Sorgfalt nicht aus den Augen verlieren

Warum Krisenzeiten wie schnelle Brüter sind

11.08.2009
Strategische Entscheidungen reifen heutzutage schneller als sonst, sagt Johann Scholten.

"Wir müssen unsere Kosten senken." "Wir müssen unsere Produktion neu strukturieren." "Wir müssen eine neue Produktlinie entwickeln." "Wir müssen uns neue Kundengruppen erschließen." Solche Erkenntnisse, die letztlich zu einem Neustellen der strategischen Weichen führen, fallen in Unternehmen meist nicht vom Himmel. Sie wachsen allmählich.

In der Regel haben zunächst ein, zwei Top-Entscheider das Gefühl "Wir müssen oder sollten etwas tun, sonst ..." Zum Beispiel, weil sie gewisse Zahlen alarmierend finden. Also beobachten sie bestimmte Entwicklungen schärfer als zuvor und sprechen schon mal inoffiziell mit Kollegen oder externen Beratern hierüber. Und bestätigen sich ihre Annahmen, Vermutungen oder Befürchtungen, dann setzen sie das Thema offiziell auf die Agenda des Unternehmens.

In wirtschaftlich guten Zeiten ist das Vermitteln, dass ein Entscheidungs- und Handlungsbedarf besteht, sogar im oberen Führungskreis eines Unternehmens oft nicht leicht. Denn für unternehmerische, also strategische Entscheidungen gilt: Sie nehmen die Zukunft gedanklich vorweg. Sie beruhen folglich auch auf Annahmen - zum Beispiel darüber, wie sich der Markt entwickelt. Oder darüber, was in fünf oder gar zehn Jahren technisch möglich ist. Diese Annahmen lassen sich meist nur begrenzt mit Zahlen belegen. In sie fließen auch subjektive Einschätzungen ein, die aus einem Bauchgefühl resultieren.

In Krisenzeiten ist klar: Es muss etwas geschehen

Entsprechend reserviert sind in Boom-Zeiten oft die ersten Reaktionen auf entsprechende Vorstöße. "Warum glauben Sie, dass wir unsere Strategie ändern sollten? Unsere Zahlen sind doch gut." "Unser Vorgehen hat sich doch bewährt. Sonst ..." Deshalb können strategischen (Grundsatz-)Entscheidungen gerade in guten Zeiten oft nicht im Konsens getroffen werden. Vielmehr müssen irgendwann ein, zwei Personen, die das Sagen haben, das Heft in die Hand nehmen und verkünden: "Wir machen das - Punkt, aus, basta." Woraufhin es dann zuweilen einige Zeit später in einer Presseerklärung heißt: "Bereichsleiter x ..." oder "Vorstand y verließ das Unternehmen wegen un-überbrückbarer Differenzen über dessen künftige Entwicklung."

Anders ist dies in Krisenzeiten wie den aktuellen, wenn plötzlich sozusagen über Nacht zum Beispiel die Aufträge wegbrechen - nicht nur in einzelnen Unternehmen, sondern ganzen Branchen. Dann ist für alle offenkundig: Es muss etwas geschehen, sonst … Entsprechend schnell lässt sich in ihnen zumindest eine Einigkeit darüber erzielen "Wir müssen uns mal zusammensetzen und überlegen, ob .....".

Optionen ermitteln und Szenarien entwickeln

Damit ist aber noch lange nicht die Grundlage für eine solide Entscheidung gelegt. Denn in der Regel sind die Zahlen, Daten und Fakten, aus denen sich ableiten ließe, was die Zukunft bringt, widersprüchlich. Also gilt es zunächst zu ermitteln, welche Entwicklungen grundsätzlich möglich sind: des Weiteren welche Entwicklungen am wahrscheinlichsten sind, weil die meisten Indizien hierfür sprechen. Hieraus können dann die möglichen Handlungsoptionen abgeleitet werden.

Sind die Optionen auf dem Tisch, können Zukunftsszenarien entworfen werden. Das heißt, die Verantwortlichen können sich fragen: Was geschieht, wenn wir auf die wahrscheinliche Entwicklung A wie folgt reagieren? Was bewirken wir damit? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Welche Vor- und Nachteile sind damit verbunden? Usw.

Das Entwerfen solcher Szenarien fällt Unternehmen oft schwer; ebenso das Abschätzen, auf welche Szenarien sie letztendlich bauen sollten. Die zentrale Ursache hierfür: Die beteiligten Personen bewerten dieselben Daten und Fakten sowie Entwicklungen meist unterschiedlich. Denn sie nehmen aufgrund ihrer Erfahrung sowie Funktion in der Organisation neben deren Stärken und Schwächen auch den Markt unterschiedlich wahr.

Gewohnte Denk- und Verhaltensmuster durchbrechen

Hinzu kommt: Jede Organisation entwickelt im Laufe ihres Bestehens gewisse Mechanismen und Vorlieben, wie sie Informationen bewertet und verarbeitet. Deshalb bevorzugt sie auch bestimmte Lösungswege, während sie andere entweder (vor)schnell verwirft oder gar nicht wahrnimmt, weil sie außerhalb ihres Wahrnehmungshorizonts liegen. Gerade in Krisenzeiten ist aber das Verlassen der gewohnten Denk- und Verhaltensmuster oft nötig, damit ein Weg aus der Krise beziehungsweise der Sackgasse, die in die Krise führte, gefunden und beschritten werden kann.

