse in Unternehmen systematisch zu untersuchen. Wir trauten unseren Augen kaum: Der Verdacht des Geschäftsführers bestätigte sich in geradezu fataler Weise. Noch während wir viele Unternehmen entweder von innen (unsere Klienten) oder von außen (anhand von Critical Incidents) analysierten, gerieten viele in ernsthafte Schwierigkeiten. Einige wurden gar insolvent, wurden geschluckt oder mussten fusionieren. Und daran waren nicht die üblichen Verdächtigen schuld,

- der saturierte Markt

- der Preiskampf

- die flaue Branchenkonjunktur.

Diese widrigen Umstände existieren zwar, doch sie können nicht die Schwierigkeiten erklären. Denn unter der Branchenkonjunktur leiden alle. Dennoch geht es pro Branche 5 bis 20 Prozent der Unternehmen glänzend, während die anderen in Schwierigkeiten stecken.

Was die Probleme verursacht, ist nicht die schwache Konjunktur, sondern eine Kette von kleinen bis mittleren Fehlentscheidungen, die

- für sich genommen keinen großen Schaden anrichten, aber aufaddiert schwerste Folgen haben.

- nicht unabhängig voneinander entstehen, sondern auf dieselben Ursachen zurückgehen.

Diese gemeinsamen Fehlerursachen sind Entscheidungs-Pathologien: systematische Entscheidungsschwächen, von denen der Entscheidungsprozess befallen ist, und die jede, wirklich jede anstehende Entscheidung beeinträchtigen - bis hin zur Fehlentscheidung. Wir haben bis heute mehr als ein Dutzend Pathologien identifiziert, und die Liste wächst noch immer. Lassen Sie uns einige der gravierendsten und häufigsten betrachten:

- Fehlerhafte Fehleranalyse

- Zielfehler

- Einbein-Lösungen

- Fehlende Quantifizierung

Fehlerhafte Fehleranalyse

Führungskräfte mit signifikant höherer Fehlentscheidungs-Quote pflegen einen geradezu leichtfertigen Umgang mit begangenen Fehlern. Stellt man fest, dass die Führung "einen Bock geschossen" hat,

- ignoriert man das geflissentlich oder schweigt es tot

- lästert darüber und ärgert sich

- geht auf Sündenbock-Jagd und schiebt die Schuld dem Markt oder den Anbietern in die Schuhe.

Wer diese Taktiken fährt, lernt nichts aus seinen eigenen Fehlern. Das ist die beste Gewähr, bei der nächsten Entscheidung denselben Fehler zu machen. Wenn wir Führungskräfte auf die fehlende Fehleranalyse ansprechen, kommt meist der Einwand: "Aber wir wissen doch, woran es lag!" Nein, in der Regel nicht. Denn nach eingehender Prüfung stellt sich in über 90 Prozent der Fälle heraus: Die Chefs haben stets

- die falsche Ursache im Auge

- Ursachen falsch gewichtet - ausschlaggebend war eine ganz andere als angenommen

- einige Fehlerfaktoren ganz übersehen

- sich nur auf lineare Zusammenhänge (Ursache - Wirkung) konzentriert und dabei die systemischen Zusammenhänge (Rückkopplungen und Sekundäreffekte aus Markt und Lieferbeziehungen) ignoriert.

Nicht alle untersuchten Unternehmen weisen eine fehlerhafte Fehleranalyse auf. Einige Chefs analysieren tadellos. Was an ihnen auffällt, sind vor allem drei Erfolgsfaktoren:

- Die Fehleranalyse ist institutionalisiert. Das heißt, es gibt eine formelle oder unausgesprochene Prozessregelung, die unter anderem regelt: "Jede strategisch oder taktisch bedeutsame Entscheidung wird in ... wöchentlichen/monatlichen Abständen komplett evaluiert. Dem Audit-Zirkel gehören an: ..."

- Die Fehleranalyse wird extern oder intern moderiert, um Sündenbock-Jagden und Rechtfertigungsorgien zu unterbinden.

- Die Lehren aus Fehlentscheidungen, aber auch aus guten Entscheidungen werden in die bestehende Dokumentation des Entscheidungsprozesses und der Entscheidungsregeln integriert.

Zielfehler

Ein Handelsunternehmen in einer süddeutschen Kreisstadt registriert einen Einbruch der Kundentreue. Der Geschäftsführer beschließt umgehend: "Wir müssen die Kundenbindung stärken!" Also werden die Verkäufer und der Innendienst geschult. Dennoch kommt die Kundenzufriedenheit nicht vom Boden hoch. Zuerst ärgert sich der Geschäftsführer. Dann macht er eine Fehleranalyse und stellt dabei Seltsames fest. Während er versucht, Kunden zu binden, versuchen einige Verkäufer, ihre hoch gesteckten Umsatzziele zu erreichen, und fahren dabei Kunden "sauer", wie es im Jargon heißt. Einige Geschäftskunden sind ebenfalls sauer, weil die Bestell-EDV so abgeändert wurde, dass sie monatelang nicht wussten, wie man nun korrekt bestellt. Und so weiter.

Das heißt: Es existiert ein eklatanter Widerspruch zwischen einem strategischen und vielen operativen Zielen. Warum? Weil niemand beide Zielebenen aufeinander abstimmte. Die Ziele bekämpften sich gegenseitig! Das strategische Ziel verlor den Kampf - was die Regel ist: Operatives schlägt Strategisches alle Tage. Das heißt: Die Mitarbeiter schlugen den eigenen Chef, weil dieser seine Entscheidungs-Pathologie nicht erkannte (inzwischen "gewinnt" wieder der Chef).

