Arbeitsmarkt

Vernichtet die Cloud Arbeitsplätze?

16.02.2012
Cloud Computing bringt die IT-Arbeitswelt in Bewegung. Neue Jobs entstehen, andere verschwinden. Uneins sind sich die Experten in der Frage, wie die Rechnung unterm Strich aussieht.
Lässt Cloud Computing den IT-Profi im Regen stehen, weil viele Jobs wegfallen?
Foto: rubysoho/Fotolia.de

Cloud Computing bringt die IT-Arbeitswelt in Bewegung. Neue Jobs entstehen, andere verschwinden. Uneins sind sich die Experten in der Frage, wie die Rechnung unterm Strich aussieht.
von Dietmar Müller (freier Journalist in München)
Ende vergangenen Jahres meldete sich ein Mann von Gewicht zu Wort. Roland Berger, der Unternehmensberater mit dem guten Kontakt zum Kanzleramt, erteilt dem Cloud Computing seinen Segen. Laut einer Studie seiner Firma wird die Wolken-IT jede Menge neue Jobs bringen und Umsätze aller Art abwerfen. Dass für IT-Anbieter mit der Cloud Geld zu verdienen ist, ist wohl unbestritten. Kein Consultant dieser Welt verspricht auf absehbare Zeit weniger als zweistellige Wachstumsraten. Bergers Studie "Survival of the Fittest - Wie Europa in der Cloud eine führende Rolle übernehmen kann" entstand in Zusammenarbeit mit SAP. Die Studie beziffert das weltweite Umsatzvolumen der Cloud Economy bis 2015 auf stolze 73 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 wurden weltweit rund 21,5 Milliarden Dollar in Cloud Computing und dazu passende Dienstleistungen investiert.

Jeder zweite Arbeitsplatz weg

Mit dem sprunghaften Umsatzwachstum verbunden soll in den kommenden Jahren ein neues wirtschaftliches Ökosystem sein. "Cloud Computing wird vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen eine echte Revolution darstellen", meint Peter Lorenz, Leiter des Bereichs On-Deman-Solutions bei SAP und Mitherausgeber der Studie. Diese Betriebe würden nun Zugriff auf IT-Architekturen erhalten, die bislangGroßunternehmen vorbehalten gewesen seien. Dadurch ergäben sich neue Marktchancen für IT-Anbieter, ihren Kunden maßgeschneiderte Lösungen und flexible Dienstleistungen anzubieten.

Hört sich nach viel Arbeit an. Und nach neuen Jobs. Aber kann das wirklich so einfach funktionieren? Oder stellt sich nicht vielmehr die Frage: Wird die Cloud nicht doch mehr Arbeitsplätze vernichten als schaffen? Schließlich steckt ein Standardisierungs- und Rationalisierungsversprechen hinter Cloud Computing. IT soll "Commodity" werden, zu etwas völlig Selbstverständlichem also, für das kaum noch Fachkräfte gebraucht werden. Oder wie es Nicholas Carr, viel diskutierter Analytiker der IT-Industrie, in seinem Besteller "The Big Switch: Rewiring the World, from Edison to Google" beschrieben hat: Während Unternehmen im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Regel über einen eigenen Stromgenerator verfügten, beziehen sie heute ihren Strom aus der Steckdose. Die Angestellten, die sich um die Generatoren in den Unternehmen kümmerten, sind längst entlassen. Neue Jobs findet man nur noch in den Kraftwerken, die nun die Energie liefern.

Roger Albrecht, Orgsource: "Cloud Services werden zu weniger Administrations- und Entwicklungsarbeiten führen."
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Roger Albrecht, langjähriger Deutschland-Chef von Gartner Consulting und aktueller Geschäftsführer von Orgsource, stimmt Carr zu. Cloud-Services würden in noch größerem Umfang Investitionen in Hard- und Software sowie lokalen Support ersetzen, als dies von Berger aufgezeigt worden sei. Albrecht geht von einem regelrechten Kahlschlag unter den IT-Fachleuten aus. "Integrierte Cloud-Services werden beim Anwender zu weniger Administrations- und Entwicklungsarbeiten führen", prophezeit er.

