Arbeitsmarkt

Das Problem mit den Behindertenwerkstätten

27.12.2019 von Anne  Gersdorff
Viele IT-Unternehmen lassen in Behindertenwerkstätten produzieren. Solche Werkstätten sind eine gute Sache, so die landläufige Meinung, weil behinderte Menschen dadurch Arbeit bekommen. Doch so edel sind die Angebote nicht.
Foto: Tanya Shi - shutterstock.com

Weihnachten steht vor der Tür und viele Menschen besuchen Weihnachtsmärkte. Auf fast jedem Weihnachtsmarkt gibt es einen oder mehrere Stände von Werkstätten für behinderte Menschen. Die hübschen, oft handgemachten Dinge, die dort hergestellt werden, sind ideal als Geschenke für Freund*innen, Familie, Kolleg*innen oder Mitarbeiter*innen. Ganz anders als das übliche IT-Gedöns. Warum also nicht gleich etwas Gutes tun und Menschen mit Behinderung unterstützen?

Die meisten Menschen, die das System der "Behindertenwerkstatt" nicht genauer kennen, denken, dass Werkstätten eine gute Sache sind. Sie glauben, dass Menschen mit Behinderung durch die Werkstätten eine Chance bekommen, am Arbeitsleben teilzuhaben.

Wenn man aber genauer hinschaut, entspricht die Realität der Werkstätten nicht der allgemeinen Vorstellung von Inklusion und Teilhabe. Werkstätten erzeugen Strukturen, die Selbstbestimmtheit, Gleichberechtigung und Teilhabe nach den Maßstäben der UN-Behindertenrechtskonvention sehr vermissen lassen.

Werkstätten widersprechen den Menschenrechten

Deutschland hat vor genau zehn Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Darin steht, dass Menschen mit Behinderungen das Recht auf Arbeit haben, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen können. Der Arbeitsmarkt soll für alle offen und zugänglich sein und das Arbeitsumfeld frei gewählt werden können.

Doch weder die Bezahlung in den Werkstätten reicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, noch haben viele Beschäftigte der Werkstätten dieses Arbeitsumfeld wirklich frei gewählt. Damit widersprechen Werkstätten eigentlich sogar den Menschenrechten.

Eine Sonderwelt ohne Mindestlohn

Menschen mit Behinderungen arbeiten in Werkstätten in einer Sonderwelt. Denn sie sind dort in ihrem Arbeitsalltag isoliert von Menschen ohne Behinderung. Menschen ohne Behinderung kommen in Werkstätten ausschließlich als Anleiter*innen und Vorgesetzte vor. Es besteht also immer ein Machtgefälle zwischen Menschen mit Behinderung und ohne.

Die Beschäftigten – so nennt man die Menschen mit Behinderung, die in einer Werkstatt arbeiten – werden dazu nicht fair bezahlt. Der gesetzliche Mindestlohn gilt für sie nicht. Sie bekommen neben einer Grundsicherung für ihre Arbeitsleistung oft nur zwischen 80 und 200 Euro Taschengeld pro Monat.

Die Beschäftigten arbeiten dabei häufig sechs bis acht Stunden am Tag. Sie fertigen nicht nur schicke Handarbeiten an, sondern produzieren auch für die Industrie. Dazu gehören auch viele IT-Unternehmen, die in Werkstätten bestimmte Teile produzieren oder verpacken lassen, weil das genauer und günstiger ist als wenn Maschinen das tun. Nicht selten haben die Werkstätten deshalb den Druck, bestimmte Stückzahlen in einer gewissen Zeit zu erreichen.

Landläufig glaubt man, dass Beschäftigte einer Werkstatt die sind, für die es keine Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt. Per Gesetz ist das auch die Definition, an der gemessen werden soll, ob jemand in eine Werkstatt kommt. In den letzten Jahren hat sich aber der Kreis der Beschäftigten stark verändert: Während früher hauptsächlich Menschen mit Lernschwierigkeiten, einer sogenannten geistigen Behinderung, in Werkstätten beschäftigt waren, wächst heute der Anteil von Beschäftigten mit psychischen Erkrankungen stetig. Das heißt, es sitzen zum Teil hochqualifizierte Menschen in den Werkstätten, die dem Druck der Arbeitswelt nicht standhalten konnten.

Hier gilt es die Rahmenbedingungen so zu ändern, dass weniger Menschen in diese Lage kommen oder dass sie sich zumindest wieder Wege aus der Werkstatt heraus vorstellen können.

