Technik & Know-how: Linux-Taschensurfer Nokia 770 im Praxistest

21.09.2006 von Moritz Jäger
Das Nokia 770 ist zwar als Surfstation konzipiert, erfreut sich dank seines Linux-Unterbaus aber einer aktiven Entwickler-Community. So beherrscht es neben den Internetfunktionen immer mehr Open-Source-Tools. Wir zeigen Ihnen, wie sich das Gerät im tecCHANNEL-Test schlägt.

Letztes Jahr hat Nokia mit seinem "Nokia 770 Internet Tablet" für Furore gesorgt. Denn obwohl es keinerlei Funkmodul für das GSM- oder UMTS-Netz enthält, war es monatelang ausverkauft. Für den Erfolg gibt es mindestens zwei Gründe: Zum einen setzt das Gerät konsequent auf das offene Linux-Betriebssystem Maemo, zum anderen liegt es mit einem empfohlenen Verkaufspreis von 349 Euro deutlich unter der Marke der Microsoft Ultra Mobile PCs (Origami).

Der kleine Linux-Handheld hat einiges auf dem Kasten und ist in den Internetfunktionen anderen PDAs deutlich überlegen. So lassen sich beispielsweise normale Webseiten ansurfen, selbst wenn sie AJAX oder Flash einsetzen. Ebenfalls von Vorteil ist der Einsatz der Nokia Linux-Distribution Maemo. Wie sich das Gerät im Test schlägt, lesen Sie auf den folgenden Seiten.

Nokia 770 im Praxiseinsatz

Konzipiert wurde das Nokia 770 als mobiles Internet-Terminal, das per WLAN und entsprechende Hotspots an das Web angeschlossen ist. PIM-Funktionen wie Adress- oder Terminverwaltung standen bei der Entwicklung eher im Hintergrund. Es handelt sich also weniger um einen PDA als um ein Nischenprodukt, das für die meisten Funktionen auf ein verfügbares WLAN angewiesen ist.

Dafür glänzt das Internet Tablet in diesem Segment mit seinen Funktionen. Der Touchscreen mit einer Auflösung von 800 x 480 Pixel besitzt eine beeindruckende Helligkeit und stellt Internetseiten klar und deutlich dar. Als Browser kommt aktuell Opera 8 zum Einsatz. Zusätzlich wurden RSS-Reader, ein Streaming-Client sowie ein Instant Messenger für GoogleTalk integriert.

Sobald das Gerät Zugriff auf das Netzwerk oder das Internet benötigt, überprüft es die Umgebung nach WLAN-Hotspots. Ist einer in Reichweite, öffnet sich der Verbindungsmanager. Nach Eingabe der Daten verbindet sich das Nokia 770 mit dem Hotspot und greift auf das Internet zu. Wahlweise lässt sich die Verbindung auch mit Hilfe von Bluetooth und einem Handy als Modem herstellen. Zudem kann das Internet Tablet per Bluetooth auch auf den Speicher und die Kontakte von Bluetooth-fähigen Mobiltelefonen zugreifen.

Die Paradedisziplin – Surfen im Netz

Im Gegensatz zu normalen PDAs benötigt das Internet Tablet keine speziell angepassten Seiten, sondern kommt mit normalen Internetseiten klar. Positiv ist, dass die meisten „normalen“ Seiten anständig dargestellt werden. Auch einfache Flash-Formate sind möglich. Dank einer praktischen Kipptaste am oberen Ende des Geräts lässt sich eine Webseite direkt verkleinern oder vergrößern. Der größte Vorteil des eingesetzten Opera 8 ist, dass sich wie bei einem Desktop-PC mehrere Browser-Fenster öffnen lassen.

Seiten wie Google Mail, die mit AJAX arbeiten, sind in gewohnter Funktionsweise verfügbar. Lediglich anspruchsvolle Flash-Seiten wie Youtube oder Google Video sind mit der installierten Version von Flash nicht möglich. Anspruchsvolle Flash-Anwendungen, etwa das Streaming-Radio Pandora, lassen sich ebenfalls nicht ausführen, der Grund hierfür ist der geringe Arbeitsspeicher.