Seiner Meinung nach spaltet sich der Fachkräftemarkt. Hochqualifizierten und zertifizierten IT-Fachkräften eröffnen sich, anders als angelernten IT-Generalisten mit Administrations- und Entwicklungsjobs, zusätzliche Chancen in einem erweiterten Markt. "Qualifizierung gewinnt für die in den User-Unternehmen verbleibenden IT- und Organisationsrollen vermehrt an Bedeutung. Gleichzeitig können Anbieter aus einem wachsenden Angebot an qualifiziertem und zertifiziertem IT-Fachpersonal wählen", meint Albrecht. Der Schlüssel zu positiven Beschäftigungseffekten liege in der Schnelligkeit, in der etablierte und neue europäische Anbieter den Unternehmen innovative und hochwertige Cloud-Angebote machen könnten.

Allerdings sagt Albrecht unmissverständlich, dass den vielleicht 70.000 zusätzlichen Arbeitskräften enorme Einspareffekte in den Anwenderunternehmen gegenüber- stünden. Dort stehe auf Dauer jeder zweite IT-Arbeitsplatz zur Disposition. Und Albrecht denkt weiter: "Da die angesprochenen wirtschaftlichen Vorteile in Anwenderunternehmen wohl nur dann gewährt werden, wenn die Anbieter mit ihren Services Geld verdienen, werden sich die europäischen Anbieter auch außerhalb Europas durchsetzen müssen." Facebook sei vielleicht nicht mit seinem Geschäftsmodell, aber mit der raschen Internationalisierung seines Angebots ein Vorbild.

Neue Jobs beim Dienstleister

Das Zwischenergebnis lautet also: Die Cloud wird in Deutschland viele Administratoren in Anwenderunternehmen überflüssig machen, dafür aber die Personaldecke bei den Dienstleistern vergrößern. Ob sich unterm Strich ein Plus oder Minus bei den Beschäftigtenzahlen ergibt, ist ungewiss.

Entsprechend geteilt sind die Meinungen über die Auswirkungen von Cloud Computing auf IT-Jobs. Neben Roland Berger und Roger Albrecht haben sich viele andere Experten den Kopf über dieses Problem zerbrochen. Chefanalyst Frank Niemann von Pierre Audoin Consultants (PAC) etwa verweist auf eine Studie, die sein Beratungsunternehmen gemeinsam mit Berlecon Research, der International Business School of Service Management (ISS) und dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi) im November 2010 veröffentlicht hat.

Ziel der Studie war es, das wirtschaftliche Potenzial der unter dem Sammelbegriff "Internet der Dienste" zusammengefassten Technologien für den Standort Deutschland zu ermitteln. Um es kurz zu machen: Sie alle kamen im Prinzip zum selben Ergebnis wie Berger und Albrecht - während in Cloud-nahen Bereichen zusätzliche Arbeitsplätze entständen, würden in anderen Bereichen der Informations- und Kommunikationstechnik, etwa der Hardwareindustrie oder der Wartung von Software und Hardware, Stellen abgebaut. Die Autoren ziehen jedoch ein eindeutig positives Fazit: "Es ist davon auszugehen, dass durch Cloud Computing kurz- und mittelfristig die Zahl der Arbeitsplätze im IKT-Sektor deutlich zunimmt." Vor allem die Integration der Cloud-Dienste in die IT-Welten der Anwender soll für Arbeitsplätze sorgen: "Mit der weiteren Verbreitung des Cloud-Konzepts werden vor allem Integrationsspezialisten gefragt sein."

