Wie ein Berliner Krankenhaus zur "Wireless Clinic" wurde

30.10.2003
Das Mainzer Systemhaus N-Tier Construct entwickelt seit Jahren verteilte Informationssysteme, in die verschiedene mobile Lösungen und Spracherkennungstechnologien eingebunden werden können. Im Berliner Krankenhaus KEH sorgten die Mainzer bei der Einführung von Fallpauschalen und klinischen Pfaden auf der Basis von HPs Ipaq und Tablet-PCs für die nötige Mobilität. Von ComputerPartner-Redakteurin Ulrike Goreßen

"Gute Freunde helfen sich in der Not", so geschehen auf der vorigen Medica, einer internationalen Medizinfachmesse. Bernhard Tenckhoff, Arzt am Klinikum Königin Elisabeth Herzberge(KEH) in Berlin, wollte auf der Düsseldorfer Medizinermesse "Clinpath" - eine selbst entwickelte klinische Anwendung - vorstellen und benötigte dafür geeignete Hardware. Ein HP-Vertriebsmitarbeiter half ihm aus, da das Klinikum schon seit Jahren HP-Kunde (Pro-Liant-Server und Desktops) ist.

Aus diesem Gelegenheitskontakt entwickelte sich dann die Idee, im KEH ein Pilotprojekt in Richtung "HP Wireless Clinic" zu starten. Das Berliner Klinikum gehört nämlich zu den ersten fünf Krankenhäusern in Deutschland, die die technische Umsetzung von Fallpauschalen (siehe dazu Kasten) testen, die ab 2005 laut Gesetzgeber Pflicht werden.

Demnach sollen nicht nur die Medikamentation und die Pflegeleistungen dokumentiert und transparenter gemacht werden, sondern auch die Leistungen der Ärzte. Die Software, um die grundsätzlichen Veränderungen in der Patientenabrechnung zu implementieren sowie Fallpauschalen (Diagnose Related Groups, DRGs) und klinische Pfade einzuführen, war schon vorhanden.

Ständige Verfügbarkeit der Patientendaten ist Pflicht

Es handelt sich dabei um das Krankenhausinformationssystem (KIS) von Micom und die modifizierte "Clinical Pathway"-Anwendung auf der Basis von LEP (Leistungserfassung in der Pflege) von der Schweizer LEP AG. Letztere war von Tenckhoff auf die speziellen Bedürfnisse des KEH zugeschnitten worden.

Alle relevanten Infos zu den klinischen Behandlungsabläufen sind dort in einer Datenbank hinterlegt. Die modularen und Ergebnis orientierten klinischen Pfade werden über eine Internet-Plattform (www.clinpath.de) mit medizinischen Fachleuten erörtert, um die Standards zu sichern und eine optimale Qualität in der medizinischen Versorgung zu erreichen.

Ziel ist dabei, insbesondere die Fortbehandlung sowie die Koordination zwischen den einzelnen Disziplinen und Bereichen zu verbessern und gleichzeitig eine dauerhafte Überwachung des Patientenergebnisses zu gewährleisten. Die wahre Herausforderung für das Pilotprojekt bestand nun darin, diese Daten dem medizinischen Personal - Pflegedienst und Ärzten - auch während der Visite auf der Station mobil zur Verfügung zu stellen. Den Anfang machte das Pflegepersonal, das in drei ausgewählten Stationen mit fünf HP Ipaq Pocket PCs H5450 ausgestattet wurden. Nach jedem Patientenbesuch auf der Pflegerunde notieren die Krankenschwestern, welche Pflegeleistungen erbracht wurden und welche in Planung sind.

Für die Ärzte-Visite gibt es Tablet-PCs

Im zweiten Schritt wurden auch drei Tablet-PCs TC1000 mit256 MB RAM, einer 30 GB fassenden Festplatte und einer WLAN-Karte in das Projekt integriert. Auf ihnen sind alle Patientendaten sowie Formulare für weitere Behandlungen hinterlegt. Diese Informationen stehen in der Testphase drei Ärzten für die Visite zur Verfügung.

