Wer Wissens-Management sagt, meint eigentlich nichts anderes als DMS

11.02.2000
Seit einiger Zeit gibt sich alles sehr beeindruckend, was mit Wissensmanagement zu tun hat. Professor Fredmund Malik* hat einmal den Marketing-Lärm abgestellt.

In vielen Unternehmen ist Wissens-Management zur aktuellen Mode geworden. Nur wenige Führungskräfte dürften jedoch den Mut haben, vor ihren Mitarbeitern und Kollegen zuzugeben, dass sie - wie vermutlich 99 Prozent aller Manager - nichts davon verstehen oder an der Brauchbarkeit der gemachten Vorschläge zweifeln.

Es ist einmal mehr ein Tummelfeld für IT-Spezialisten, Consultants und Trainer entstanden, die damit ihre eigene Existenz zu rechtfertigen versuchen, ohne dafür Verantwortung und Aufwand tragen zu müssen.

Jeder Führungskraft muss dringend empfohlen werden, realis-tisch zu bleiben und genau zu prüfen, wie es mit den Kleidern des Kaisers bestellt ist. Man kommt recht schnell dahinter, dass der Kaiser nicht nur nackt, sondern dass er auch gar kein Kaiser ist.

Wenn man einmal den Lärm abstellt und der Sache auf den Grund geht, dann stellt sich heraus, dass das, was als Wissens-Management bezeichnet wird, in Wahrheit Dokumenten-Management ist.

Zweifellos ist auch Dokumenten-Management ein Fortschritt; dazu gehört, dass die Dokumente besser und übersichtlicher verwaltet werden können, dass man sie leichter und in mehr Situationen einer größeren Zahl von Personen und vor allem den richtigen Personen verfügbar machen kann, und dass man Zugriffs- und Änderungsrechte regeln kann. Das sind neue Formen der Archivierung und des Retrievals, aber längst noch kein Wissens-Management.

Es zeigt sich klar beim Internet, dass ein riesiger Dokumentenberg keine - schon gar nicht geordnete - Ansammlung von Wissen ist. Selbst das Retrieval-Problem, also das Finden von Dokumenten, ist für den, der etwas sucht, nicht nur nicht gelöst, sondern es wird mit dem Wachstum des Internet ständig schwieriger. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass die leis-tungsfähigste Suchmaschine, also jene, die das Web am gründlichs-ten durchsucht, dürftige 16 Prozent des gesamten Inhalts abdeckt. Das ist übrigens nicht Yahoo, um die so viel Börsengetöse gemacht wird, sondern Northern Light. Yahoo liegt im Schlussviertel der Leistungsfähigkeit mit kläglichen 7,4 Prozent. Selbst mit dieser lächerlich geringen Suchleistung bekommt man typischerweise Zehn- oder Hunderttausende von Suchergebnissen. Was soll man mit ihnen aber wirklich anfangen?

Man kann sie nicht einmal auf Relevanz prüfen, ganz zu schweigen davon, dass man auch nur Bruchteile ihres Inhalts in irgend einem vernünftigen Sinne wissen könnte. Hier von Wissens-Management zu reden, ist schierer Unfug.

Wissen hat nichts mit Computern und IT zu tun

Wissen ist etwas, was beim derzeitigen Stand gar nichts mit Computern und IT zu tun hat, wie ständig suggeriert wird, sondern mit Gehirnen und mehr noch mit Verstand und Vernunft. Wissen ist etwas, was seinen Ort - salopp formuliert - zwischen zwei Ohren hat und nicht zwischen zwei Modems. Die Wissenschaften, die sich am intensivsten mit dem befasst haben, was man am ehesten als Wissens-Management bezeichnen könnte, werden in der Diskussion am wenigsten, ja überhaupt nicht beachtet.

Es wären die Pädagogik, die Lern- und Kognitionspsychologie, die Neurowissenschaften und die Philosophie. Wenn man also fündig werden wollte, müsste man auf deren Ergebnisse abstellen und diese weiterentwickeln. Stattdessen wird auf ziemlich naive Weise bei Adam und Eva begonnen - und meistens bleibt man auch dort schon stecken.

Man beginnt schon mit der falschen Problemstellung, denn Wissen als solches kann man gar nicht in irgendeinem vernünftigen Wortsinn managen. Wie soll man sich das Management von Wissen, nicht etwa nur von Daten oder Information, in einem vernünftigen und auch praktisch brauchbaren Wortsinn vorstellen? Meint man denken? Oder gar nachdenken, meint man überlegen, schlussfolgern, sinnen, wahrnehmen, erkennen, verstehen, begreifen, forschen, entdecken, erfinden, lernen, lehren? Das ist eine Auswahl jener Tätigkeiten, mit denen Menschen bisher ihren jeweiligen Wissensbestand verändert haben. Hinzufügen könnte man auch beobachten, untersuchen, lesen, hören, erinnern, diskutieren. Damit wurde bisher Wissen gewonnen oder erworben, verbessert, erweitert, berichtigt und an andere Menschen weitergegeben. Wenn man das meint, dann soll man es doch auch sagen.

Alle diese im Einzelnen sehr verschiedenartigen Tätigkeiten in einem Wort und gar noch in "managen" zusammenzufassen, ist die ultimative Zerstörung jeder Klarheit und Brauchbarkeit der Begriffe "Wissen" und "Management". Von Wissens-Management zu reden, ist ungefähr gleich aussagekräftig, wie in Zusammenhang mit der Entstehung einer Beethoven-Symphonie von Ton-Management zu reden, oder die Kunst Monets als Farben-Management zu bezeichnen. Das würde ebenso deprimierend wenig über Beethoven und Monet, über Musik und Malerei sagen, als es beschämend viel über den Benutzer solcher Begriffe sagte. Was man managen kann und muss, ist nicht Wissen, sondern erstens das Arbeiten mit Wissen und zweitens die Personen, die das tun, nämlich die Wissensarbeiter. Wissen, Wissensarbeit und Wissensarbeiter sind keineswegs dasselbe. Management in diesem Zusammenhang kann überhaupt erst vernünftig eingesetzt werden und zu Resultaten führen, wenn man saubere Unterscheidungen macht.

Wichtigste Ressource

Wissen wird - hier besteht Konsens - mit hoher Wahrscheinlichkeit die wichtigste Ressource der zukünftigen Wirtschaft sein, und für manche Branchen ist es schon heute die einzige. Wem es gelingt, über das Dokumenten-Management hinauszukommen, wird eine Zeit lang einen kaum zu parierenden Konkurrenzvorteil haben. Dazu muss man Wissen produktiv machen, und das kann nur gelingen durch das Management der Wissensarbeit und des Wissens- oder besser Kopfarbeiters.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen im "Handelsblatt" vom 29.09.00.

*Fredmund Malik ist Titularprofessor an der Universität St. Gallen und Präsident des Verwaltungsrates des Management Zentrums St. Gallen.

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