Bei längerem Einsatz offenbaren sich Probleme bei der virtuellen Tastatur. Ab und zu spricht das Keyboard bei einzelnen Buchstaben nicht an, Schnelltipper stoßen an ihre Grenzen. Positiv dagegen ist die gute Schriftzeichenerkennung, die sich durch Training noch weiter verbessern lässt. Eine gute Alternative zur On-Screen-Tastatur ist eine dank Bluetooth kabellose Tastatur.

Dank Linux – immer mehr Programme

Die Installation selbst sowie das Einbinden der neuen Programme übernimmt der Programm-Manager, was einwandfrei klappt. Ein Blick in den Anwendungskatalog der Maemo-Seite zeigt, dass die meisten Entwickler gleichzeitig scheinbar Administratoren sind. Viele Prüf- und Überwachungs-Tools aus der Linux-Welt wurden inzwischen auf das kleine Gerät portiert. Mit dabei sind beispielsweise eine Bash, der VNC-Viewer sowie verschiedene Sicherheits-Tools wie Kismet oder Nmap.

Das Nokia 770 verfügt über die Möglichkeit, neue Programme direkt aus verschiedenen Repositories zu installieren. Im Praxistest traten hier allerdings Probleme auf. So war es dem Gerät nicht möglich, die Liste der einzelnen Verzeichnisse zu aktualisieren, damit ließen sich auch keine neuen Programme installieren. Besonders bei Tools, die für den Betrieb mehrere Bibliotheken benötigen, ist das unangenehm: Man muss jedes Programmpaket einzeln herunterladen und installieren.

Zu gering: Akku und Arbeitsspeicher

Die Laufzeit des Nokia 770 ermitteln wir mit dem eigens angefertigten Messgerät tecSimulator. Dieser simuliert die Tastatureingaben eines Anwenders und sorgt dafür, dass der PDA ununterbrochen läuft. Sobald sich der Proband wegen niedriger Akkuleistung abschaltet, registriert der tecSimulator die bis dahin vergangene Zeit. Für eine sinnvolle Praxissimulation haben wir WLAN aktiv gelassen und die Helligkeit auf den „worst case“, also auf die maximale Stufe eingestellt. Das Internet Tablet hielt mit einem voll geladenen Akku (300 mAh) im Test 117 Minuten am Stück durch. Der Akku war nach 98 Minuten wieder komplett geladen. Nokia liefert die Geräte teilweise auch mit einem stärkeren Akku aus, hier sollen laut Hersteller maximal drei Stunden möglich sein. Dennoch sollte ein Nachfolger einen deutlich stärkeren Akku erhalten.

Zweites Sorgenkind ist der Arbeitsspeicher. Dem Nokia 770 stehen maximal 64 MB aus dem 128 MB großen Flash-Speicher zur Verfügung, das ist eindeutig zu wenig. Besonders wenn mehrere Anwendungen und Browser-Instanzen geöffnet sind, wird das Gerät spürbar langsamer.

Die Auslagerungsdatei lässt sich zwar auch auf einer Memory-Card unterbringen, was einen kleinen Geschwindigkeitsvorteil bringt. Allerdings verliert man dadurch wiederum Speicherplatz. Hier sollte Nokia beim Nachfolger ebenfalls großzügiger sein und den Arbeitsspeicher deutlich erhöhen.

Maemo – das Geheimnis des Erfolgs

Im Inneren des Nokia 770 arbeitet die Linux-Distribution Maemo. Diese wurde direkt von Nokia ins Leben gerufen, ist aber komplett Open Source. Die Distribution basiert auf Debian. Die grafische Oberfläche namens „Hildon“ basiert auf einem optimierten GTK+-Framework. Da Maemo für den Einsatz auf PDAs und anderen Embedded-Geräten konzipiert wurde, haben die Entwickler ressourcenintensive Pakete entfernt.