Die Hardware wurde von Herget Computertechnik in Berlin geliefert. Das Systemhaus ist schon seit Jahren Geschäftspartner der Klinik. Es hat sowohl die Server als auch die Desktops beschafft. Im Rahmen des Pilotprojekts leistet ausnahmsweise die klinikeigene EDV-Abteilung den Support der Mobilgeräte.

Als Software-Dienstleister kam N-Tier Construct ins Spiel. Die Mainzer haben bereits langjährige Erfahrungen mit verteilten Informationssystemen, in die mobile Lösungen eingebunden werden sollen. Und dieses Know-how war hier vonnöten. Die Browser-basierende LEP-Lösung musste erst einmal ins KIS (Client-System) integriert werden.

Und dann sollte der Datenzugriff auf die klinischen Pfad-Anwendung sowie das Krankenhaus-Informationssystem drahtlos direkt am Krankenbett möglich gemacht werden. Rolf Dahm, Geschäftsführer von N-Tier Construct, stellte dafür die selbst entwickelten Lösungen "NTC-Mobil" als Plattform und "NTC-Medic" zur Datenerhebung und für den Transfer zum KIS zur Verfügung.

In ersten Schritt passte N-Tier die XML-basierende Schnittstelle der auf Microsofts Dotnet-Architektur gestützten "Wireless Clinic"-Plattform an, sodass alle mobilen und stationären Geräte mit dem vorhandenen KIS-Verwaltungssystem kommunizieren können. Sobald die Ipaqs oder Tablet-PCs an eine Dockingstation angeschlossen sind oder einen Hotspot passieren, werden die Daten nun automatisch synchronisiert. Demnächst folgen die XML-Schnittstellen für Materialwirtschaft und Auftragsverwaltung.

Die richtige Wahl der Tester

Damit das Pilotprojekt nicht schon am Widerwillen der Tester scheitert, suchte Trenckhoff vom Berliner Klinikum für den ersten Schritt nur an Technik interessierte Probanden aus. Mit Erfolg: Laut Rüdiger Herget, Inhaber von Herget Computertechnik, dauerte die Schulung der Testnutzer nur 2,5 Stunden.

Auch Trenckhoff bestätigt, dass das Personal die Ipaqs, aber hauptsächlich die Tablet-PCs sehr gern annahm. Vielleicht sogar zu sehr: Durch den häufigen mobilen Einsatz der Tablet-PCs offenbarte sich ein Manko - die geringe Akkuleistung. "Es gab schon erheblichen Streit zwischen Ärzten und Pflegepersonal", berichtet der DV-Fachmann am Klinikum. Die Visite der Ärzte beginnt rund 45 Minuten nach der Pflegerunde.

Aber nachdem die Krankenschwestern die Mobilgeräte bereits ausgiebig genutzt haben, sind deren Akkus während der Ärzterunde oft leer.

Herget stellt deshalb Alternativlösungen vor. Einfach, aber teuer wäre die Anschaffung von Zweit-Akkus nebst Ladestation (rund 300 Euro). Die preiswertere Lösung (zirka 150 Euro) wäre eine Mini-USV-Anlage, die auf einem Stationswägelchen während der Runde mitgenommen wird und für ausreichend Strom sorgen könnte. Die dritte Alternative könnte von HP selbst kommen: leistungsfähigere Akkus.

Das Pilotprojekt ist ein voller Erfolg

Ansonsten ist das Pilotprojekt laut Tenckhoff ein voller Erfolg. "Der Tablet-PC trägt zur Verbesserung der Qualität und zur Beschleunigung der Behandlung bei", erklärt er. "Die Technologie hat auch geholfen, die Veränderungen besser sichtbar und auch akzeptabler zu machen, da die Vorteile für alle deutlich erkennbar sind."

Da der klinische Pfad bereits am Krankenbett abrufbar ist, sinkt der administrative Aufwand trotz gestiegener Erwartungen. Auch die Arbeitsweise ist nun effizienter geworden. In der Vergangenheit machten die Ärzte bei ihren Visiten Notizen und ordneten die Untersuchungen erst am Ende ihrer Runde an. Das ist jetzt nicht mehr notwendig.

