Wer nur für den Beruf lebt, lässt weite Bereiche seiner Persönlichkeit verkümmern.

24.02.2000

Im Job sind meist bestimmte Stärken gefragt: Ein Entwickler muss kreativ sein, beim Controller zählen Genauigkeit und Sorgfalt, ein Aktienhändler sollte blitzschnell entscheiden. Doch jeder Mensch vereint ein ganzes Bündel unterschiedlicher Talente und Eigenschaften. Wer sich einseitig auf den Beruf konzentriert, lässt oft weite Bereiche seiner Persönlichkeit verkümmern.

Selbstkomplexität nennen Psychologen die innere Vielseitigkeit des Menschen. Das Bild, das jeder von der eigenen Person hat, setzt sich aus vielen Puzzleteilen zusammen. Das können Rollen (Vater), Verhaltensweisen (hart arbeiten), Fähigkeiten (musikalisch) oder Einstellungen (liberal) sein. Je mehr voneinander unabhängige Aspekte das Selbstbild hat, desto selbstkomplexer ist ein Mensch.

Ein einseitiger Lebensentwurf fördert meist nur wenige Aspekte. Die Gefahr: Läuft etwas schief, kommt es leicht zu einer fundamentalen Krise. Die verpatzte Präsentation, der entgangene Auftrag oder gar die Kündigung. Wer nur für den Job lebt, kommt über solche Rückschläge schwer hinweg und fühlt sich schnell grundsätzlich in Frage gestellt. Selbstkomplexe Menschen dagegen können Verluste und Niederlagen kompensieren, weil sie über mentale und emotionale Ausweichfelder verfügen. Im Beruf mag es eine Pleite geben, doch die Identität als passionierter Vater, engagierter Vereinsvorsitzender oder geschätzter Freund bleibt davon unberührt.

Professor Bernd Simon von der Universität Kiel vergleicht diesen Effekt gerne mit dem Brand in einem Haus: Selbstkomplexe Menschen sind wie ein Gebäude mit vielen abschließbaren Zimmern. Bricht in einem Raum ein Feuer aus, können sie sich in einen anderen retten. Wer sehr einseitig lebt, besitzt dagegen nur ein einziges Zimmer. Selbst ein kleiner Brand hat dann gleich verheerende Folgen.

Die Selbstkomplexität zu erhöhen, kommt Körper und Geist zugute. Entscheidend ist, Aspekte zu entwickeln, die sich ausreichend vom bisherigen Repertoire unterscheiden. Hoher Erfolgsdruck im Job und Leistungssport in der Freizeit sind nicht unbedingt die beste Kombination. Einem Buchhalter bringt der Posten als Vereinskassenwart für die Persönlichkeit vermutlich wenig. Psychologe Simon: Selbstkomplexität lässt sich mit der Anlage in Aktien vergleichen. Risikodiversifikation funktioniert nur dann, wenn die Investments tatsächlich unabhängig voneinander sind.

(Dieser Beitrag erschien erstmalig in der "Wirtschaftswoche" 44/99)

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