Deshalb benötigen die firmeninternen Entscheider beim Treffen strategischen Entscheidungen oft externe Sparringpartner - Sparringpartner, die zum Beispiel nachfragen: Was veranlasst Sie zu dieser Einschätzung? Warum bevorzugen Sie diese Lösung? Wäre es nicht sinnvoll, die Entwicklung XXX stärker zu berücksichtigen? Sonst ist die Gefahr groß, dass das Unternehmen auf die neue Herausforderung unreflektiert wie gewohnt reagiert. Das wissen viele Unternehmensführer. Deshalb engagieren sie, wenn strategische Entscheidungen anstehen, die einen sogenannten Musterwechsel erfordern, häufig externe Berater als Unterstützer - als Impulsgeber beim Entwickeln möglicher Entscheidungs- und Handlungsalternativen und als Moderatoren für den Entscheidungsprozess.

Das Herbeiführen von strategischen (Grundsatz-)Entscheidungen, die zu neuen Weichenstellungen führen, ist meist ein mühsamer Prozess; ein Prozess zudem, der von heißen inhaltlichen Debatten zwischen den Beteiligten begleitet wird, die nicht selten zu emotionalen Verletzungen führen. Deshalb atmen die Topmanager von Unternehmen, wenn eine solche Entscheidung aus ihrer Warte "endlich" getroffen ist, oft erleichtert durch und lehnen sich entspannt zurück. Dabei beginnt nun erst die eigentliche Arbeit. Denn dadurch, dass eine Entscheidung gefällt ist, ist sie noch lange nicht kommuniziert und schon gar nicht umgesetzt.

Die nötige Architektur für das Umsetzen schmieden

Also hängt mit dem Treffen einer strategischen Entscheidung unlösbar die Aufgabe zusammen, eine Architektur zu schmieden,

- wie den (operativen) Führungskräften und den Mitarbeitern vermittelt wird,

- warum die Entscheidung getroffen wurde,

- welche Ziele das Unternehmen damit verfolgt und

- welche Konsequenzen sich hieraus für die Organisation und die Mitarbeiter ergeben.

Außerdem gilt es, eine Architektur zu entwerfen, wie auf der Ebene des Gesamtunternehmens und der Bereiche aus der Grundsatzentscheidung die erforderlichen Folgeentscheidungen und hieraus wiederum Maßnahmepläne abgeleitet werden. Das heißt, nun sind die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das Unternehmen sich wie gewünscht entwickelt.

Besagte Architekturen zu entwerfen, ist in Konzernen meist nicht die Aufgabe des Top-Managements. Sie wird in der Regel an ein Planungs- oder Steuerungsteam delegiert, in dem die Unternehmensführung zwar vertreten ist, dessen Mitglieder aber weitgehend aus Vertretern der betroffenen Bereiche und professionellen Organisationsentwicklern bestehen. Das Delegieren dieser Aufgabe entlässt die oberen Führungskräfte aber nicht aus der Verantwortung für das Gelingen des Gesamtprozesses - auch deshalb nicht, weil das Verhalten der Mitarbeiter stark davon abhängt, wie sehr sich die Führung für das Erreichen der Ziele engagiert. Deshalb muss die oberste Führung Präsenz zeigen.

Für den nötigen "Dampf im Kessel" sorgen

Beim Schmieden der Architektur für das Umsetzen strategischer Entscheidungen sind folgende Aspekte besonders zu beachten, denen bei Changeprojekten oft zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird:

- Wie sorgen wir dafür, dass in der Organisation die nötige Veränderungsenergie entsteht und diese erhalten bleibt? Und:

- Wie stellen wir sicher, dass die erforderlichen Folgeentscheidungen getroffen werden und die Entscheidungen im Arbeitsalltag in Einklang mit der Grundsatzentscheidung stehen?

Für beide Aufgaben ist und bleibt das Top-Management verantwortlich, selbst wenn es diese an das Steuerungsteam und die operativen Führungskräfte delegiert. Denn ohne ein aktives Sich-Einbringen der oberen Führungskräfte kann in Unternehmen nicht die für das Durchbrechen von Denk- und Verhaltensmustern nötige Veränderungsenergie erzeugt werden. Ohne ein aktives Sich-Einbringen der oberen Führungskräfte kann zudem nicht sichergestellt werden, dass die Grundsatzentscheidung im Alltag nicht in Vergessenheit gerät und aus ihr die notwendigen Folgeentscheidungen abgeleitet sowie auf der Bereichs- und Mitarbeiterebene umgesetzt werden. (oe)

Der Autor Johann Scholten ist einer der drei Geschäftsführer der WSFB-Beratergruppe Wiesbaden, die Unternehmen bei Veränderungsprozessen begleitet und deren Mitarbeiter trainiert. Zudem bildet WSFB Organisationsberater aus.

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Tel.: 0611 15766-0, E-Mail: jscholten@wsfb.de, Internet: www.wsfb.de