Tenckhoff schätzt, dass durch das neue Verfahren etwa eine halbe Stunde pro Tag und Station eingespart wird. Auch die Gefahr, handschriftliche Anmerkungen falsch zuzuordnen oder Infos zu verlieren, ist ausgeräumt. Letztendlich rechnet das Krankenhaus damit, dass die Steigerung der Effizienz und Produktivität in Verbindung mit der Einführung von DRGs und klinischen Pfaden zu kürzeren Arbeitszeiten und geringeren laufenden Kosten führen.

Zurzeit werden beim KEH neue Einsatzzwecke für die Tablet-PCs untersucht. Einer davon ist die Aufzeichnung gesprochener Notizen; auch über die Einbindung der Telefonnotanlage ans WLAN wird nachgedacht. Das Krankenhaus mit rund 600 Betten verfügt über 30 Stationen, die nun nach und nach mit weiteren Modulen der "Wireless Clinic" ausgestattet werden sollen.

Meinung der Redakteurin

Durch die gesetzliche Verpflichtung, Fallpauschalensysteme einzuführen, werden Krankenhäuser in nächster Zukunft zu einer interessanten Kundengruppe für Fachhändler und Systemhäuser. Und da nur wenige Kliniken über eine ähnlich hohe EDV-Kompetenz verfügen wie das KEH, werden dann neben dem reinen Hardware-Rollout auch umfassende Dienstleistungen nachgefragt. Die Medizin hat also doch goldenen Boden - auf jeden Fall für die IT-Branche.

Solution Snapshot

Kunde: Klinikum Königin Elisabeth Herzberge, Herzbergstraße 79, 10365 Berlin, www.keh-berlin.de; Ansprechpartner: Dr. Bernhard Tenckhoff, Arzt und DRGBeauftragter, Tel: 030 54723747, E-Mail: b.tenckhoff@keh-berlin.de

Problemstellung: Ärzte und Pfleger dokumentieren alle Leistungen auf Papier, verwenden Patientenakten auf Papier und editieren Daten am PC. Das kostet viel Zeit und birgt Fehlerquellen beim Übertrag. Eine mobile Lösung soll Zeit ersparen und gleichzeitig helfen, klinische Pfade und Fallpauschalen (DRGs) einzuführen.

Lösung: direkte Eingabe der Daten während des Pflegeprozesses am HP iPAQ Pocket PC H5450 und Verwenden des HP-Tablet-PCs Compaq TC1000 für die elektronische Patientenakte während der Visite

Hardware-Wiederverkäufer: Herget Computertechnik, Glambecker Weg 30, 13467 Berlin, www.herget.de, Ansprechpartner: Rüdiger Herget, Inhaber; Tel: 030 4046052, Fax: 030 4051551, E-Mail: info@herget.de

Dienstleister: N-Tier Construct GmbH, Gleiwitzerstraße 5a, 55131 Mainz, www.n-tier.de; Ansprechpartner: Dr. Rolf Dahm, Geschäftsführer; Tel: 06131 5019960, Fax: 06131 5019966, E-Mail: info@n-tier.de

Technologie-Lieferant: LEP AG, Blarerstraße 7, CH-9000 St. Gallen, www.lep.ch; Micom Gesellschaft für Organisationsberatung und Computer-Software mbH, Schatzbogen 39, 81829 München, www.micom-medicare.de

Kontaktaufnahme: Kontakt durch HP-Vertrieb

Verhandlungsdauer: zwei Monate

größte Herausforderung: Die Akzeptanz der Mitarbeiter (Pfleger, Ärzte) für die neue Technik musste gewonnen werden.

unerwartete Schwierigkeiten: Die Ärztevisite findet nur knapp eine Stunde nach der Pflegerunde statt. Durch den intensiven Gebrauch des Tablet-PCs reicht die Akkuleistung nicht immer für beide aus. Als Alternative zu einem teuren Ersatzakku kann auch eine Mini-USV auf einem Wägelchen den Akku während der Visiten mit Strom versorgen.

Implementierungsdauer: eine Woche (Tablet-PC)

Arbeitsaufwand des Dienstleisters: zehn Manntage (für medizinische Schnittstelle zwischen Ipaq und Server), weitere 20 Manntage geplant für zwei weitere Schnittstellen (Handwerker und Materialwirtschaft)

Kostenumfang des Projekts: Zirka 37.500 Euro Gesamtkosten. Sie wurden erst zum Teil verbraucht.