Auch neue Tätigkeitsfelder

Cloud Computing werde bis zum Jahr 2025 für massives Beschäftigungspotenzial sorgen. Langfristig über die Jahre 2020 bis 2025 hinaus dürfte die Beschäftigung in der IKT-Industrie durch die zunehmende Industrialisierung der IT jedoch leicht rückläufig sein, so PAC und die Studien-Mitautoren.

Dieser Trend veranlasste den Analysten Andreas Zilch von der Experton Group zu einer Schrift, die er "Der Untergang der klassischen Software-Industrie 2012-2017" nannte. Der Grund dafür sei - natürlich, die These ist mittlerweile allgemein anerkannt - die zunehmende Ausbreitung des Cloud-Paradigmas: Aus "Software" wird langfristig "Service". Dies führe, so Zilch analog zu seinen Zunftkollegen, zunächst zu einer positiven Beschäftigungsentwicklung.

Der Analyst geht näher auf die Gründe ein: Zum einen seien in Anbieterunternehmen erhebliche Investitionen notwendig, um die Software zu modernisieren und "SaaS-ready" zu machen - das sei gerade in der jüngsten Vergangenheit oft unterschätzt worden. Diese heute schon sichtbaren Entwicklungen würden in den nächsten fünf bis zehn Jahren den Markt und die Anbieterlandschaft stark verändern. Neue Wettbewerber kommen hinzu, einige Softwareanbieter schaffen die Transformation, andere wiederum verschwinden in der Bedeutungslosigkeit.

Karin Henkel, Sapientia: "Cloud Computing ist alter Wein in neuen Schläuchen."
Foto: Sapientia

Zu den Experten, die ein Minus unter die Rechnung setzen, zählt dagegen Karin Henkel, Chefin der Sapientia GmbH und Senior Research Director bei Strategy Partners International: "Cloud Computing ist eigentlich alter Wein in neuen Schläuchen - früher nannte man das ASP, SaaS und Hosting. Die Auswirkungen sind immer die gleichen. Jede zentrale Verwaltung von Ressourcen braucht weniger Administration und damit weniger Arbeitsplätze. Das heißt, langfristig werden Jobs verloren gehen." Allerdings, und da stimmt sie mit den Beraterkollegen überein, "werden auch neue Fachgebiete erschaffen, so dass es da auch neue Tätigkeitsfelder gibt und damit eventuell zusätzliche Arbeitsplätze".

Formularbürokratie stirbt aus

Thomas Sprenger, Pironet: "Cloud Computing killt Jobs - aber die langweiligen."
Foto: Pironet NDH

Noch deutlicher hat es Thomas Sprenger formuliert, Sprecher des deutschen Cloud-Anbieters Pironet NDH: "Cloud Computing killt tatsächlich Jobs - aber die langweiligen." Er verweist auf Gunter Dueck, ehemaliger Vordenker der IBM Deutschland GmbH und einer der Präsidenten der Gesellschaft für Informatik (GI): "Folgt man der Argumentation von Dueck, werden Cloud Computing und der Technologiedrift, den es repräsentiert, Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Allerdings nicht nur beziehungsweise weniger in der IT."

Mit der Zusammenlegung und Standardisierung von IT-Ressourcen ließen sich viele Dienstleistungsprozesse automatisieren. So könnten weite Teile der "Formularbürokratie als Jobgarant für Hunderttausende" zu einem Gutteil verschwinden, denn in der Datenverwaltung seien Computer nun einmal schneller und vor allem kostengünstiger als menschliche Sachbearbeiter.

Während also in der IT-Branche die Nachfrage nach Cloud-Experten in naher Zukunft kaum befriedigt werden könne, so Sprenger, "würde ich mir als Finanzbeamter, als Versicherungsreferent oder als Mitarbeiter einer Krankenkasse mehr Sorgen machen denn als IT-Experte im Unternehmen". Es ist demnach der klassische Sachbearbeiter, der dank Cloud Computing um seinen Arbeitsplatz fürchten muss. Aber diese Prognose gibt es schon seit der Erfindung des Computers.

(Computerwoche / rb)