Sackgasse Behindertenwerkstatt

Der Weg in eine Werkstatt ist somit ziemlich einfach, fast alternativlos und oft nicht freiwillig. Zum einen fehlt es an anderen Ausbildungs- und Arbeitsperspektiven für Menschen mit Behinderung. Beratungen seitens der Krankenkassen, Rentenversicherung, Jobcenter oder Agenturen für Arbeit führen meistens automatisch dorthin. So kennen Menschen mit Behinderung und deren Unterstützer*innen oft von vornherein keine Alternativen.

Zum anderen führt in der Praxis eigentlich kein Weg aus der Werkstatt wieder heraus. Obwohl es der gesetzliche Auftrag von Werkstätten ist, Menschen mit Behinderungen zu befähigen, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten. Diesem Auftrag kommen die Werkstätten nicht nach. Die Anzahl von Menschen mit Behinderung, die in den allgemeinen Arbeitsmarkt übergehen, beträgt seit Jahren nur um die ein Prozent.

Die Werkstätten sind für sich gesehen dazu noch ein ausschließendes System. Denn Menschen mit Behinderungen müssen per Gesetz ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit mitbringen, um überhaupt in einer Werkstatt arbeiten zu können. Menschen mit sehr starken kognitiven und/oder körperlichen Behinderungen sind also von der Arbeit in einer Werkstatt von vornherein ausgeschlossen.

Lebenslanges Lernen für alle

Jeder Mensch hat das Recht, lebenslang Neues zu lernen. Doch für Menschen mit Behinderung, die in einer Werkstatt arbeiten, fehlt es an Angeboten, um sich beruflich weiterzuentwickeln oder etwas Neues auszuprobieren. Aufstiegschancen oder neue Herausforderungen gibt es quasi nicht. Werkstätten sind deshalb auch eine Schonraum-Falle. Menschen mit Behinderung sind häufig dem Vorurteil unterzogen, sie müssten besonders geschützt werden und bräuchten Orte, in denen sie vor der nicht-behinderten Mehrheitsgesellschaft Zuflucht finden.

Hartnäckig hält sich das Argument, dass in einem Schonraum am besten auf ihre Probleme und Bedürfnisse eingegangen werden könnte und dass dort die besten Förderungsmöglichkeiten bestünden.

Doch zeigen zahlreiche Studien: Menschen mit Behinderung in inklusiven Kontexten haben einen deutlichen Leistungsvorsprung. Außerdem: Nur weil alle Beschäftigten einer Werkstatt eine Behinderung haben, heißt nicht, dass es dort kein Mobbing gibt. Mobbing gegen behinderte Menschen findet in gleichem Maß durch ebenfalls behinderte Menschen statt wie durch nicht-behinderte.

Das können Sie tun

Uns ist klar, dass sich die Welt nicht verändert, wenn ein Produkt aus einer Werkstatt mehr oder weniger gekauft wird. Doch können wir die Rahmenbedingungen durch unser Konsumverhalten beeinflussen. Und es ist wichtig, die Bedingungen zu reflektieren, unter denen die Produkte, mit deren Kauf wir eigentlich etwas Gutes tun wollen, hergestellt werden.

Erzählen Sie deshalb anderen Menschen von den Rahmenbedingungen, unter denen viele Menschen mit Behinderung in Deutschland arbeiten. Schaffen Sie Räume der Begegnung. Sprechen Sie mit Menschen mit Behinderungen und hören Sie ihnen zu. Wenn Ihr Unternehmen in einer Werkstatt produzieren lässt, fragen Sie dort nach den Bedingungen, unter denen die Beschäftigten arbeiten.

Arbeiten Sie mit Kolleg*innen mit Behinderung zusammen. Werkstätten und viele Ämter und unterstützende Organisationen sind ständig auf der Suche nach einem Praktikumsplatz. Da gibt es bestimmt auch eine Möglichkeit in Ihrer Firma. Reden Sie mit Ihrer*m Vorgesetzten. Er oder Sie könnte sogar finanzielle Vorteile davon haben. Verbünden Sie sich mit Unternehmen, die inklusiv arbeiten oder Inklusion unterstützen.

Sie müssen das nicht alles allein tun. Es gibt viele Organisationen, die Menschen mit Behinderung und Unternehmen unterstützen, zu fairen Bedingungen inklusiv zu arbeiten.

Das wäre doch ein guter Vorsatz fürs neue Jahr, oder?

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