Verhältnis Hardware/ Hardware: 20 Prozent, Dienstleistung: 80 Prozent, Software war schon vorhanden und Software/Dienstleistung: wurde vom Kunden teilweise selbst modifiziert.

Service- und Wartungsverträge: Es wurden noch keine Verträge abgeschlossen, da sich das Projekt noch in der Pilotphase befindet, in der die EDV-Abteilung des Kunden im Pilotstadium den Support selbst übernimmt.

Schulung: kommt mit Rollout

Benefit für Kunden: Kein Medienbruch mehr beim Übertragen der Daten von Papier auf PC, vollständigere Erfassung und bessere Dokumentation der Pflegeleistung. Arzt hat alle Patientendaten auf der Visite dabei. Pro Station kann täglich eine halbe Stunde Büroarbeit eingespart werden.

Benefit für den Dienstleister: Rollout beziehungsweise der Ausbau der Lösung auf die HP-Wireless-Clinic-Plattform ist gerade in Angebotsphase. Geplant ist die Einbindung weiterer Stationen und die Anbindung der Nottelefonanlage an die Wireless-Lösung.

Definition von DRG-Fallpauschalensystem

DRG-Fallpauschalensysteme (Diagnosis Related Groups - Diagnose-orientierte Fallpauschalen) fassen eine Vielzahl unterschiedlicher Diagnosen und damit Krankheitsarten zu einer überschaubaren Anzahl von Abrechnungspositionen mit vergleichbarem Aufwand zusammen. Die Zuordnung zu einer solchen Abrechnungsposition erfolgt hauptsächlich über medizinische Diagnose-, Operations- und Prozedur-Schlüssel. Zusätzlich werden im Einzelfall weitere Kriterien herangezogen, zum Beispiel Alter, Geschlecht, Geburtsgewicht, Entlassungsstatus. Das Leistungsspektrum von Krankenhäusern kann damit in einem überschaubaren DRG-Katalog abgebildet werden. Für die Einführungsphase haben sich alle Beteiligten zunächst auf einen Korridor von 600 bis zu 800 Abrechnungspositionen geeinigt. Durch die Berücksichtigung von Haupt- und Nebendiagnosen kann das System auch unterschiedlichen Schweregraden von Krankheiten Rechnung tragen.

Mit den Fallpauschalen soll die Qualität der Krankenversorgung gestartet werden. Alle Krankenhäuser sind zukünftig verpflichtet, Qualitätsberichte zu veröffentlichen, die auch Patienten zugänglich sein müssen. Damit erhalten diese besseren Einblick in die Leistungsfähigkeit der einzelnen Krankenhäuser. Die Berichte werden erstmals im Jahr 2005 für das zurückliegende Jahr 2004 erscheinen. Die stationäre Versorgung ist mit rund 45 Milliarden Euro der größte Ausgabenblock in der gesetzlichen Krankenversicherung. Mit den Fallpauschalen erfolgt die Zuordnung der Mittel entsprechend der Leistung. Dies ermöglicht einen Abbau von Überkapazitäten. Sicherstellungszuschläge sorgen in dünn besiedelten Gebieten gegebenenfalls dafür, dass die Versorgung im Krankenhaus wohnortnah bleibt und den Patienten keine überlangen Wege zugemutet werden.

Die Einführung des Fallpauschalensystems erfolgt in einem abgestuften Prozess, in einem so genannten lernenden Sys-tem. Seit Anfang 2003 können Krankenhäuser auf freiwilliger Basis gemäß der neu entwickelten Fallpauschalen abrechnen. Die Entscheidung über die Anwendung des Optionsmodells 2003 trifft jedes Krankenhaus eigenverantwortlich. Der Vorteil des Optionsmodells liegt vor allem darin, dass die Krankenhäuser frühzeitig praktische Erfahrungen unter "geschützten Bedingungen" sammeln können. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse lassen sich dann zum Beispiel bei Budgetverhandlungen mit den Kassen verwenden. Ab 2004 ist die Umstellung auf das Fallpauschalensystem für alle Krankenhäuser verpflichtend. (go)

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