Absage an Holokratie

Wie wär's mit - Führung?

Kommentar  02.01.2020
Uwe Reusche ist Geschäftsführer von ifsm - Institut für Sales & Managementberatung GmbH & Co.KG. Er ist diplomierter Betriebswirt (FH) und war zwölf Jahre als Führungskraft in der Finanzbranche tätig. Seit 1995 ist er Trainer, Berater und systemischer Coach und Therapeut (CoreDynamik-zertifiziert). Sein Schwerpunkt liegt in der Beratung der Organisationsentwicklung und dem Leadership Training. Er ist Autor des Buches: "Sales Coaching als Führungsinstrument – wirksam führen im Vertrieb".

Verunsicherung bei Organisationsentwicklern

Wird darauf verzichtet, fehlt den Mitarbeitern irgendwann der erforderliche Halt und die Orientierung, die auch für ein weitgehend selbstbestimmtes Arbeiten unabdingbar sind. Dass die Holokratie-Idee trotzdem auf eine nachhaltige Resonanz stieß, zeigt, wie groß die Verunsicherung bei vielen Organisationsentwicklern ist.

Auch agile Arbeitsweisen und -methoden bringen nicht die Lösung aller Probleme der Unternehmen im digitalen Zeitalter. Diese Ansätze sehen eine weitgehende Übertragung der Entscheidungsbefugnisse auf die Mitarbeiter und Teams vor, die eigenverantwortlich handeln sollen. Das aber setzt einen hohen Reifegrad der Mitarbeiter und Teams voraus. Nicht immer ist dieser gegeben, er muss von Führungskräften gezielt herbeigeführt werden.

In der Praxis scheitert die sogenannte agile Skalierung - also das Übertragen der agilen Arbeitsweisen auf die gesamte Organisation - unter anderem daran, dass in manchen Unternehmensbereichen agile Prinzipien wie etwa das inkrementelle Arbeiten nur bedingt realisierbar sind. Noch entscheidender: Selbstbestimmtes Arbeiten setzt bei Mitarbeitern neben ausgeprägtem Fachwissen auch die Fähigkeit zur Selbstführung und -organisation voraus. Außerdem müssen die Mitarbeiter in agilen Teams eine hohe intrinsische Motivation haben, die nicht selbstverständlich ist und sich oftmals nur auf gewisse (Teil-)Aufgaben bezieht.

Deshalb ist agiles Führen im Betriebsalltag eigentlich nur möglich

  • bei engagierten Mitarbeitern, die bereits Routine beim Bewältigen ihrer Aufgaben haben, und

  • bei Mitarbeitern in Teamstrukturen, die stark genug sind, um fachliche Defizite und fehlende Motivation aufzufangen.

Alle anderen Beschäftigten benötigen eine Führung, die den Entwicklungsprozess der Mitarbeiter begleitet. Diese Führung ist durch mal mehr, mal weniger dirigierendes und unterstützendes Verhalten gekennzeichnet.

Mindset ist so wichtig wie Methodenwissen

Bleibt die Frage, warum vielen Beschäftigten selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Arbeiten so schwerfällt, obwohl bereits Anstrengungen unternommen wurden, ihre diesbezügliche Kompetenz zu steigern. Das liegt daran, dass die Unternehmen ihren Mitarbeitern oft primär Methodenwissen vermittelt haben, um die Unternehmenskultur zu verändern. Nicht gesprochen wurde aber über das sensiblere Thema Mindset: Warum ist selbstbestimmtes Arbeiten überhaupt nötig? Warum sollen die Mitarbeiter ihre Einstellungen ändern?

Wer das tun will, muss mit seinen Mitarbeitern in einen breiteren, offenen Dialog treten. Nur wenige Betriebe konfrontieren ihre Belegschaften derzeit gezielt damit, was sich in den Märkten vollzieht - zum Beispiel

  • in den Schwellenländern,

  • bei Technologieführern,

  • in verwandten Branchen oder

  • bei Unternehmen, die die Marktentwicklung verschlafen haben.

Das aber wäre nötig, um zu vermitteln, warum für den Erfolg eigenständig und verantwortlich handelnde Mitarbeiter unabdingbar sind. Nicht nur das Management, auch die Beschäftigten müssen erkennen, welche Paradigmenwechsel sich in der Wirtschaft und Gesellschaft vollziehen und weshalb Change-Projekte - Stichwort: Disruption - heute einen anderen Charakter haben als früher.

Topentscheider schwadronieren

Die ständigen Diskussionen um Themen wie Agilität und Selbstbestimmung haben dazu geführt, dass viele Führungskräfte verunsichert sind. Sie wissen oft nicht mehr, ob sie in ihren Unternehmen künftig überhaupt noch gebraucht werden. Das liegt auch an den Managern: Topentscheider schwadronierten in den zurückliegenden Jahren oft über Holokratie als die Organisationsform der Zukunft, statt klare Botschaften an ihre Führungskräfte zu senden: "Führung wird im digitalen Zeitalter und einer sich schnell ändernden Welt immer wichtiger! Wer, wenn nicht Ihr, soll den Mitarbeitern in einem Unternehmenskontext, in dem alles auf dem Prüfstand steht, Halt und Orientierung geben?"

Statt in Zeiten, in denen fast alles im Umbruch ist, die Weiterbildung der Führungskräfte zu forcieren, haben etliche Unternehmen etwaige Programme auf Eis gelegt. Besser wäre es, den Führungskräften mit Nachdruck zu vermitteln, wie wichtig sie und ihre Arbeit für den Unternehmenserfolg sind. Ohne starke, die Mitarbeiter überzeugende Führungskräfte wird den Unternehmen die digitale Transformation nicht gelingen.

Führungskräfte brauchen in einem von starker Veränderung geprägten Umfeld die Fähigkeiten zur Selbstreflexion und Selbstführung. Das ist die Voraussetzung dafür, Führungsverhalten flexibel auf neue Anforderungen, Teamsituationen und Mitarbeiterbefindlichkeiten ausrichten zu können. Das zu trainieren, ist eine Maßnahme, die sich lohnt. (hv)

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