Novell mit unklarem Konzept und ungewissen Zukunftsaussichten

25.05.2000

Auf der diesjährigen europäischen Brainshare in Nizza, dem Branchentreff von Novell, haben Teilnehmer wieder mal das mangelnde Marketing der Company beklagt. Sie stimmten darin überein, dass vor allem dieses Manko zum Siegeszug von Windows als Netzwerkbetriebssystem beigetragen hat. Das soll nun besser werden: einerseits mit Hilfe des frisch berufenen Marketing-Chefs Steve Adams, andererseits durch eine neue Vision. Unter dem eingängigen Begriff "One Net" propagieren die Mannen aus Utah eine offene Kommunikation zwischen Hersteller, Kunde und Wiederverkäufer. Als störende Barriere entpuppt sich hier die Firewall - CEO Schmidt möchte sie niederreißen und auf intelligentere Weise für sichere Datenübertragung sorgen.

Das gesamte Konzept bleibt jedoch unklar. Zwar scheint die frühere produktlastige Strategie der Company überwunden, und Schwerpunkt der neuen Politik bilden Dienste für die "Net Economy", vor allem der Verzeichnisdienst NDS. Dieser, mittlerweile zum "E-Directory" umfunktioniert, steht bei Fachleuten hoch im Kurs, doch wie man mit derartiger Software tatsächlich Geld verdienen kann, bleibt schleierhaft. Auch wenn - wie Schmidt behauptet - die Bücher voller Directory-Aufträge sind, dürfte noch mindestens ein halbes Jahr vergehen, bis diese Orders sich in einem den Marketing-Anstrengungen adäquaten Umsatz oder gar Gewinn niederschlagen.

Denn mit dem Produkt allein ist es beileibe nicht getan. Die Arbeit fängt da erst an: Es gilt, alle über das gesamte Unternehmen verteilten Informationen über Mitarbeiter, Kunden und Equipment unter einen Hut - in diesem Fall unter ein Directory - zu bringen. Diese Dienstleistung sollten jedoch die Partnern übernehmen, und wenn sie nicht über genügend Know-how verfügen, dann müssen sie eben von Novell geschult werden. All dies ist offenbar geplant, die Bereitschaft des Herstellers, seine Trainingsaktivitäten im Channel zu verstärken, bezeugt es.

Es werden aber nicht alle Partner Verzeichnisdienste bei Großkunden installieren können und wollen. Deshalb sollte Novell auch die "kleinen" Wiederverkäufer nicht vergessen. Für die stellt der Verkauf von Netware und Netzwerk-Management-Software nach wie vor das Rückgrat ihres Geschäfts dar. Wenn sie als Novell-Partner wegbrechen, fehlen dem Hersteller bedeutende Lizenzerlöse. Die zunehmende Vernachlässigung der Netware-Kundschaft ist daher völlig unverständlich.

Sorgen sollte sich die Company auch um ihre Groupware machen. Im Vergleich zu Produkten der Wettbewerber Lotus und Microsoft liegt die XML-Integration in der Messaging-Software Groupwise im Rückstand, meinen Analysten der Burton Group. Und zu einem Wissens-Management-Werkzeug fehlen der Lösung noch einige Funktionen. Andererseits will Novell keinesfalls komplette System-Management-Suites anbieten und in Konkurrenz mit Computer Associates, Tivoli und HP treten.

Die Netzwerker bleiben also ihren ausschließlich netzbasierten Diensten und Programmen treu verbunden. Hoffentlich kommt aber die dazugehörige Produkt- und Marketing-Offensive nicht zu spät. Es wäre schade, wenn wieder mal ein Microsoft-Antagonist von der Bildfläche verschwinden würde.

Ronald Wiltscheck

rwiltscheck@computerpartner.de