Einbein-Lösungen

An diesem Beispiel erkennen wir eine weitere häufig auftretende Entscheidungs-Pathologie: die Einbein-Lösung. Manager mit dieser Entscheidungs-Pathologie tendieren dazu, ein Problem zu lösen, indem sie dessen Ursache beseitigen. Sie halten das für normal? Dann sollten Sie die Anzahl Ihrer Beine nachzählen. Scherz beiseite: Es gibt auf der ganzen Welt kein einziges Problem, das nur eine Ursache hätte.

In unserem Beispiel lag es eben nicht allein an den Mitarbeitern. Trotzdem wurden nur sie geschult. Führungskräfte, die pathologiefrei entscheiden, entscheiden anders. Sie verwenden nicht eindimensionale, sondern mehrdimensionale Lösungen: Sämtliche erreichbaren Problemfaktoren werden "erschlagen". Die Amerikaner sagen dazu auch: all you can afford - man setzt eben sämtliche Lösungsmaßnahmen ein, die man sich leisten kann. Viel hilft viel.

Und das ist auch nötig. Denn es zeigt sich, dass Einbein-Lösungen weitaus schlimmer sind als das Problem, das sie lösen sollen. Ge-rade weil ungefähr 90 Prozent der Einbein-Lösungen fehlschlagen oder nicht befriedigen, muss man es "mit etwas anderem probieren". Doch solange es wieder nur etwas anderes und nicht mehrere andere sind, schlägt auch die neue Maßnahme fehl. Viele Führungskräfte betreiben dieses Spiel, aus dem das Method-Hopping entstanden ist, seit Jahren - ohne es zu durchschauen.

Fehlende Quantifizierung

Unlängst meinte der Verkaufsgeschäftsführer eines großen Händlers in einer Sitzung der Geschäftsleitung: "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu viele schlechte Kunden beliefern." Diese Äußerung machte den anwesenden Controller stutzig. Er rechnete drei Tage lang Bonität, Rentabilität und Cash-Flow-Belastung nach und hatte fast einen Infarkt: Von den A-Kunden wurden im letzten Quartal allein 20 Prozent schlecht! Das war nicht gefährlich, das war existenzbedrohlich! Von den im letzten halben Jahr akquirierten C-Kunden kosteten zwei Drittel mehr an totalen Auftragsbearbeitungskosten, als sie an anrechenbarem Deckungsbeitrag brachten! Das heißt, diese Kunden nahmen das Unternehmen aus wie eine Weihnachtsgans - und das Unternehmen bemerkte es nicht nur nicht, es bedankte sich auch noch artig für die Aufträge, sprich dafür, dass es ausgenommen wurde! Solche Händler wünscht man sich als Kunde.

Wie konnte das passieren? Weil die Entscheidungsprozesse pathologisch sind. Die betreffende Pathologie heißt: fehlende Quantifizierung. Die Führungskräfte erkannten zwar den qualitativen Zusammenhang "Schlechte Kunden sind schlecht fürs Geschäft", doch weil sie ihn nicht quantifizierten, erkannten sie nicht, wie schlecht genau diese Kunden bereits waren. Deshalb hätten sie das Unternehmen binnen Jahresfrist in die Insolvenz getrieben - wenn der Controller sich nicht selbst den Auftrag zur Quantifizierung gegeben hätte. Warum musste er dafür drei Tage rechnen? Weil er kein COC, kein Customer Oriented Controlling hatte. Diese Aufgabe erfüllt sein Standardsystem des internen Rechenwesens nicht (kein Standardsystem tut das, deshalb heißt es Standardsystem). Inzwischen hat der gute Mann ein COC und rechnet schlechte Kunden nicht in drei Tagen, sondern in 30 Sekunden durch. Das COC kostete einen fünfstelligen Betrag. "Peanuts", sagt der Geschäftsführer, "wenn man bedenkt, dass wir damit das Unternehmen vor dem Ruin gerettet haben. Das System hat sich schon im ersten Jahr amortisiert."

Die beste Entscheidungsstruktur

Was ist die beste Entscheidungsstruktur für ein Unternehmen und seine Chefs? Die beste Entscheidungsstruktur ist selbst-referenziell. Das heißt, sie kann ganz einfach (quasi in Referenz auf sich selbst) alle bestehenden (und es besteht in jedem Unternehmen mindestens ein Dutzend) Entscheidungs-Pathologien

- aufspüren

- beschreiben

- analysieren und

- wirksam und dauerhaft

auflösen.

Dazu braucht ein Vorgesetzter nichts weiter als seinen guten Willen, viel Spürsinn, eventuell als Anleitung einen umfassenden Katalog der häufigsten Entscheidungs-Pathologien (ein Buch dazu ist in Vorbereitung) und ein System der Unternehmenssteuerung, das ihm jede seiner Entscheidungen im Voraus (simulativ) quantifiziert, sodass er deren Auswirkungen auf seine Bilanz und GuV betrachten kann.

Das sind keine großen oder teuren Voraussetzungen. Welche Pathologien verfälschen Ihre Entscheidungen? Wann werden Sie sie eliminieren? Was benötigen Sie dazu? Wann fangen Sie an?

*Johanna Joppe ist Senior-Partner bei der Unternehmensberatung Memconsult in Kutzenhausen bei Augsburg.

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