Das Besondere an Maemo ist, dass sich bereits bestehende Linux-Anwendungen ohne größeren Aufwand portieren lassen. Da sich das Nokia 770 zudem inzwischen eine feste Fangemeinde gesichert hat, entwickeln immer mehr freie Programmierer direkt für Maemo.

Technische Daten

Hier noch sämtliche technische Daten des Nokia 770 im Überblick:

Nokia 770 Internet Tablet

Gewicht

230 Gramm mit Schutzhülle, 185 Gramm ohne Schutzhülle

Größe

141 x 79 x 19 mm bzw. 135 x 78 x 14 mm ohne Schutzhülle

Bildschirmauflösung/Farbtiefe

800 x 480 Pixel mit 65.536 Farben

Speicher

128 MB onboard, davon 64 MB für Daten

Mögliche Speichererweiterung

bis zu 1 GB per RS-MMC-Speicherkarte

Verbindungsmöglichkeiten

WLAN 802.11 b/g
Bluetooth 1.2
USB 2.0

Akkulaufzeit

etwa 178 Minuten mit aktiviertem WLAN und voller Helligkeit mit einem 1300-mAh-Akku

Ladezeit

97 Minuten, bis der 1300-mAh-Akku voll geladen ist

Unterstützte Dateiformate

Audio: AAC, AMR, MP2, MP3, Real Audio, WAV, WMA
Bilder: GIF, ICO, JPEG, PNG, TIFF, SVG-tiny
Video: 3GP, AVI, H.263, MPEG-1, MPEG-4, Real Video
Wiedergabelisten: M3U, PLS

Empfohlener Verkaufspreis

349 Euro

Fazit

Beim Nokia Internet Tablet 770 handelt es sich um ein gutes Gerät, das einerseits geniale Funktionen bietet, andererseits aber noch deutliche Schwächen zeigt. Gerade in der Paradedisziplin, dem Internet-Browsing, wird es vom inzwischen veralteten Opera 8 und zu wenig Arbeitsspeicher teilweise arg ausgebremst. Der Mangel an Arbeitsspeicher macht sich auch bemerkbar, wenn mehrere Anwendungen gleichzeitig gestartet werden. Zudem benötigt das Gerät eine Netzwerkverbindung, um seine Fähigkeiten voll ausschöpfen zu können.

Nichtsdestotrotz ist das Nokia 770 ein innovatives Produkt, das vor allem auf Grund seines Linux-Unterbaus hervorsticht und damit in vielen Bereichen Boden gutmacht. Durch die offene Struktur erlaubt das Internet Tablet Anwendungen, die mit anderen PDAs schwer oder gar nicht möglich sind. Beispiele dafür sind etwa die GNU Bash oder der komplette Kismet- und Nmap-Port.

Das Nokia 770 ist damit vor allem für Anwender interessant, die bereits aktiv mit Linux arbeiten. Sie können das Potenzial voll ausschöpfen und profitieren von den verschiedenen Portierungen. Wer mit Linux eher wenig am Hut hat, erhält immerhin einen PDA mit beeindruckendem Display und einem durchschnittlichen Browser, der aber einen sehr guten RSS-Reader, einen Client für Musik-Streams, Instant Messaging und einen Video-Client bietet.

Im Endeffekt erledigt das Nokia-Gerät sämtliche Aufgaben, die der Konkurrent Microsoft für sein Ultra-Mobile-PC-Konzept Origami vorgesehen hat. Dabei kostet das Internet Tablet aber deutlich weniger. Nokia plant zudem wegen der großen Nachfrage einen Nachfolger. Dieser sollte dann aber dringend mehr Arbeitsspeicher und einen deutlich stärkeren Akku erhalten. (Moritz Jäger, tecChannel.de/)